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Hinter den Kulissen #1 — Wie sich Familien auf die Erstkommunion vorbereiten

In unse­rer ersten Podcast-Folge berich­ten wir, was wir während unse­rer Repor­ta­ge am Vorbe­rei­tungs­tag auf die Erst­kom­mu­ni­on in Nieder­uz­wil erlebt haben. Ausser­dem gehen wir der Frage nach, wie die Kirche auf verän­der­te Fami­li­en­rea­li­tä­ten wie patch­work oder allein­er­zie­hend eingeht. 

Podcast: Nina Rudni­cki / Ales­sia Pagani

Veröf­fent­licht: 05.04.2024

«Vom öffentlichen Verkehr ausgeschlossen»

Die ÖV-Mehrfahrtenkarte soll durch ein digi­ta­les Ange­bot ersetzt werden. Der Theo­lo­ge und Ethik­pro­fes­sor Peter G. Kirch­schlä­ger bezeich­net den Schritt als ethisch proble­ma­tisch. Er nimmt den Staat in die Pflicht und rät Betrof­fe­nen, sich zur Wehr zu setzen.

Einste­cken, abstem­peln lassen und los geht die Fahrt. Während Jahr­zehn­ten erfreu­ten sich die Mehr­fahr­ten­kar­ten der SBB und ande­rer Bahn- und Busbe­trie­be gros­ser Beliebt­heit. Gemäss K‑Tipp wurden im vergan­ge­nen Jahr über 6 Millio­nen Stem­pel­kar­ten verkauft. Doch nun soll damit Schluss sein. Die SBB und ande­re Verkehrs­be­trie­be haben ange­kün­digt, das Ange­bot im kommen­den Jahr einzu­stel­len. Die oran­ge­far­be­nen Entwer­tungs­käs­ten sollen bis Ende 2025 aus den Schwei­zer Bahn­hö­fen verschwin­den. Die SBB will die Mehr­fahr­ten­kar­ten durch ein digi­ta­les Ticket ablö­sen. Die Ankün­di­gung sorg­te bei verschie­de­nen Fach­ver­bän­den als auch in der Bevöl­ke­rung für Unmut. Einer der Kriti­ker ist Peter G. Kirch­schlä­ger. Der katho­li­sche Theo­lo­ge und Ethik­pro­fes­sor der Univer­si­tät Luzern bezeich­net die Abschaf­fung der Stem­pel­kar­te als «ethisch proble­ma­tisch». «Es besteht die Gefahr, dass Menschen vom öffent­li­chen Verkehr ausge­schlos­sen werden. Die Ticket­ver­käu­fe werden vermehrt digi­ta­li­siert, doch es ist unan­ge­mes­sen, von allen zu erwar­ten, dass sie ein Smart­phone besit­zen», sagt Kirch­schlä­ger auf Nachfrage.

Gefahr von Mani­pu­la­ti­on steigt

Peter G. Kirch­schlä­ger hat Verständ­nis dafür, dass Unter­neh­men versu­chen, mit der Digi­ta­li­sie­rung effi­zi­en­ter zu werden und Kosten einzu­spa­ren. Beson­ders stos­send ist für ihn unter ande­rem die Tatsa­che, dass es sich bei ÖV-Betrieben um staat­li­che oder teil­staat­li­che Unter­neh­mun­gen handelt und nicht um Privat­un­ter­neh­men. «Gera­de die öffent­li­che Hand darf die Digi­ta­li­sie­rungs­pro­zes­se nicht so gestal­ten, dass ein Teil der Bevöl­ke­rung ausge­schlos­sen wird und dass das Menschen­recht auf Daten­schutz und Privat­sphä­re verletzt wird.» Für Kirch­schlä­ger ist die geplan­te Abschaf­fung der Mehr­fahr­ten­kar­te denn auch nicht nach­voll­zieh­bar: «Ich frage mich, wieso man eine neue Lösung suchen muss, wenn es mit den Mehr­fahr­ten­kar­ten eine gibt, die funk­tio­niert und offen­bar auch nach wie vor nach­ge­fragt wird.» Tangiert sind gemäss Kirch­schlä­ger verschie­de­ne Bevöl­ke­rungs­grup­pen. «Die Umstel­lung betrifft unter ande­rem Menschen, die mit der Tech­nik über­for­dert sind, also vor allem älte­re Menschen, sowie Armuts­be­trof­fe­ne, die sich oder ihren Kindern kein Smart­phone kaufen können.» Proble­ma­tisch sieht er die geplan­te Ände­rung auch in Bezug auf die junge Gene­ra­ti­on. «Eine Abschaf­fung der Mehr­fahr­ten­kar­te würde vor allem Kindern scha­den, denn je früher sie ein Smart­phone haben, desto eher wird die Nutzung zu einem Problem für ihre menta­le Gesund­heit und sie können bereits früh in ihrem Konsum und in der Entwick­lung ihrer poli­ti­schen Ansich­ten mani­pu­liert werden. Denn jede Sekun­de auf dem Smart­phone ist eine Sekun­de Mani­pu­la­ti­ons­mög­lich­keit.» Den Betrof­fe­nen rät Kirch­schlä­ger, sich bei den verant­wort­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen und Unter­neh­mun­gen zu wehren.

«Frei­heit wird angegriffen»

Für Peter G. Kirch­schlä­ger ist klar: «Es besteht drin­gen­der Hand­lungs­be­darf.» Nicht nur wegen eines drohen­den Ausschlus­ses, sondern auch im Hinblick auf die Verlet­zung von Menschen­rech­ten. «Im Rahmen der Digi­ta­li­sie­rung werden stets Daten gestoh­len, um sie dann den Meist­bie­ten­den weiter­zu­ver­kau­fen». Dies wieder­um stel­le eine Verlet­zung der Menschen­rech­te auf Daten­schutz und Privat­sphä­re dar, betont Kirch­schlä­ger. «Diese Menschen­rechts­ver­let­zun­gen müssen gestoppt werden. Diese Menschen­rech­te sind rele­vant für unse­re Frei­heit, da wir uns anders verhal­ten, wenn wir über­wacht werden. Wir tendie­ren zu einem normier­te­ren Verhal­ten. Unse­re Frei­heit wird also ange­grif­fen.» Er spricht von einer «hohen Dring­lich­keit». «Es handelt sich hier um Menschen­rech­te, die ja die Menschen­wür­de schüt­zen», so Kirch­schlä­ger. Seit Länge­rem fordert er deshalb die Schaf­fung einer Inter­na­tio­na­len Agen­tur für daten­ba­sier­te Syste­me bei der UNO – vergleich­bar mit der Inter­na­tio­na­len Atom­ener­gie­be­hör­de bei der UNO, was Anklang findet. «Damit sollen die ethi­schen Chan­cen der daten­ba­sier­ten Syste­me (Anm. der Redak­ti­on: bisher künst­li­che Intel­li­genz) geför­dert und deren ethi­sche Risi­ken gemeis­tert oder vermie­den werden.» Fakt ist: Die fort­schrei­ten­de Digi­ta­li­sie­rung des Lebens kann nicht aufge­hal­ten werden. Vieles – sei es der Einkauf oder die Feri­en­bu­chung – geht heute digi­tal schnel­ler und einfa­cher als noch vor eini­gen Jahren analog. Dass dabei Perso­nen­da­ten erho­ben und Nutzer­da­ten gespei­chert werden, ist uns allen klar. Aber: Geben wir unse­re Daten zu schnell und unüber­legt an Drit­te weiter? Peter G. Kirch­schlä­ger rela­ti­viert: «Selbst­ver­ständ­lich können wir durch unser Tun und Lassen hier einen Einfluss nehmen und haben damit korre­spon­die­rend auch eine Verant­wor­tung. Oftmals bleibt uns aber gar keine ande­re Wahl.» Die Möglich­kei­ten eines einzel­nen Bürgers oder einer Bürge­rin seien viel klei­ner als die Macht des Staa­tes, die Menschen­rech­te zu schüt­zen und durch­zu­set­zen, und von Unter­neh­men, die Menschen­rech­te zu respek­tie­ren, erklärt Kirch­schlä­ger. «Entspre­chend hat der Staat hier auch eine grös­se­re Verant­wor­tung, die Menschen­rech­te zu realisieren.»

Zur Person

Peter G. Kirch­schlä­ger ist Theo­lo­ge und Philo­soph. Er ist Profes­sor für Theo­lo­gi­sche Ethik und Leiter des Insti­tuts für Sozi­al­ethik ISE an der Univer­si­tät Luzern, Gast­pro­fes­sor an der Profes­sur für Neuro­in­for­ma­tik und Neuro­na­le Syste­me der ETH Zürich sowie am ETH AI Center und Rese­arch Fellow an der Univer­si­ty of the Free State, Bloem­font­ein (Südafri­ka). Seine Forschungs­schwer­punk­te sind Ethik der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on und künst­li­chen Intel­li­genz, Ethik der Menschen­rech­te und Wirtschafts‑, Finanz- und Unter­neh­mens­ethik. Der 46-Jährige ist bera­ten­der Exper­te in ethi­schen Fragen für natio­na­le und inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen etwa für die UN, UNESCO, die Orga­ni­sa­ti­on für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa OSZE oder den Euro­pa­rat. Er ist Präsi­dent a. i. der Eidge­nös­si­schen Ethik­kom­mis­si­on für die Biotech­no­lo­gie im Ausser­hu­man­be­reich EKAH, Mitglied der Kommis­si­on Justi­tia et Pax der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz und Studi­en­lei­ter des neuen Master­stu­di­ums «Ethik» an der Univer­si­tät Luzern: www.unilu.ch/master-ethik

Text: Ales­sia Paga­ni
Bilder: Ana Kontou­lis / zVg.
Veröf­fent­li­chung: 2. April 2024

«Damit wir etwas bewegen können»

Hoff­nung stecke gera­de auch in schein­bar klei­nen Dingen, sagt die Rhein­ta­ler ­Seel­sor­ge­rin Anne Heither-Kleynmanns im Inter­view. Ein Gespräch anläss­lich des Oster­fes­tes über ­Vorbil­der, Dank­bar­keit und das Inne­hal­ten im Alltag.

Anne Heither-Kleynmans, wann haben Sie zuletzt etwas gehofft?

Gera­de eben. Mit einer Pati­en­tin habe ich als Spital­seel­sor­ge­rin gehofft, dass der Unter­such ihrer Krebs­er­kran­kung ein gutes Ergeb­nis bringt.

Was löst Hoff­nung in uns aus?

Hoff­nung hilft uns, zuver­sicht­lich auf das Leben und in die Zukunft zu blicken. Sie ist eine posi­ti­ve Erwar­tung. Zugleich ist man sich aber bewusst, dass es auch anders kommen kann. Ohne Hoff­nung würden wir uns ohnmäch­tig fühlen und wohl vieles als sinn­los empfinden.

Kann Hoff­nung auch nega­tiv sein?

Hoff­nun­gen können schei­tern. Dann ist die Frage, wie wir damit umge­hen, ob wir neue, ande­re Hoff­nun­gen entwi­ckeln können oder in der Hoff­nungs­lo­sig­keit stecken bleiben.

Braucht Hoff­nung Vorbilder?

Ja. Vorbil­der können uns in schwe­ren Zeiten helfen, trotz allem nach vorne zu schau­en. Das können Perso­nen aus der Gegen­wart sein wie der russi­sche Oppo­si­tio­nel­le Alexej Nawal­ny, der kürz­lich in Gefan­gen­schaft gestor­ben ist. Seine Botschaft ist: «Ich glau­be daran, dass ich etwas bewe­gen kann.» Es können bibli­sche Perso­nen sein oder Heili­ge, aber auch ganz norma­le Menschen in unse­rem Alltag. Ich bin in meinem Leben oft Menschen begeg­net, die mir vermit­telt haben: «Ich nehme das Leid im eige­nen Leben und in der Welt nicht einfach so hin, ich enga­gie­re mich und lebe so die Hoff­nung auf Verän­de­rung.» Das kann uns zu einer Haltung der Hoff­nung ermutigen.

Lässt sich einwen­den, dass Hoff­nung über­flüs­sig gewor­den ist, weil es uns in unse­rer Gesell­schaft gut geht?

Nein, auf keinen Fall. Wir brau­chen Hoff­nung, gera­de auch im Klei­nen und im Alltag. Viele Menschen machen belas­ten­de Erfah­run­gen, sei es beruf­lich, fami­li­är oder wegen einer Krank­heit. Hier lässt sich auch ein Bezug zur Oster­bot­schaft herstel­len: Der gros­se Stein vor dem Grab Jesu ist ein star­kes Symbol für alles Schwe­re, das es in unse­rem Leben gibt. Ohne Hoff­nung wäre der Stein unbeweglich.

Wie schafft man es, diese Schwe­re beisei­te zu schieben?

Persön­lich, aber auch bei der Arbeit als Seel­sor­ge­rin versu­che ich zu schau­en, wie und wo man Hoff­nung finden kann. Ist jemand unheil­bar erkrankt, kann er etwa darin Hoff­nung finden, noch eine gute Zeit mit seiner Fami­lie zu verbrin­gen. Fühlen wir uns hoff­nungs­los, kann es helfen, die Perspek­ti­ve zu wech­seln und nach Leben­di­gem Ausschau zu halten. Gras, das zwischen Beton­plat­ten hervor­wächst, oder Licht, das ins Dunkel einfällt, oder der wegge­roll­te Grab­stein und eben das offene, leere Grab sind anschau­li­che Symbo­le für Hoffnung.

Das Leben ist stär­ker: Ist es das, was wir von Ostern mitneh­men können?

Ja. Es gibt Situa­tio­nen, in denen alles trau­rig erscheint und in denen wir nieder­ge­schla­gen sind, weil wir etwas ande­res erwar­tet hatten. Auch die Jünger sind nach Jesu Tod völlig enttäuscht. Diese Enttäu­schun­gen gehö­ren zum mensch­li­chen Leben. Die Aufer­ste­hung von Jesus, das leere Grab, der beisei­te­ge­scho­be­ne Stein sagen ihnen und uns aller­dings: Nichts muss im Schwe­ren stecken­blei­ben. Es gibt neue Hoffnung.

Welche Tipps haben Sie? Wie können wir lernen, Hoff­nung bewusst zu leben?

Wir können den Blick auf das rich­ten, was gut läuft, ohne dabei das Schwe­re zu verleug­nen. Wir können schein­bar klei­ne Dinge in den Mittel­punkt stel­len und uns fragen, wo wir beschenkt sind. Dank­bar zu sein und das auch zu formu­lie­ren, im Gebet, gegen­über unse­ren Ange­hö­ri­gen oder Freun­den, und sich Zeit zu nehmen, die Natur zu beob­ach­ten und zu sehen, wie alles wächst, schult uns für die Hoff­nung. Es ist wich­tig, dass ich mich frage: «Was trägt mich? Was gibt mir Halt und Kraft?»

Text: Nina Rudnicki

Bild: zVg./ Forum Pfarrblatt

Veröf­fent­li­chung: 28. März 2024

Neue Wege zur Erstkommunion

Zahl­rei­che Kinder und Fami­li­en feiern in diesem Früh­ling Erst­kom­mu­ni­on. Worauf freu­en sie sich? Was bedeu­tet ihnen das Fest? Das Pfar­rei­fo­rum hat den Eltern-Kind-Vorbereitungstag in Nieder­uz­wil besucht und den neuen ausser­schu­li­schen Erst­kom­mu­ni­on­weg kennengelernt.

Es duftet nach frisch­ge­ba­cke­nem Brot. Im Eingangs­be­reich des Pfar­rei­zen­trums in Nieder­uz­wil formt eine Grup­pe Kinder weite­ren Teig zu Bröt­chen. Später an diesem Eltern-Kind-Vorbereitungstag auf die Erst­kom­mu­ni­on sollen diese an der Abschluss­fei­er geteilt werden. Mitten unter den Kindern arbei­tet die Dritt­kläss­le­rin Gloria. Ihre Mutter Sara steht neben dem Tisch. «Ich selber hatte meine Erst­kom­mu­ni­on in Rorschach. Aber an eine so schö­ne Vorbe­rei­tung kann ich mich nicht erin­nern. Mir fällt nur der Marsch ein, den wir Kinder an der Erst­kom­mu­ni­on durch Rorschach mach­ten», sagt die Kate­che­tin in Ausbil­dung. Der neue Erst­kom­mu­ni­on­weg in Nieder­uzwil beglei­tet die Kinder hinge­gen während eines Jahres. Es gibt zehn Tref­fen, die unter ande­rem aus Grup­pen­stun­den, Ausflü­gen, einer Tauf­erin­ne­rung, dem Vorbe­rei­tungs­tag, Proben für die Erst­kom­mu­ni­on und der Erst­kom­mu­ni­on bestehen. «Die Kinder bekom­men viel mit und erle­ben Schö­nes mit Gleich­alt­ri­gen», sagt Sara. Umso grös­ser sei die Freu­de in diesem Jahr, weil die Erst­kom­mu­ni­on ihres älte­ren Kindes wegen Coro­na nicht in der Gemein­schaft gefei­ert werden konn­te. «Vor allem meine Mutter, also Glori­as Gross­mutter, in Spani­en war sehr trau­rig. Sie konn­te nur per Live-Stream dabei sein», sagt Sara. In diesem Jahr seien hinge­gen 25 Perso­nen einge­la­den. Nach der Feier zur Erst­kom­mu­ni­on am 5. Mai gehe es ins Restaurant.

Dann ist es Zeit für Gloria, zum nächs­ten Posten im Pfar­rei­zen­trum zu gehen: Dort werden die Masse für das Blumen­kränz­chen und die Gewän­der genom­men. Die Primar­schü­le­rin freut sich auf die Erst­kom­mu­ni­on. «Wir essen in einem Restau­rant, in dem es geba­cke­ne Cham­pi­gnons gibt. Und ich werde unter meinem Gewand ein ganz beson­de­res Dirn­del tragen, das aus Deutsch­land kommt», erzählt die 8‑Jährige. Am Erst­kom­mu­ni­on­weg habe ihr vor allem der Ausflug zur Hosti­en­bä­cke­rei gefal­len. «Ausser­dem haben wir vieles über den Minis­tran­ten­dienst erfah­ren und gese­hen, was die alles Span­nen­des machen.»

Ein Netz­werk für Familien

Den neuen Weg zur Erst­kom­mu­ni­on gibt es in Nieder­uz­wil erst­mals seit diesem Schul­jahr. Die Tref­fen finden alle ausser­schu­lisch statt. Einge­führt wurde das, weil teils Kinder ökume­nisch unter­rich­tet werden und somit nicht alle Kinder einer Reli­gi­ons­klas­se für die Erst­kom­mu­ni­on vorbe­rei­tet werden können. 25 Kinder sind es in Nieder­uz­wil in diesem Jahr, die auf diese Weise die Vorbe­rei­tung zur Erst­kom­mu­ni­on nutzen. «Das hat Vortei­le. Als Grup­pe haben wir alles dassel­be Ziel. Früher, im schu­li­schen Reli­gi­ons­un­ter­richt, waren hinge­gen immer Kinder mit dabei, die keine Erst­kom­mu­ni­on hatten», sagt Manue­la Trunz. Die Reli­gi­ons­päd­ago­gin ist in diesem Jahr für den Eltern-Kind-Vorbereitungstag zustän­dig, der in Nieder­uz­wil seit über fünf­zehn Jahren jeweils ­eini­ge Wochen vor der Erst­kom­mu­ni­on statt­fin­det. «In Nieder­uz­wil hatten wir schon immer ein gutes Netz­werk und ein gros­ses Ange­bot für Fami­li­en», sagt sie und fügt an: «Dieses Mal sind wir vergleichs­wei­se ein klei­ne Grup­pe. In ande­ren Jahren haben auch schon um die 40 Kinder zusam­men Erst­kom­mu­ni­on gefeiert.»

Mühle, Tech­nik und Mandalas

Rück­mel­dung zum neuen Weg zur Erst­kom­mu­ni­on hat Manue­la Trunz bislang nur posi­ti­ve erhal­ten. «Vor allem die drei Ausflü­ge, von denen sich die Kinder für einen anmel­den muss­ten, haben allen gefal­len», sagt sie. Der 9‑Jährige Joel beispiels­wei­se hat gleich bei allen drei mitge­macht. Ausser zur Hosti­en­bä­cke­rei ging es zu einem Rebberg und in eine Mühle. «Die Mühle fand ich am span­nends­ten, weil ich Tech­nik liebe», sagt er. Mit seiner Mutter Conny ist er beim Posten «Andenken gestal­ten» gera­de damit beschäf­tigt, auf einem Holz­brett mit Nägeln und bunten Gummi­schnü­ren ein Manda­la zu gestal­ten. «Jesus, meine Mitte»: Das Motto des Manda­las ist vorge­ge­ben, bei der Umset­zung können die Kinder ihrer Krea­ti­vi­tät aller­dings frei­en Lauf lassen. «Die Vorbe­rei­tung auf die Erst­kom­mu­ni­on ist toll und viel span­nen­der als die Kirche», sagt er. «Dort muss man immer still sitzen und Kinder verste­hen viel­leicht nicht alles. Hier ist das anders.» Joels Mutter ist evangelisch-reformiert. Sie finde es schön, während dieses einen Jahres den Blick­win­kel ihres Kindes einzu­neh­men, sagt sie. Welche Gedan­ken den Eltern im Hinblick auf die Erst­kom­mu­ni­on durch den Kopf gehen, können sie beim Posten «Brie­fe für die Kinder» fest­hal­ten. In ruhi­ger Umge­bung schrei­ben sie dort Wünsche und Hoff­nun­gen für ihre Kinder auf. Die Brie­fe werden an der Feier im Mai übergeben.

Mit 60 Perso­nen feiern

«Wunder­schön finde ich all diese Vorbe­rei­tun­gen», sagt auch Matea, die zusam­men mit ihrer Toch­ter Mia ein Glas­kreuz gestal­tet. An diesem Posten bekle­ben die Kinder Glas mit bunten Glas­stü­cken, das später in einem Ofen gebrannt wird. «Das Basteln und die Erleb­nis­se mit meinen Freun­den gefal­len mir am besten», sagt Mia. Sie freue sich auf die Erst­kom­mu­ni­on und auf das gros­se Fest danach, zu dem 60 Perso­nen einge­la­den sind. Ihre Mutter Matea ergänzt: «Der Tag ist uns wich­tig und wir wollen ihn mit allen in der Fami­lie feiern.» Sie selbst hatte ihre Erst­kom­mu­ni­on in Kroa­ti­en. «Vorbe­rei­tun­gen mit Basteln und all den ande­ren Dingen hatten wir aller­dings nicht. Ich glau­be, wir lern­ten vor allem Texte und Lieder», sagt sie.

Probe­wei­se ministrieren

Was ist ein Taber­na­kel? Wie funk­tio­niert ein Einzug in die Kirche? Welche Gewän­der ziehen Minis­tran­ten an? Und wieso macht man eine Knie­beu­ge? In der Kirche gleich neben dem Pfar­rei­zen­trum ist es Zeit für den letz­ten Posten. Eini­ge Minis­tran­tin­nen und der Seel­sor­ger Paul Grem­min­ger erklä­ren den inter­es­sier­ten Prima­schü­le­rin­nen und Primar­schü­lern alles rund ums Minis­trie­ren. Nach der Erst­kom­mu­ni­on kann, wer möch­te, Minis­tran­tin oder Minis­trant werden. Mit gros­sen Augen und in den Gewän­dern, die die Kinder versuchs­wei­se anpro­bie­ren konn­ten, schau­en sie sich in der Kirche um. Dort, im Kreis um den Alter herum, werden sie auch an der Erst­kom­mu­ni­on stehen. Sie sind beein­druckt, gera­de auch vom Taber­na­kel. Der 9‑Jährige Joel streckt seine Hand auf und sagt: «Dass die Hosti­en hinter so einer dicken Panzer­tür aufbe­wahrt werden, hätte ich nicht gedacht.»

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Benja­min Manser

Veröf­fent­li­chung: 26. März 2024

Vincent Gross spielt den Jünger

RTL zeigt die Kreu­zi­gung von Jesus live: Schla­ger­sän­ger Vincent Gross und viele ­ande­re Schau­spie­le­rin­nen und Sänge­rin­nen schlüp­fen für das gros­se TV-Event «Die Passi­on» in die Rolle von Jesus, Maria, den Jüngern und Ponti­us Pila­tus. Respekt­lo­ser Trash oder ­gros­ses spiri­tu­el­les Kino?

Der deut­sche TV-Sender RTL strahl­te vor zwei Jahren zum ersten Mal «Die Passi­on» aus und sorg­te für gemisch­te Reak­tio­nen: Von «Religions-Kitsch» bis zu «Abso­lut ergrei­fend». Vor zwei Jahren verkör­per­te der deut­sche Sänger Alex­an­der Klaws (der erste Sieger der Casting-Show «Deutsch­land sucht den Super­star») Jesus, der Schau­spie­ler Mark Keller war Judas und Maria wurde von der Schla­ger­sän­ge­rin Ella Endlich gespielt. Das moder­ne Passi­ons­spiel setz­te auf die Kraft von Songs: Jesus und die Jünger feier­ten ihre Freund­schaft mit «Auf uns» von Andre­as Boura­ni, Maria gab sich hoff­nungs­voll mit «Und immer wieder geht die Sonne auf» von Udo Jürgens und «Einmal sehen wir uns wieder» von Andre­as Gaba­lier wurde schliess­lich zum Abschieds­song für Jesus. Die Erwar­tun­gen an die TV-Inszenierung waren gross: In den Nieder­lan­den ist «Die Passi­on» seit Jahren ein Quoten-Renner – bis zu 3,5 Millio­nen Menschen lockt das Ereig­nis jedes Jahr an die Bild­schir­me. Ob sich das auch auf das deutsch­spra­chi­ge Publi­kum über­tra­gen lässt? Bei der ersten Ausstrah­lung stimm­ten die Zahlen auf jeden Fall: RTL vermel­de­te rund 3,14 Millio­nen Zuschaue­rin­nen und Zuschauer.

Für Sinn­su­chen­de

Hinter der RTL-Sendung «Die Passi­on» steht das «Boni­fa­ti­us­werk», ein Hilfs­werk der katho­li­schen Kirche Deutsch­land, das vor allem kirch­li­che Projek­te in Nord‑, Mittel- und Osteu­ro­pa unter­stützt. Seit eini­gen Jahren versucht das Hilfs­werk auch mit inno­va­ti­ven Projek­ten und Initiativen, Menschen in Deutsch­land Zugang zum Glau­ben, Kirchen­jahr und bibli­schen Themen zu vermitteln, und kennt dabei kaum Berüh­rungs­ängs­te. Oft dabei: Maite Kelly, Mitglied der Kelly Fami­ly, heute eine der erfolg­reichs­ten Schla­ger­sän­ge­rin­nen und beken­nen­de Katho­li­kin. «Wir möch­ten für Chris­tin­nen und Chris­ten sowie für Sinn­su­chen­de und Anders­den­ken­de auch ohne feste reli­giö­se Bindung einen geist­li­chen Impuls setzen und sie dazu anre­gen, über das öster­li­che Geheim­nis nach­zu­den­ken und sich mit den konkre­ten Bezü­gen zum Evan­ge­li­um ausein­an­der­zu­set­zen», erklärt der Gene­ral­se­kre­tär des Boni­fa­ti­us­wer­kes, Monsi­gno­re Georg Austen, in einer Medi­en­mit­tei­lung, «Schön wäre es auch, wenn wir die Menschen in unse­rem Land zu einem Dialog über die christ­li­chen Werte anre­gen könn­ten.» Es wirken also Menschen mit, die eine Ahnung von der Mate­rie haben und denen es ein Anlie­gen ist, die wich­tigs­ten Ereig­nis­se im Kirchen­jahr einem gros­sen Publi­kum zugäng­lich zu machen – und zwar gera­de auch für jene, die nicht jeden Sonn­tag Teil der Gottes­dienst­ge­mein­schaft sind. Dieses Jahr wird «Die Passi­on» live aus Kassel über­tra­gen. Ben Blümel, der vor zwan­zig Jahren mit dem Hit «Engel» bekannt wurde, spielt in diesem Jahr Jesus. In einem Inter­view auf katholisch.de sagte er über seine Rolle: «Jesus zu spie­len ist schon etwas ganz Beson­de­res, denn ich bewun­de­re ihn sehr für seine Klar­heit, seinen Mut und die unbe­ding­te Nächs­ten­lie­be, für die er steht.»

Passt das?

Über Geschmack mag man sich strei­ten – nicht nur was Musik, TV-Sendungen betrifft, sondern auch die Darstel­lung von reli­giö­sen Inhal­ten. Aber wann haben sich das letz­te Mal zuhau­se vor dem Fern­se­her und in den Social Media-Kanälen so viele Menschen über die Kreu­zi­gung und Aufer­ste­hung von Jesus Gedan­ken gemacht und sogar noch inten­siv mitein­an­der disku­tiert, ob und welche Musik zu den verschie­de­nen Statio­nen des Kreuz­we­ges passt? Und: Auch trad­tio­nel­le Jesus-Filme und Passi­ons­spie­le lösen bei nicht weni­gen zwie­späl­ti­ge Gefüh­le aus. Die Ereig­nis­se rund um Kreu­zi­gung, Tod und Aufer­ste­hung passend darzu­stel­len, ist immer eine Grat­wan­de­rung. Sie können nie zeigen: So war es. Sie können aber eine Anre­gung sein, darüber nach­zu­den­ken: Was genau ist da passiert? Welche Bedeu­tung hat es für mich? Und was ist das Aktu­el­le an diesen Ereig­nis­sen? Deshalb freue ich mich auch in diesem Jahr auf das RTL-Event.

RTL, 27. März, 20.15 Uhr

Online: Zu weite­ren Infor­ma­tio­nen sowie Begleit­ma­te­ri­al zu «Die Passion» 

Text: Stephan Sigg

Bild: RTL / Stefan Gregorowius

Veröf­fent­licht: 22.03.2024

Kolonialgeschichte Bodenseeregion Koloniale Spuren Kirchen

Wo finden sich in Kirchen kolo­nia­le Spuren? Der Histo­ri­ker Hans Fäss­ler und die ­katho­li­sche Theo­lo­gin Ann-Katrin Gäss­lein haben sich in St. Gallen auf die Suche bege­ben. Dies im ­Rahmen eines regio­na­len Themen­mo­nats zur Kolo­ni­al­ge­schich­te in der Bodenseeregion.

Bilder eines hell­häu­ti­gen Jesus, der das Holz­kreuz schleppt, zieren die Wände des Kreuz­gan­ges in der katho­li­schen Kirche St. Geor­gen in St. Gallen. Hinter Jesus steht ein dunkel­häu­ti­ger Römer. «Das Böse ist hier schwarz gemalt. Das Gute ist hinge­gen weiss», sagt der St. Galler Histo­ri­ker Hans Fäss­ler über diese Darstel­lung der Passi­ons­ge­schich­te. Im Rahmen des regio­na­len Themen­mo­nats im April und Mai «Konquis­ta­do­ren und Skla­ven­händ­ler: Kolo­ni­al­ge­schich­te in der Boden­see­re­gi­on» hat er sich zusam­men mit der Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­le­rin und katho­li­schen Theo­lo­gin Ann-Katrin Gäss­lein auf eine Spuren­su­che  in Sakral­bau­ten begeben.

Mit dem Velo auf Recherche

Das Beispiel in St. Geor­gen hat in den vergan­ge­nen Jahren regel­mäs­sig für Debat­ten gesorgt. «Ich wuss­te also, dass es dort ein proble­ma­ti­sches Gemäl­de gibt», sagt Fäss­ler. Um weite­re Beispie­le zu finden, ist er Tipps nach­ge­gan­gen, hat im Inter­net recher­chiert, Kunst­füh­rer gele­sen sowie sich aufs Velo gesetzt und sich spon­tan verschie­de­ne Kirchen in St. Gallen ange­schaut. In der katho­li­schen Kirche St. Fiden stiess er so auf ein Altar­bild und in der katho­li­schen Kirche St. Otmar auf ein Fens­ter mit Glas­ma­le­rei. Auf beiden Beispie­len sind die Heili­gen Drei Köni­ge beim Jesus­kind zu sehen. Der Schwar­ze König steht jeweils zuhin­terst in der Reihe. «Es wird auch in der Rassis­mus­for­schung darauf hinge­wie­sen, dass der Schwar­ze König fast immer zuhin­terst abge­bildet ist und oft stereo­ty­pe Gesichts­zü­ge hat», sagt er.

Schlich­te Kirchen gewöhnt

Hans Fäss­ler bietet seit vielen Jahren Stadt­füh­run­gen in St.Gallen zu dem Thema an. Ob an Haus­fas­sa­den oder an Kunst­wer­ken, über­all finden sich Spuren aus der Kolo­ni­al­zeit. Dazu gehö­ren etwa das «Haus zum Mohren­kopf» an der Spiser­gas­se sowie die Sand­stein­köp­fe am «Haus zur Waage» in der Multer­gas­se, die für die fünf Konti­nen­te stehen. «Mitt­ler­wei­le habe ich einen Kolo­ni­al­blick entwi­ckelt und bin viel­leicht inzwi­schen etwas über­fo­kus­siert. Ich frage mich immer: Was wird da darge­stellt und ist es proble­ma­tisch?», sagt er. Als Refor­mier­ter sei er eher schlich­te Kirchen gewöhnt. «Von der Geschich­te der Refor­ma­ti­on her finden sich kolo­nia­le Darstel­lun­gen eher in katho­li­schen als in refor­mier­ten Kirchen», sagt er. Mit Freu­de habe er sich daher nun auf die katho­li­schen Bilder, Statu­en und Figu­ren wie etwa in der Kathe­dra­le eingelassen.

Zerstör­te Götterstatuen

Die St. Galler Theo­lo­gin Ann-Katrin Gäss­lein gab ihm etwa den Tipp, sich den heili­gen Bene­dikt im Chor­ge­stühl anzu­schau­en. Ein vergol­de­tes Reli­ef zeigt dort, wie dieser auf dem Monte Cassi­no Götter­sta­tu­ten wie jene der römi­schen Göttin Diana zerstört. «Das ist ein Zeug­nis der gewalt­tä­ti­gen Missio­nie­rung und einer Zeit, in der sich das Chris­ten­tum anmass­te, die einzig rich­ti­ge Reli­gi­on zu sein», sagt er. Auch das nörd­liche Eingangs­tor der Kathe­dra­le ziert ein Stuck­re­li­ef, in dem der Heili­ge Gallus in Tuggen im Linth­ge­biet die «falschen» Götter zerstört.

Zeugen einer bestimm­ten Zeit

Was soll man mit diesen proble­ma­ti­schen Darstel­lun­gen machen? Hans Fäss­ler ist tenden­zi­ell dage­gen, sie zu entfer­nen. «Sie sind Zeugen einer bestimm­ten Zeit und können heute zu einer Debat­te darüber beitra­gen», sagt er. Wich­tig seien beispiels­wei­se Medi­en­be­rich­ten zum Thema, Hinweis­ta­feln vor Ort, regio­na­le Themen­mo­na­te wie diesen Früh­ling oder ein Weg der Viel­falt, wie er derzeit in St. Gallen entsteht. Dieser stellt Geschich­ten von Menschen ins Zentrum, die verfolgt und diskri­mi­niert wurden, aber auch von solchen, die sich gegen Unge­rech­tig­keit wehrten.

Kolo­ni­al­her­ren aus der Boden­see­re­gi­on Zwei Kauf­leu­te, der St. Galler Hiero­ny­mus Sailer und der Konstan­zer Ulrich Ehin­ger, erhiel­ten 1528 vom spani­schen König eine Lizenz zum Handel mit versklav­ten Menschen aus West­afri­ka. Gleich­zei­tig unter­zeich­ne­ten die beiden Kauf­leu­te auch einen Vertrag, der ihnen die Kolo­ni­sa­ti­on Vene­zue­las zusi­cher­te. Diese bislang weit­ge­hend unbe­kann­te Geschich­te der Kolo­ni­al­her­ren aus der Boden­see­re­gi­on bildet den Ausgangs­punkt für den Themen­mo­nat zur Kolo­ni­al­ge­schich­te. Initi­iert haben diesen das Stadt­ar­chiv St. Gallen und die Vadia­ni­sche Samm­lung der Orts­bür­ger­ge­mein­de. Betei­ligt sind auch die Katho­li­sche und Refor­mier­te Kirche der Stadt St. Gallen. Zum Veran­stal­tungs­pro­gramm gehö­ren etwa das Refe­rat und Podi­ums­ge­spräch «Befrei­ung oder Unter­drü­ckung? Christ­li­che Missi­on und Kolo­nia­lis­mus vom 16. Jahr­hun­dert bis heute», mode­riert von der Theo­lo­gin Ann-Katrin Gäss­lein, sowie Stadt­füh­run­gen und Velor­und­fahr­ten mit dem Histo­ri­ker Hans Fäss­ler. → www.bodensee-kolonialgeschichte.ch

Text und Bild: Nina Rudnicki

Veröf­fent­li­chung: 5. März 2024

Flüchten vor Sechs- und Vierbeinern

Seit fünf Mona­ten weilen David und Will­emi­jn Rütti­mann aus St. Gallen in Kenia, um Lehr­kräf­te auszu­bil­den. Im ost­afrikanischen Land tref­fen sie auf eini­ge Herausforderungen.

«Wir versu­chen das Beste aus der Situa­ti­on zu machen. Manch­mal klappt es gut, manch­mal weni­ger gut. Aber lang­sam kommen wir in einen Rhyth­mus», sagt David Rütti­mann. Der 54-Jährige ist per Inter­net­te­le­fo­nie zuge­schal­tet. Ein Tref­fen ist nicht möglich, denn Rütti­mann weilt 6400 Kilo­me­ter von seiner Heimat­stadt St. Gallen entfernt in Afri­ka. Er ist im Septem­ber mit Ehefrau Will­emi­jn und den beiden Kindern nach Kili­fi in Kenia ausge­wan­dert ( Pfar­rei­fo­rum Okto­ber 2023). Drei Jahre werden David und Will­emi­jn mit Comun­do (ehemals Beth­le­hem Missi­on Immensee) in der Perso­nel­len Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit tätig sein. Sie arbei­ten vor Ort als Fach­per­so­nen mit der Partner-Organisation North Coast Medi­cal Trai­ning College (NCMTC) zusam­men. David Rütti­mann bildet als Elek­tro­tech­ni­ker Lehr­kräf­te in Faci­li­ty Manage­ment und Medi­zi­nal­tech­nik aus und beglei­tet den Aufbau einer Werk­statt für die beiden Beru­fe. Physio­the­ra­peu­tin Will­emi­jn unter­stützt das NCMTC mit der Ausbil­dung der Lehr­kräf­te im Bereich Reha­bi­li­ta­ti­on und Behin­de­rung. «Hier­mit verbes­sern wir die Zukunfts­chan­cen der Studen­ten und die Quali­tät des Gesund­heits­sys­tems», so David Rüttimann.

Netz­werk aufbauen

Für David und Will­emi­jn hiess es zuerst: «Ankom­men und rein­schau­en.» David orga­ni­sier­te Gerä­te und Werk­zeu­ge und baute ein Netz­werk an Spitä­lern auf, um den Studie­ren­den ein Prak­ti­kum zu ermög­li­chen. «Sie sind in der Theo­rie super ausge­bil­det. Jetzt geht es darum, ihnen auch das Prak­ti­sche mitzu­ge­ben.» Sowohl für die Studie­ren­den als auch für die Lehr­kräf­te haben die beiden nur loben­de Worte: «Es läuft super. Alle sind sehr inter­es­siert», sagt Will­emi­jn Rütti­mann und David ergänzt: «Die Arbeit ist sehr befrie­di­gend.» Die beiden spre­chen aber auch die unter­schied­li­che Menta­li­tät an. «Als Schwei­zer muss man lernen, sich an das Tempo zu gewöh­nen. Hier geht alles ein wenig langsamer.»

Drei Umzü­ge in fünf Monaten

Während es beruf­lich wunsch­ge­mäss verläuft, haben die ­Rütti­manns im Privat­le­ben eini­ge Heraus­for­de­run­gen zu meis­tern. Die Fami­lie zieht um – mal wieder. Es wird die drit­te Blei­be in Kenia, «und hoffent­lich die Letz­te». Das jetzi­ge Haus ist offen gebaut, besitzt weder Fens­ter noch Türen. «Sie soll­ten die Tausen­den von Amei­sen sehen», sagt Will­emi­jn ­Rütti­mann. Ihr Mann kämpft gegen grös­se­re Tiere. Er muss alles monkey-proof – also affen­si­cher – machen. «Die klau­en alles.» Am Anfang sei vieles neu gewe­sen, «und es brauch­te Zeit, bis alle sich im jetzi­gen Umfeld wohl fühl­ten», sagt ­David Rütti­mann. Mitt­ler­wei­le habe man aber auch Kontakt zu den «Locals». «Sie sind sehr offen und unheim­lich hilfs­be­reit.» Will­emi­jn und David fühlen sich im Land mit 53 Millio­nen Einwoh­nern immer sicher und willkommen.

Fami­li­en­zeit einplanen

Immer wieder kommt Uner­war­te­tes auf die Rütti­manns zu. Kürz­lich fiel der Strom aus – nicht etwa für weni­ge Stun­den, sondern für ganze zwei Wochen. Die Pumpen für Frisch­was­ser streik­ten. «Da merkt man erst, was alles Strom braucht», sagt David Rütti­mann. Trotz all der Schwie­rig­kei­ten nehmen die Rütti­manns die Situa­ti­on bemer­kens­wert gelas­sen. «Wo es Tiefs gibt, gibt es auch immer wieder Hochs. Und die Tiefs werden weni­ger.» Um die Alltags­sor­gen zu verges­sen, versu­chen die Rütti­manns, wenn immer möglich, Fami­li­en­zeit einzu­pla­nen. Oft trifft man die vier am Strand oder beim Erkun­den der Umge­bung. «Sich auf Neues einlas­sen», lautet die Devi­se. «Man muss sich anpas­sen und die Situa­tio­nen nehmen, wie sie kommen, dann kommt auch alles gut», sagt Will­emi­jn Rüttimann.

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: zVg / David Rütti­mann
Veröf­fent­li­chung: 1. März 2024

Mit Beltracchi Duplikate in der Stiftsbibliothek aufspüren

Nebst viel Einma­li­gem gibt es in der Stifts­bi­blio­thek St. Gallen auch Dupli­ka­te zu entde­cken. Den Fragen, ob und worin sich diese unter­schei­den lassen, geht der eins­ti­ge Kunst­fäl­scher Wolf­gang Beltrac­chi an einer öffent­li­chen Führung im April nach.

«So einfach ist das mit der Einma­lig­keit nicht», sagt Stifts­bi­blio­the­kar Cornel Dora. Aktu­ell zeigt die Stifts­bi­blio­thek in St. Gallen in der Ausstel­lung «Nur du!» einma­li­ge Hand­schrif­ten, die als solche Unika­te sind. «Das bringt die Fragen mit sich, was Einzig­ar­tig­keit ist und in welchem Verhält­nis Dupli­ka­te zu den Origi­na­len stehen», sagt Dora. Sei beispiels­wei­se etwas, das von tausend Stück als Einzi­ges noch übrig sei, ein Origi­nal oder ein Dupli­kat? «Ich fand, im Rahmen der Ausstel­lung soll­ten wir unbe­dingt jeman­den einla­den, der sich sowohl mit der Herstel­lung von Origi­na­len als auch Kopien auskennt», sagt er. Am 14. April wird daher der Maler und ehema­li­ge Kunst­fäl­scher Wolf­gang Beltrac­chi durch den Barock­saal der Stifts­bi­blio­thek führen.

Dupli­ka­te der Stiftsbibliothek

«Das Inter­es­san­te an Beltrac­chi ist, dass er versteht, wie die Origi­na­le gemacht wurden. Welche Pinsel, Farben und Tech­ni­ken die jewei­li­gen Künst­ler ange­wen­det haben», sagt Dora. Auch in der Stifts­bi­blio­thek gibt es nebst den Origi­na­len wie den Decken­ge­mäl­den im Barock­saal Dupli­ka­te. Dazu gehört etwa das Gemäl­de «Der Leich­nam Chris­ti im Grab» von Hans Holbein dem Jünge­ren. Das Origi­nal aus dem 16. Jahr­hun­dert befin­det sich gemäss Dora in der Öffent­li­chen Kunst­samm­lung in Basel. In der Stifts­bi­blio­thek ist hinge­gen eine Kopie aus dem 17. Jahr­hun­dert zu sehen. Was braucht es, damit solche Dupli­ka­te gelin­gen? Antwor­ten auf diese und weite­re Fragen wird Wolf­gang Beltrac­chi den Besu­che­rin­nen und Besu­chern an der Führung geben. 50 Perso­nen können teilnehmen.

Als Origi­na­le verkauft

Beltrac­chi selbst wander­te für seinen Betrug 2011 ins Gefäng­nis. Er hatte während 40 Jahren Bilder welt­be­kann­ter Künst­ler wie Max Ernst, Fernand Léger, Hein­rich Campen­donk und Kees van Dongen gefälscht und als Origi­na­le verkauft. Wie er dem katho­li­schen News­por­tal kath.ch erzähl­te, hat er aller­dings nie exis­tie­ren­de Gemäl­de von Künst­lern einfach kopiert. Viel­mehr hat er Gemäl­de eben in dem Stil gemalt, wie sie ein bestimm­ter Künst­ler hätte malen können. Damit täusch­te er Kunst­ex­per­tin­nen und ‑exper­ten auf der ganzen Welt.

In Kirchen aufgewachsen

Heute arbei­tet der 72-Jährige täglich in seinem Atelier in Meggen bei Luzern und lebt von seiner eige­nen Kunst. Aktu­ell hat er etwa sein Gemäl­de von der Arche Noah nach der Sint­flut für 250 000 Fran­ken verkauft. Mit der reli­giö­sen Seite der Kunst ist Beltrac­chi schon früh in Berüh­rung gekom­men. Sein Vater war Kirchen­ma­ler. «Ich bin quasi mit Engeln und gold­um­ran­de­ten Altä­ren aufge­wach­sen», sagt er kath.ch gegen­über. Auch Mess­die­ner sei er gewe­sen. Beltrac­chi hält sich im Grun­de für einen «grund­ehr­li­chen Menschen» und ist über­zeugt, dass Reli­gi­on und Kirche für viele Menschen wesent­lich sind. «Reli­gion und Glau­ben vermö­gen in schwie­ri­gen Lebens­si­tua­tio­nen Trost und Hoff­nung zu spen­den und einen emotio­na­len Halt zu geben», sagt er. Die Bilder, die er damals gemalt habe, habe er nicht bereut, nur unter das Bild den falschen Namen gesetzt zu haben.

Ablass­brief als Unikat

Gekrit­zel am Seiten­rand oder ein persön­li­cher Brief: Nebst den Gemäl­den besitzt die Stifts­bi­blio­thek viele Zeug­nis­se, die in der einen oder ande­ren Weise einma­lig sind. Das Spek­trum sei hier­bei sehr weit, sagt Cornel Dora. Beispiels­wei­se seien Ablass­brie­fe im Mittel­al­ter in gros­sen Mengen in Umlauf gewe­sen. In St. Gallen sei von einem gedruck­ten Stutt­gar­ter Ablass das einzi­ge Exem­plar erhal­ten geblie­ben. Die Urkun­de enthal­te den Namen einer Frau, Margre­ta Geuche­rin aus Kauf­beu­ren, die den Ablass am 13. April 1466 erhal­ten hat. Dora sagt: «Sowohl die Tatsa­che, dass es den Druck nun nur noch einmal gibt, als auch, dass er für einen ganz bestimm­ten Menschen ausge­stellt wurde, macht das Doku­ment zum Unikat. Hoffen wir, dass sie den Ablass tatsäch­lich bekom­men hat.»

Text: Nina Rudnicki

Bild: kath.ch / Wolf­gang Holz

Veröf­fent­li­chung: 23. Febru­ar 2024

Als auf einmal nichts mehr ging

Ein Welt­ge­bets­tag zum Thema Paläs­ti­na? Die Toggen­bur­ger Seel­sor­ge­rin Leila Lieben­berg hat im West­jor­dan­land ihren Bildungs­ur­laub verbracht und miter­lebt, wie nach dem Terror­an­griff der Hamas auf Isra­el eine Kontro­ver­se um die ökume­ni­sche Frau­en­be­we­gung entstan­den ist.

Als alle Flüge ausser jene der israe­li­schen Flug­ge­sell­schaf­ten gestri­chen wurden, wuss­te Leila Lieben­berg, dass eine Heim­rei­se in die Schweiz schwie­rig werden würde. Acht Wochen woll­te die Toggen­bur­ger Seel­sor­ge­rin für ihren Bildungs­ur­laub eigent­lich im West­jor­dan­land blei­ben. Doch dann kam es am 7. Okto­ber 2023 zum Terror­an­griff der Hamas auf Isra­el. «Ich buch­te drei Flüge, die aber alle gecan­celt wurden», sagt sie. Schliess­lich klapp­te die Heim­rei­se mit einem Tag Zwischen­halt über Athen. «Freun­de und Fami­lie waren erleich­tert. Ein weite­rer Grund auszu­rei­sen war für mich aber auch, dass ich meine Arbeit im Flücht­lings­la­ger Askar nicht fort­set­zen konn­te», sagt sie. Sämt­li­che Schu­len und Läden im Gebiet der Gross­stadt Nablus seien wegen Streiks während der mili­tä­ri­schen Reak­ti­on Isra­els geschlos­sen gewe­sen. Eigent­lich hätte sie mit den Kinder­gar­ten­kin­dern das ABC lernen und mit den Frau­en Sport machen sollen.

Ausflüge zum Sama Nablus sowie Unterricht in einem Kindergarten: Das gehörte zum Alltag der Toggenburger Seelsorgerin Leila ­Liebenberg während ihres Bildungsurlaubs im Westjordanland.

Ausflü­ge zum Sama Nablus sowie Unter­richt in einem Kinder­gar­ten: Das gehör­te zum Alltag der Toggen­bur­ger Seel­sor­ge­rin Leila ­Lieben­berg während ihres Bildungs­ur­laubs im Westjordanland.

Kontro­ver­se um Frie­dens­ge­bet ausgelöst

Während ihres Aufent­hal­tes hatte sich Leila Lieben­berg zudem auf den Welt­ge­bets­tag (WGT) vom 1. März 2024 vorbe­rei­tet, der dieses Jahr von christ­li­chen Paläs­ti­nen­se­rin­nen gestal­tet wird. «Zunächst habe ich gar nicht reali­siert, dass ein Welt­ge­bets­tag zum Thema Paläs­ti­na eine Kon-troverse auslö­sen könn­te», sagt Leila Lieben­berg, die Teil des WGT-Regionalteams St. Gallen-­Appenzell ist. Dieses unter­stützt die Pfar­rei­en bei der Umset­zung des Welt­ge­bets­ta­ges. So gehö­ren zur Gottes­dienst­ge­stal­tung etwa Berich­te und Fürbit­ten paläs­ti­nen­si­scher Frau­en sowie paläs­ti­nen­si­sche Lieder. Ist das ange­sichts der aktu­el­len Situa­ti­on im Nahen Osten ange­mes­sen und geht soli­da­ri­sches Beten ohne Partei zu ergrei­fen über­haupt? Diese Fragen beschäf­ti­gen den Welt­ge­bets­tag als Orga­ni­sa­ti­on derzeit (siehe Kasten).

Spon­ta­nes Friedensgebet

Auch in der Ostschweiz gibt es Pfar­rei­en, die das Thema Paläs­ti­na nicht aufneh­men und sich spon­tan für ein allge­mei­nes Frie­dens­ge­bet entschie­den haben. «Einer­seits finde ich das unglaub­lich scha­de. Ande­rer­seits verste­he ich, dass die Pfar­rei­en nicht in der Kritik stehen möch­ten», sagt Leila Lieben­berg. Wie sensi­bel das Thema ange­gan­gen werden muss, lässt sich auch aus dem Janu­ar­brief des Welt­ge­bets­tags­ko­mi­tees Schweiz entneh­men. Dieses weist unter ande­rem darauf hin, dass nicht nur die Anlie­gen der Frau­en in Paläs­ti­na im Mittel­punkt stehen sollen, sondern auch jene der jüdi­schen Frau­en nicht verges­sen werden dürf­ten. Zudem hat das paläs­ti­nen­si­sche Komi­tee zuge­sagt, die Litur­gie und Gottes­dienst­bei­trä­ge anzupassen.

Situa­ti­on der Frau­en bekannt machen

«Wie geht es den Frau­en im West­jor­dan­land und wie ist die Situa­ti­on der weni­gen Chris­tin­nen vor Ort?» Aber auch: Wie schaf­fen wir es, nieman­den vor den Kopf zu stos­sen?» Als Leila Lieben­berg im Janu­ar an der Weltgebetstag-Einführungstagung zur Litur­gie aus Paläs­ti­na von ihren Erfah­run­gen erzähl­te, waren das die drän­gends­ten Fragen der Anwe­sen­den. «Der Bildungs­stand ist hoch, aber es gibt prak­tisch keine Jobs. Es gibt alle Lebens­mit­tel, aber sie sind sehr teuer. Frau­en werden nicht per se unter­drückt, aber es gibt Gewalt inner­halb der Fami­li­en», fasst sie die Situa­ti­on zusam­men. Der Welt­ge­bets­tag beinhal­tet für sie auch den Versuch, die Situa­ti­on der Frau­en vor Ort bekannt zu machen. Und er ist für sie ein Stück Heimat, gera­de in diesem Jahr. ­Leila Lieben­bergs Vater ist arabi­scher Israe­li, der einst sein Land verliess, um in Deutsch­land zu studieren.

Von der Aktua­li­tät über­schat­tet Den Welt­ge­bets­tag der Frau­en am 1. März 2024 haben in diesem Jahr Paläs­ti­nen­se­rin­nen vorbe­rei­tet. Doch seit dem Angriff der Hamas auf Isra­el im vergan­ge­nen Okto­ber wird die Orga­ni­sa­ti­on mit Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fen konfron­tiert. In Deutsch­land wurde deshalb die Weiter­ga­be der Litur­gie aus Paläs­ti­na an die Basis gemäss kath.ch gestoppt. Das Schwei­zer Komi­tee verzich­tet hinge­gen auf diesen Schritt. Es setzt auf Ergän­zun­gen und Ände­run­gen von Seiten des ­paläs­ti­nen­si­schen Komitee.

Text: Nina Rudnicki

Bilder: zVg.

Veröf­fent­li­chung: 20. Febru­ar 2024

Ein Gemeinschaftsgefühl, das im Alltag nützt

Es sei das Einzi­ge, was ihm wirk­lich helfe: Das sagt der 46-jährige Matthi­as Maier* über ­seine Tref­fen bei der Selbst­hil­fe St.Gallen und Appen­zell. Dort tauscht er sich mit Menschen aus, die wie er von Depres­si­on betrof­fen sind.

Was soll ich sagen? Und will ich die Geschich­ten anderer Menschen über­haupt kennen?» Diese Gedan­ken hatte Matthi­as Maier*, bevor er sich erst­mals für eine Selbst­hil­fe­grup­pe anmel­de­te. «Ich hatte einfach Angst davor. Frei­wil­lig hätte ich das nie gemacht», erzählt der 46-Jährige in den Räumen der Selbst­hil­fe St.Gallen und Appen­zell. Alle zwei Wochen trifft er sich hier mit ande­ren Perso­nen, die wie er von einer Depres­si­on betrof­fen sind. «Mit Menschen zu reden, die Ähnli­ches wie ich erlebt haben, tut gut. Es entsteht ein Gemein­schafts­ge­fühl und ich komme aus meiner Bubble heraus. In unse­rer Grup­pe haben wir die verschie­dens­ten Hinter­grün­de», sagt er.

Durchs Trin­ken überdeckt

Bei Matthi­as Maier hängt die Depres­si­on mit einer Alko­hol­er­kran­kung zusam­men. Pegel­trin­ken nennt er es. Das bedeu­tet, dass er stets einen gewis­sen Promil­le­stand brauch­te, um sich gut zu fühlen. «In meinen 20er-Jahren habe ich wie alle während des Studi­ums regel­mäs­sig getrun­ken und dach­te, das sei ganz normal», sagt er. Es sei immer mehr gewor­den und in seinen 30ern seien dann an den Wochenenden zuneh­mend Film­ris­se hinzu­ge­kom­men. Schliess­lich habe er während fünf Jahren gar keinen Alko­hol mehr konsu­miert. «Aber es ist wie mit jeder Sucht­erkrankung. Sie ist ein Leben lang Teil von einem», sagt er und erzählt, wie in den fünf trocke­nen Jahren seine Depres­si­on sicht­bar wurde. «Ich hatte vieles wohl einfach durch das Trin­ken über­deckt und dadurch gar nicht bemerkt, wie es mir eigent­lich geht», sagt er.

Werk­zeu­ge bereit

Ein mulmi­ges Gefühl im Bauch, leise Trau­rig­keit, Antriebs­lo­sig­keit, Verspan­nun­gen, Kopf­schmer­zen, Übel­keit, Rück­zug vom Umfeld, Welt­schmerz und das Gefühl, immer persön­lich ange­grif­fen zu werden: Matthi­as Maier liest einen Text vor, den er wie alle in der Selbst­hil­fe­grup­pe über die eige­ne Depres­si­on geschrie­ben hat. Die Teil­neh­men­den hatten das selbst so gewünscht. Zwei bis drei Wochen kann eine depres­si­ve Episo­de bei ihm dauern. «Glück­li­cher­wei­se ist die letz­te aber schon ein Jahr her. Momen­tan geht es mir besser. Ich akzep­tie­re, dass mich diese Gefüh­le stän­dig beglei­ten, aber ich habe Werk­zeu­ge, um mit ihnen umzu­ge­hen», sagt er.

Eine Milde entwickeln

Auf guten und genü­gen­den Schlaf achten, eine Milde sich selbst gegen­über entwi­ckeln sowie ­hinaus­ge­hen und sich bewe­gen: Das sind Dinge, die Matthi­as Maier guttun. «Vor allem aber helfen ihm Gesprä­che wie in der Selbst­hil­fe­grup­pe, aber auch mit Bekann­ten, Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen und seiner Part­ne­rin. Mit ihr ist Matthi­as Maier, der im Gross­raum Zürich aufge­wach­sen ist, wegen eines Joban­ge­bots vor einein­halb Jahren aus Hamburg zurück in die Schweiz nach St. Gallen gezo­gen. Im Inter­net such­te er nach einer neuen Selbst­hil­fe­grup­pe. ‹Es ist das Einzi­ge, was bei mir wirk­lich nützt», sagt er und fügt an: «Das hätte ich nicht erwar­tet, als ich damals in Hamburg wegen meiner Alko­hol­er­kran­kung in eine Tages­kli­nik kam.» Drei Mona­te sei er dort gewe­sen und habe als eine von verschie­de­nen Mass­nah­men bei einer Gesprächs­grup­pe mitma­chen müssen. «Ausser­dem wurde mir ausdrück­lich empfoh­len, im Anschluss einer Selbst­hil­fe­grup­pe in Hamburg beizu­tre­ten.» In St. Gallen ist die Grup­pe derweil zusam­men­ge­wach­sen. Matthi­as Maier sagt: «Ein Jahr hat es aber schon gedau­ert, bis sich die Leute wirk­lich öffne­ten und anfin­gen von schwe­ren und tiefer­lie­gen­den Dingen zu erzählen.»

* Name geändert

Selbst­hil­fe Die Selbst­hil­fe St.Gallen und Appen­zell setzt sich für die Stär­kung gemein­schaft­li­cher Selbst­hil­fe ein. Sie führt Menschen in ähnli­chen Lebens­si­tua­tio­nen zusam­men. Ziel ist, durch Selbst­ver­ant­wor­tung und gegen­sei­ti­ge Unter­stüt­zung die Lebens­qua­li­tät und gesell­schaft­li­che Inte­gra­ti­on von Perso­nen in schwie­ri­ger Lebens­la­ge zu verbes­sern. Selbst­hil­fe St.Gallen und Appen­zell führt rund 200 Grup­pen zu unter­schied­lichs­ten Themen. Die Grup­pen werden nicht mode­riert, sondern durch die Teil­neh­men­den gestal­tet.  www.selbsthilfe-stgallen-appenzell.ch sowie Infos unter Tel. 071 222 22 63

Text: Nina Rudnicki

Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 16. Febru­ar 2024

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