Ein Gemeinschaftsgefühl, das im Alltag nützt

Es sei das Einzi­ge, was ihm wirk­lich helfe: Das sagt der 46-jährige Matthi­as Maier* über ­seine Tref­fen bei der Selbst­hil­fe St.Gallen und Appen­zell. Dort tauscht er sich mit Menschen aus, die wie er von Depres­si­on betrof­fen sind.

Was soll ich sagen? Und will ich die Geschich­ten anderer Menschen über­haupt kennen?» Diese Gedan­ken hatte Matthi­as Maier*, bevor er sich erst­mals für eine Selbst­hil­fe­grup­pe anmel­de­te. «Ich hatte einfach Angst davor. Frei­wil­lig hätte ich das nie gemacht», erzählt der 46-Jährige in den Räumen der Selbst­hil­fe St.Gallen und Appen­zell. Alle zwei Wochen trifft er sich hier mit ande­ren Perso­nen, die wie er von einer Depres­si­on betrof­fen sind. «Mit Menschen zu reden, die Ähnli­ches wie ich erlebt haben, tut gut. Es entsteht ein Gemein­schafts­ge­fühl und ich komme aus meiner Bubble heraus. In unse­rer Grup­pe haben wir die verschie­dens­ten Hinter­grün­de», sagt er.

Durchs Trin­ken überdeckt

Bei Matthi­as Maier hängt die Depres­si­on mit einer Alko­hol­er­kran­kung zusam­men. Pegel­trin­ken nennt er es. Das bedeu­tet, dass er stets einen gewis­sen Promil­le­stand brauch­te, um sich gut zu fühlen. «In meinen 20er-Jahren habe ich wie alle während des Studi­ums regel­mäs­sig getrun­ken und dach­te, das sei ganz normal», sagt er. Es sei immer mehr gewor­den und in seinen 30ern seien dann an den Wochenenden zuneh­mend Film­ris­se hinzu­ge­kom­men. Schliess­lich habe er während fünf Jahren gar keinen Alko­hol mehr konsu­miert. «Aber es ist wie mit jeder Sucht­erkrankung. Sie ist ein Leben lang Teil von einem», sagt er und erzählt, wie in den fünf trocke­nen Jahren seine Depres­si­on sicht­bar wurde. «Ich hatte vieles wohl einfach durch das Trin­ken über­deckt und dadurch gar nicht bemerkt, wie es mir eigent­lich geht», sagt er.

Werk­zeu­ge bereit

Ein mulmi­ges Gefühl im Bauch, leise Trau­rig­keit, Antriebs­lo­sig­keit, Verspan­nun­gen, Kopf­schmer­zen, Übel­keit, Rück­zug vom Umfeld, Welt­schmerz und das Gefühl, immer persön­lich ange­grif­fen zu werden: Matthi­as Maier liest einen Text vor, den er wie alle in der Selbst­hil­fe­grup­pe über die eige­ne Depres­si­on geschrie­ben hat. Die Teil­neh­men­den hatten das selbst so gewünscht. Zwei bis drei Wochen kann eine depres­si­ve Episo­de bei ihm dauern. «Glück­li­cher­wei­se ist die letz­te aber schon ein Jahr her. Momen­tan geht es mir besser. Ich akzep­tie­re, dass mich diese Gefüh­le stän­dig beglei­ten, aber ich habe Werk­zeu­ge, um mit ihnen umzu­ge­hen», sagt er.

Eine Milde entwickeln

Auf guten und genü­gen­den Schlaf achten, eine Milde sich selbst gegen­über entwi­ckeln sowie ­hinaus­ge­hen und sich bewe­gen: Das sind Dinge, die Matthi­as Maier guttun. «Vor allem aber helfen ihm Gesprä­che wie in der Selbst­hil­fe­grup­pe, aber auch mit Bekann­ten, Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen und seiner Part­ne­rin. Mit ihr ist Matthi­as Maier, der im Gross­raum Zürich aufge­wach­sen ist, wegen eines Joban­ge­bots vor einein­halb Jahren aus Hamburg zurück in die Schweiz nach St. Gallen gezo­gen. Im Inter­net such­te er nach einer neuen Selbst­hil­fe­grup­pe. ‹Es ist das Einzi­ge, was bei mir wirk­lich nützt», sagt er und fügt an: «Das hätte ich nicht erwar­tet, als ich damals in Hamburg wegen meiner Alko­hol­er­kran­kung in eine Tages­kli­nik kam.» Drei Mona­te sei er dort gewe­sen und habe als eine von verschie­de­nen Mass­nah­men bei einer Gesprächs­grup­pe mitma­chen müssen. «Ausser­dem wurde mir ausdrück­lich empfoh­len, im Anschluss einer Selbst­hil­fe­grup­pe in Hamburg beizu­tre­ten.» In St. Gallen ist die Grup­pe derweil zusam­men­ge­wach­sen. Matthi­as Maier sagt: «Ein Jahr hat es aber schon gedau­ert, bis sich die Leute wirk­lich öffne­ten und anfin­gen von schwe­ren und tiefer­lie­gen­den Dingen zu erzählen.»

* Name geändert

Selbst­hil­fe Die Selbst­hil­fe St.Gallen und Appen­zell setzt sich für die Stär­kung gemein­schaft­li­cher Selbst­hil­fe ein. Sie führt Menschen in ähnli­chen Lebens­si­tua­tio­nen zusam­men. Ziel ist, durch Selbst­ver­ant­wor­tung und gegen­sei­ti­ge Unter­stüt­zung die Lebens­qua­li­tät und gesell­schaft­li­che Inte­gra­ti­on von Perso­nen in schwie­ri­ger Lebens­la­ge zu verbes­sern. Selbst­hil­fe St.Gallen und Appen­zell führt rund 200 Grup­pen zu unter­schied­lichs­ten Themen. Die Grup­pen werden nicht mode­riert, sondern durch die Teil­neh­men­den gestal­tet.  www.selbsthilfe-stgallen-appenzell.ch sowie Infos unter Tel. 071 222 22 63

Text: Nina Rudnicki

Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 16. Febru­ar 2024

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