Wo finden sich in Kirchen koloniale Spuren? Der Historiker Hans Fässler und die katholische Theologin Ann-Katrin Gässlein haben sich in St. Gallen auf die Suche begeben. Dies im Rahmen eines regionalen Themenmonats zur Kolonialgeschichte in der Bodenseeregion.
Bilder eines hellhäutigen Jesus, der das Holzkreuz schleppt, zieren die Wände des Kreuzganges in der katholischen Kirche St. Georgen in St. Gallen. Hinter Jesus steht ein dunkelhäutiger Römer. «Das Böse ist hier schwarz gemalt. Das Gute ist hingegen weiss», sagt der St. Galler Historiker Hans Fässler über diese Darstellung der Passionsgeschichte. Im Rahmen des regionalen Themenmonats im April und Mai «Konquistadoren und Sklavenhändler: Kolonialgeschichte in der Bodenseeregion» hat er sich zusammen mit der Religionswissenschaftlerin und katholischen Theologin Ann-Katrin Gässlein auf eine Spurensuche in Sakralbauten begeben.
Mit dem Velo auf Recherche
Das Beispiel in St. Georgen hat in den vergangenen Jahren regelmässig für Debatten gesorgt. «Ich wusste also, dass es dort ein problematisches Gemälde gibt», sagt Fässler. Um weitere Beispiele zu finden, ist er Tipps nachgegangen, hat im Internet recherchiert, Kunstführer gelesen sowie sich aufs Velo gesetzt und sich spontan verschiedene Kirchen in St. Gallen angeschaut. In der katholischen Kirche St. Fiden stiess er so auf ein Altarbild und in der katholischen Kirche St. Otmar auf ein Fenster mit Glasmalerei. Auf beiden Beispielen sind die Heiligen Drei Könige beim Jesuskind zu sehen. Der Schwarze König steht jeweils zuhinterst in der Reihe. «Es wird auch in der Rassismusforschung darauf hingewiesen, dass der Schwarze König fast immer zuhinterst abgebildet ist und oft stereotype Gesichtszüge hat», sagt er.
Schlichte Kirchen gewöhnt
Hans Fässler bietet seit vielen Jahren Stadtführungen in St.Gallen zu dem Thema an. Ob an Hausfassaden oder an Kunstwerken, überall finden sich Spuren aus der Kolonialzeit. Dazu gehören etwa das «Haus zum Mohrenkopf» an der Spisergasse sowie die Sandsteinköpfe am «Haus zur Waage» in der Multergasse, die für die fünf Kontinente stehen. «Mittlerweile habe ich einen Kolonialblick entwickelt und bin vielleicht inzwischen etwas überfokussiert. Ich frage mich immer: Was wird da dargestellt und ist es problematisch?», sagt er. Als Reformierter sei er eher schlichte Kirchen gewöhnt. «Von der Geschichte der Reformation her finden sich koloniale Darstellungen eher in katholischen als in reformierten Kirchen», sagt er. Mit Freude habe er sich daher nun auf die katholischen Bilder, Statuen und Figuren wie etwa in der Kathedrale eingelassen.
Zerstörte Götterstatuen
Die St. Galler Theologin Ann-Katrin Gässlein gab ihm etwa den Tipp, sich den heiligen Benedikt im Chorgestühl anzuschauen. Ein vergoldetes Relief zeigt dort, wie dieser auf dem Monte Cassino Götterstatuten wie jene der römischen Göttin Diana zerstört. «Das ist ein Zeugnis der gewalttätigen Missionierung und einer Zeit, in der sich das Christentum anmasste, die einzig richtige Religion zu sein», sagt er. Auch das nördliche Eingangstor der Kathedrale ziert ein Stuckrelief, in dem der Heilige Gallus in Tuggen im Linthgebiet die «falschen» Götter zerstört.
Zeugen einer bestimmten Zeit
Was soll man mit diesen problematischen Darstellungen machen? Hans Fässler ist tendenziell dagegen, sie zu entfernen. «Sie sind Zeugen einer bestimmten Zeit und können heute zu einer Debatte darüber beitragen», sagt er. Wichtig seien beispielsweise Medienberichten zum Thema, Hinweistafeln vor Ort, regionale Themenmonate wie diesen Frühling oder ein Weg der Vielfalt, wie er derzeit in St. Gallen entsteht. Dieser stellt Geschichten von Menschen ins Zentrum, die verfolgt und diskriminiert wurden, aber auch von solchen, die sich gegen Ungerechtigkeit wehrten.
Kolonialherren aus der Bodenseeregion Zwei Kaufleute, der St. Galler Hieronymus Sailer und der Konstanzer Ulrich Ehinger, erhielten 1528 vom spanischen König eine Lizenz zum Handel mit versklavten Menschen aus Westafrika. Gleichzeitig unterzeichneten die beiden Kaufleute auch einen Vertrag, der ihnen die Kolonisation Venezuelas zusicherte. Diese bislang weitgehend unbekannte Geschichte der Kolonialherren aus der Bodenseeregion bildet den Ausgangspunkt für den Themenmonat zur Kolonialgeschichte. Initiiert haben diesen das Stadtarchiv St. Gallen und die Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde. Beteiligt sind auch die Katholische und Reformierte Kirche der Stadt St. Gallen. Zum Veranstaltungsprogramm gehören etwa das Referat und Podiumsgespräch «Befreiung oder Unterdrückung? Christliche Mission und Kolonialismus vom 16. Jahrhundert bis heute», moderiert von der Theologin Ann-Katrin Gässlein, sowie Stadtführungen und Velorundfahrten mit dem Historiker Hans Fässler. → www.bodensee-kolonialgeschichte.ch
Text und Bild: Nina Rudnicki
Veröffentlichung: 5. März 2024