«Vom öffentlichen Verkehr ausgeschlossen»

Die ÖV-Mehrfahrtenkarte soll durch ein digi­ta­les Ange­bot ersetzt werden. Der Theo­lo­ge und Ethik­pro­fes­sor Peter G. Kirch­schlä­ger bezeich­net den Schritt als ethisch proble­ma­tisch. Er nimmt den Staat in die Pflicht und rät Betrof­fe­nen, sich zur Wehr zu setzen.

Einste­cken, abstem­peln lassen und los geht die Fahrt. Während Jahr­zehn­ten erfreu­ten sich die Mehr­fahr­ten­kar­ten der SBB und ande­rer Bahn- und Busbe­trie­be gros­ser Beliebt­heit. Gemäss K‑Tipp wurden im vergan­ge­nen Jahr über 6 Millio­nen Stem­pel­kar­ten verkauft. Doch nun soll damit Schluss sein. Die SBB und ande­re Verkehrs­be­trie­be haben ange­kün­digt, das Ange­bot im kommen­den Jahr einzu­stel­len. Die oran­ge­far­be­nen Entwer­tungs­käs­ten sollen bis Ende 2025 aus den Schwei­zer Bahn­hö­fen verschwin­den. Die SBB will die Mehr­fahr­ten­kar­ten durch ein digi­ta­les Ticket ablö­sen. Die Ankün­di­gung sorg­te bei verschie­de­nen Fach­ver­bän­den als auch in der Bevöl­ke­rung für Unmut. Einer der Kriti­ker ist Peter G. Kirch­schlä­ger. Der katho­li­sche Theo­lo­ge und Ethik­pro­fes­sor der Univer­si­tät Luzern bezeich­net die Abschaf­fung der Stem­pel­kar­te als «ethisch proble­ma­tisch». «Es besteht die Gefahr, dass Menschen vom öffent­li­chen Verkehr ausge­schlos­sen werden. Die Ticket­ver­käu­fe werden vermehrt digi­ta­li­siert, doch es ist unan­ge­mes­sen, von allen zu erwar­ten, dass sie ein Smart­phone besit­zen», sagt Kirch­schlä­ger auf Nachfrage.

Gefahr von Mani­pu­la­ti­on steigt

Peter G. Kirch­schlä­ger hat Verständ­nis dafür, dass Unter­neh­men versu­chen, mit der Digi­ta­li­sie­rung effi­zi­en­ter zu werden und Kosten einzu­spa­ren. Beson­ders stos­send ist für ihn unter ande­rem die Tatsa­che, dass es sich bei ÖV-Betrieben um staat­li­che oder teil­staat­li­che Unter­neh­mun­gen handelt und nicht um Privat­un­ter­neh­men. «Gera­de die öffent­li­che Hand darf die Digi­ta­li­sie­rungs­pro­zes­se nicht so gestal­ten, dass ein Teil der Bevöl­ke­rung ausge­schlos­sen wird und dass das Menschen­recht auf Daten­schutz und Privat­sphä­re verletzt wird.» Für Kirch­schlä­ger ist die geplan­te Abschaf­fung der Mehr­fahr­ten­kar­te denn auch nicht nach­voll­zieh­bar: «Ich frage mich, wieso man eine neue Lösung suchen muss, wenn es mit den Mehr­fahr­ten­kar­ten eine gibt, die funk­tio­niert und offen­bar auch nach wie vor nach­ge­fragt wird.» Tangiert sind gemäss Kirch­schlä­ger verschie­de­ne Bevöl­ke­rungs­grup­pen. «Die Umstel­lung betrifft unter ande­rem Menschen, die mit der Tech­nik über­for­dert sind, also vor allem älte­re Menschen, sowie Armuts­be­trof­fe­ne, die sich oder ihren Kindern kein Smart­phone kaufen können.» Proble­ma­tisch sieht er die geplan­te Ände­rung auch in Bezug auf die junge Gene­ra­ti­on. «Eine Abschaf­fung der Mehr­fahr­ten­kar­te würde vor allem Kindern scha­den, denn je früher sie ein Smart­phone haben, desto eher wird die Nutzung zu einem Problem für ihre menta­le Gesund­heit und sie können bereits früh in ihrem Konsum und in der Entwick­lung ihrer poli­ti­schen Ansich­ten mani­pu­liert werden. Denn jede Sekun­de auf dem Smart­phone ist eine Sekun­de Mani­pu­la­ti­ons­mög­lich­keit.» Den Betrof­fe­nen rät Kirch­schlä­ger, sich bei den verant­wort­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen und Unter­neh­mun­gen zu wehren.

«Frei­heit wird angegriffen»

Für Peter G. Kirch­schlä­ger ist klar: «Es besteht drin­gen­der Hand­lungs­be­darf.» Nicht nur wegen eines drohen­den Ausschlus­ses, sondern auch im Hinblick auf die Verlet­zung von Menschen­rech­ten. «Im Rahmen der Digi­ta­li­sie­rung werden stets Daten gestoh­len, um sie dann den Meist­bie­ten­den weiter­zu­ver­kau­fen». Dies wieder­um stel­le eine Verlet­zung der Menschen­rech­te auf Daten­schutz und Privat­sphä­re dar, betont Kirch­schlä­ger. «Diese Menschen­rechts­ver­let­zun­gen müssen gestoppt werden. Diese Menschen­rech­te sind rele­vant für unse­re Frei­heit, da wir uns anders verhal­ten, wenn wir über­wacht werden. Wir tendie­ren zu einem normier­te­ren Verhal­ten. Unse­re Frei­heit wird also ange­grif­fen.» Er spricht von einer «hohen Dring­lich­keit». «Es handelt sich hier um Menschen­rech­te, die ja die Menschen­wür­de schüt­zen», so Kirch­schlä­ger. Seit Länge­rem fordert er deshalb die Schaf­fung einer Inter­na­tio­na­len Agen­tur für daten­ba­sier­te Syste­me bei der UNO – vergleich­bar mit der Inter­na­tio­na­len Atom­ener­gie­be­hör­de bei der UNO, was Anklang findet. «Damit sollen die ethi­schen Chan­cen der daten­ba­sier­ten Syste­me (Anm. der Redak­ti­on: bisher künst­li­che Intel­li­genz) geför­dert und deren ethi­sche Risi­ken gemeis­tert oder vermie­den werden.» Fakt ist: Die fort­schrei­ten­de Digi­ta­li­sie­rung des Lebens kann nicht aufge­hal­ten werden. Vieles – sei es der Einkauf oder die Feri­en­bu­chung – geht heute digi­tal schnel­ler und einfa­cher als noch vor eini­gen Jahren analog. Dass dabei Perso­nen­da­ten erho­ben und Nutzer­da­ten gespei­chert werden, ist uns allen klar. Aber: Geben wir unse­re Daten zu schnell und unüber­legt an Drit­te weiter? Peter G. Kirch­schlä­ger rela­ti­viert: «Selbst­ver­ständ­lich können wir durch unser Tun und Lassen hier einen Einfluss nehmen und haben damit korre­spon­die­rend auch eine Verant­wor­tung. Oftmals bleibt uns aber gar keine ande­re Wahl.» Die Möglich­kei­ten eines einzel­nen Bürgers oder einer Bürge­rin seien viel klei­ner als die Macht des Staa­tes, die Menschen­rech­te zu schüt­zen und durch­zu­set­zen, und von Unter­neh­men, die Menschen­rech­te zu respek­tie­ren, erklärt Kirch­schlä­ger. «Entspre­chend hat der Staat hier auch eine grös­se­re Verant­wor­tung, die Menschen­rech­te zu realisieren.»

Zur Person

Peter G. Kirch­schlä­ger ist Theo­lo­ge und Philo­soph. Er ist Profes­sor für Theo­lo­gi­sche Ethik und Leiter des Insti­tuts für Sozi­al­ethik ISE an der Univer­si­tät Luzern, Gast­pro­fes­sor an der Profes­sur für Neuro­in­for­ma­tik und Neuro­na­le Syste­me der ETH Zürich sowie am ETH AI Center und Rese­arch Fellow an der Univer­si­ty of the Free State, Bloem­font­ein (Südafri­ka). Seine Forschungs­schwer­punk­te sind Ethik der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on und künst­li­chen Intel­li­genz, Ethik der Menschen­rech­te und Wirtschafts‑, Finanz- und Unter­neh­mens­ethik. Der 46-Jährige ist bera­ten­der Exper­te in ethi­schen Fragen für natio­na­le und inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen etwa für die UN, UNESCO, die Orga­ni­sa­ti­on für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa OSZE oder den Euro­pa­rat. Er ist Präsi­dent a. i. der Eidge­nös­si­schen Ethik­kom­mis­si­on für die Biotech­no­lo­gie im Ausser­hu­man­be­reich EKAH, Mitglied der Kommis­si­on Justi­tia et Pax der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz und Studi­en­lei­ter des neuen Master­stu­di­ums «Ethik» an der Univer­si­tät Luzern: www.unilu.ch/master-ethik

Text: Ales­sia Paga­ni
Bilder: Ana Kontou­lis / zVg.
Veröf­fent­li­chung: 2. April 2024

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