News

Papageienhof Mogelsberg

Von seinem ­Hocker aus kann Finn alles ­beob­ach­ten und über­bli­cken. Der rothaa­ri­ge Kater darf gemein­sam mit 14 Artge­nos­sen seinen ­Lebens­abend im Katzen­al­ters­heim des Büsi- und ­Papa­gei­en­hofs in Mogels­berg verbringen.

Fast täglich nimmt der Papageien- und Büsi­hof Mogels­berg herren- und schutz­lo­se Tiere auf. ­Aktu­ell betreu­en Marcel Jung und sein Team im Tier­heim über 350 Schütz­lin­ge. Sie alle ­haben ein unter­schied­li­ches Schick­sal und meist eine schwie­ri­ge Zeit hinter sich. Was sie ­verbin­det? Der Gross­teil wartet auf ein neues schö­nes Plätzchen.

Stolz und erha­ben thront Finn auf seinem Hocker und mustert die Gäste. «Diva» schiesst einem durch den Kopf, wenn man den rothaa­ri­gen Kater so sitzen sieht. Doch Finn erbarmt sich. Er macht einen Schritt auf die Gäste zu und schon ist das Eis gebro­chen. Es folgt eine 30-minütige Strei­chel­ein­heit mit vielen Lieb­ko­sun­gen. Nach Finn möch­te Garga­mel schmei­cheln. Der lang­haa­ri­ge Kater kam erst vor weni­gen Tagen via Tier­schutz in den Papageien- und Büsi­hof Mogels­berg. Garga­mel wurde auf einem Bauern­hof gefun­den, vernach­läs­sigt und verfilzt. Mitt­ler­wei­le ist er frisch frisiert. Mit dem Einzug ins Tier­heim ist auch sein Schick­sal besie­gelt: «Er bleibt bis zum Lebens­en­de bei uns», sagt Heim­lei­ter Marcel Jung. Finn und Garga­mel sind Bewoh­ner des Katzen­al­ters­heims im Papageien- und Büsi­hof Mogels­berg. Das heisst, sie werden nicht vermit­telt und werden ihren Lebens­abend im Tier­heim verbrin­gen. Momen­tan leben 15 Katzen im Katzen­al­ters­heim. Wie Finn und Garga­mel landen jähr­lich Tausen­de von Tieren in Schwei­zer Tier­hei­men. Gemäss Statis­tik des Schwei­zer Tier­schut­zes wurden 2022 über 13 000 Tiere abge­ge­ben. Im Papageien- und Büsi­hof Mogels­berg kümmert sich Marcel Jung um rund 350 solcher Tiere, darun­ter mehre­re Hunde und Katzen, unzäh­li­ge Nager wie Meer­säu­li und Kanin­chen sowie Schild­krö­ten und rund 200 teils exoti­sche Vögel. Das Tier­heim soll aller­dings nur Zwischen­sta­ti­on sein. Der Gross­teil der Katzen, die Hunde und die Nager warten im Necker­tal auf ein neues schö­nes Zuhau­se mit liebens­wür­di­gen Besit­zern. Was die Tiere eint: Sie haben oft ein schlim­mes Schick­sal hinter sich und nieman­den mehr, der sich um sie kümmert. Sie wurden ausge­setzt oder wurden vernach­läs­sigt. Sie wurden verges­sen oder verlas­sen. Es sind Tiere, die aus Privat­haus­hal­ten kommen und frei­wil­lig abge­ge­ben wurden oder die Tier­schutz und Poli­zei in die Obhut des Tier­heims gebracht haben. So auch Lilly­fee und Mika. Die beiden Hunde tollen freu­dig in der Aussen­an­la­ge umher und begrüs­sen die Gäste aufgeregt.

Tausen­de Tiere landen jähr­lich im Tierheim.

Kastra­ti­ons­pflicht gefordert

Die beiden klei­nen Racker sind schon länge­re Zeit im Zwin­ger des Tier­heims. Unfrei­wil­lig, wie Marcel Jung erklärt. Gerne würde er die Hünd­chen an einen schö­nen Ort vermit­teln, aber er darf nicht – aus einem absur­den Grund: Nach dem Tod des Besit­zers kamen die beiden Hunde gemäss Gesetz in die Erbmas­se. Das Ganze zieht sich in die Länge. Marcel Jung geht nicht davon aus, dass sie vor ihrem Tod den Tier­heim­zwin­ger noch verlas­sen können. «Das ist sehr scha­de für die beiden.» Mit ihnen warten vier weite­re Hunde auf eine Vermitt­lung. Wir Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer lieben Haus­tie­re. Über 40 Prozent der Haus­hal­te besit­zen mindes­tens einen Hund, eine Katze oder Fische, Vögel und Nager. In der Schweiz lebten 2022 rund 0,5 Millio­nen Hunde und rund 1,8 Millio­nen Katzen. Doch nicht immer schaf­fen wir es, unse­re Verpflich­tung gegen­über den Tieren wahr­zu­neh­men. Das merken auch die Verant­wort­li­chen: «Die Zahl der abge­ge­be­nen Tiere ist in den vergan­ge­nen Jahren immer stär­ker gestie­gen», sagt Marcel Jung.

«Die Zahl der abge­ge­be­nen Tiere ist in den vergan­ge­nen Jahren immer stär­ker gestie­gen», sagt Marcel Jung.

Gebüh­ren schre­cken ab

Im vergan­ge­nen Jahr hat der Papageien- und Büsi­hof Mogels­berg Schlag­zei­len gemacht. Es war die Rede von einer Katzen­schwem­me und von einem drohen­den Aufnah­me­stopp. Ende 2023 waren 40 Samt­pfo­ten in der Vermitt­lung. Mitt­ler­wei­le habe sich die Situa­ti­on beru­higt und die Zahl abge­ge­be­ner Tiere sei gerin­ger als im Vorjahr, sagt Marcel Jung. «Aber gera­de zur Feri­en­zeit merken wir leider immer einen Anstieg.» Das Problem: Heute verlan­gen Tier­hei­me nicht selten Aufnahme- und Abga­be­ge­büh­ren. Damit sollen Kosten wie Futter und Tier­arzt­rech­nun­gen bezahlt werden. Für ein Tier­heim, das ausschliess­lich von Spen­den und Lega­ten lebt, ein notwen­di­ger Zustupf. «Viele Leute verste­hen das nicht und weigern sich, etwas zu zahlen. Sie scheu­en sich deshalb, das Tier ins Tier­heim zu brin­gen», erklärt Jung. Dies führe nicht selten dazu, dass die Besit­zer die ihnen über­drüs­sig gewor­de­nen Tiere vor der Feri­en­rei­se im Wald «entsor­gen». Von den 13 000 im Jahr 2022 in Schwei­zer Tier­hei­men abge­ge­be­nen Tieren waren rund 5128 Findel­tie­re. Marcel Jung kennt das leider nur zu gut. Erst vor weni­gen Tagen habe er wieder Meer­säu­li aufge­nom­men, die in einer Karton­schach­tel ausge­setzt wurden.

Im Büsi- und ­Papa­gei­en­hof in Mogels­berg warten viele Katzen auf ein neues Zuhause.

Verant­wor­tung fehlt

Ein Problem sieht Marcel Jung auch in der raschen Fort­pflan­zung der Katzen. Schät­zungs­wei­se 100 000 bis 300 000 Katzen in der Schweiz sind herren­los. Eine Kastrations- oder Chip-Pflicht gibt es bei uns nicht. «Eine solche wäre wünschens­wert», sagt Jung. Gera­de Bauern­hof­kat­zen würden sich oft unkon­trol­liert vermeh­ren. Dadurch sei auch die Gefahr der Über­tra­gung von Krank­hei­ten gross, was zu hohen Folge­kos­ten führen könne. Dies wieder­um stei­ge­re die Gefahr, dass Katzen ausge­setzt würden. Ein Teufels­kreis. Proble­ma­tisch sieht Marcel Jung auch die «Tren­di­sie­rung» bestimm­ter Rassen, spezi­ell bei Hunden. Durch Filme oder Social Media würden Tren­d­ras­sen entste­hen, die dann in kurzer Zeit aus «Pres­ti­ge­grün­den» vermehrt nach­ge­fragt werden, bis sie von neuen Tren­d­ras­sen abge­löst werden. Als Beispiel nennt Jung Mopse oder Pitbulls. Einen Hype hatte Anfang der 2000er-Jahre auch Hotel­er­bin Paris Hilton geschaf­fen, als sie ihren Chihua­hua über­all hin mitnahm und so den Begriff des Hand­ta­schen­hünd­chens präg­te. Marcel Jung verur­teilt solche Trends, zeigt aber auch Verständ­nis: «Wenn wir Menschen etwas unbe­dingt wollen, setzt manch­mal unser Verstand aus.» Gegen­über den Züch­tern hat Jung ein ambi­va­len­tes Verhält­nis: «Viele sind nicht seri­ös und über­schwem­men den Markt. Meist stehen mone­tä­re Inter­es­sen im Vorder­grund und nicht die Tiere.» Marcel Jung hat schon vieles gese­hen und trotz­dem gehen ihm die Geschich­ten immer noch nahe: «Ich würde mir so sehr mehr Verant­wor­tung von den Menschen gegen­über den Tieren wünschen.»

Ein Teufels­kreis: Durch Filme und Social Media werden immer wieder Tier­ras­sen gehypt.

Bezie­hun­gen aufbauen

Der Rund­gang im Tier­heim neigt sich lang­sam dem Ende zu. In den Gängen des Vogel­hau­ses kommt uns Laris­sa Gribi entge­gen. Sie nimmt sich Zeit für Kaka­du Julio. Zu diesem hat sie ein ganz beson­de­res Verhält­nis. Stolz sitzt er auf Gribis Schul­ter, zeigt seine schö­ne Haube in voller Pracht und nagt genüss­lich an der Lese­bril­le seiner Pfle­ge­rin. Für die Tiere ist der Kontakt zu den Menschen wich­tig. «Aber es sind nicht alle so zutrau­lich wie er», sagt Laris­sa Gribi und bringt Julio zurück zu seinen Artge­nos­sen in die Volie­re. Draus­sen im Zwin­ger bellt derweil ein schö­ner schwar­zer Misch­ling. Er ist nervös und springt am Gitter hoch. Tier­pfle­ge­rin Jenny Nigg sperrt ihn für eini­ge Minu­ten in sein Zimmer ein. «Zur Beru­hi­gung», wie sie sagt. Er sei sich noch nicht an die verän­der­te Umge­bung gewohnt. Auch der Rüde hat kein einfa­ches Leben hinter sich. Die Poli­zei hatte den Hund vorbei­ge­bracht, mit der Aussa­ge, der Besit­zer werde ihn am kommen­den Tag abho­len. Das war vor mehre­ren Mona­ten. Zwischen­zeit­lich hat der Besit­zer ange­ru­fen, er könne sich nicht mehr um den Hund kümmern. Eine Verzichts­er­klä­rung unter­schrieb er nicht, der Hund verbleibt entspre­chend im Tier­heim. «Ich kann nicht verste­hen, wie man eine solche Tatsa­che wegschie­ben und solche Entschei­dun­gen tref­fen kann», sagt Marcel Jung. Und Jenny Nigg fügt hinzu: «Es ist schon trau­rig, was man alles sieht, und die Menschen und ihr Verhal­ten machen mich nach­denk­lich.» Es sind alles Schick­sa­le, die die Tier­pfle­ger betrof­fen machen. «Was würden wir denn machen, wenn es keine Tier­hei­me mehr gibt?», fragt Marcel Jung rheto­risch. Das Tier­heim Papageien- und Büsi­hof Mogels­berg ist unab­hän­gig und privat geführt. Um die Kosten zu decken, ist es auf Feri­en­gäs­te ange­wie­sen. «Wenn ich an die Sorgen und Proble­me denke, würde ich das alles nicht mehr machen. Aber es geht ums Tier. Und dafür würde ich das Risi­ko und die Heraus­for­de­run­gen immer wieder auf mich nehmen», sagt Jung, der sich für einen obli­ga­to­ri­schen Tier­schutz­fran­ken stark macht. «1 Fran­ken pro Jahr und Erwach­se­ner, das würde doch nieman­dem wehtun und würde den Tieren so viel brin­gen.» Jung ist sich sicher: «Dies würde auch die Frage nach der Verant­wor­tung gegen­über unse­ren Haus­tie­ren wieder mehr in den Fokus rücken.»

Marcel Jung star­te­te vor 20 Jahren mit einem Papageienhof.

Büsis brin­gen Geld

Ange­fan­gen hat alles vor genau 20 Jahren mit Papa­gei Pepi­to. Diesen hatte der gelern­te Plat­ten­le­ger unver­hofft geschenkt bekom­men. Nach und nach kamen weite­re – meist exoti­sche Vögel – in die Obhut von Marcel Jung. Die Volie­ren wurden mehr, das Geld weni­ger. Ein neuer Plan muss­te her, denn: «Mit Vögeln lassen sich keine Spen­den gene­rie­ren. Sie haben keinen Jöh-Effekt wie etwa Katzen», sagt Jung. So nahm er dann auch mit diesem Hinter­ge­dan­ken den ersten Fell­knäu­el bei sich auf – ein drei­bei­ni­ges, im Wald ausge­setz­tes Kätz­chen. Damit war der Start­schuss für das Tier­heim gelegt. Heute ist der Papageien- und Büsi­hof Mogels­berg gemäss Jungs Aussa­gen das einzi­ge Alters­heim für Papa­gei­en in der Schweiz und die einzi­ge Auffang­sta­ti­on, welche nicht züch­tet und handelt. Es ist mitt­ler­wei­le später Vormit­tag. Jenny Nigg war den ganzen Morgen damit beschäf­tigt, die Räume im Katzen­haus zu säubern und die Samt­pfo­ten zu verpfle­gen. Nun hat sie Pause. Diese verbringt sie mit ihrem eige­nen Vier­bei­ner. Auch Fusel fand über den Tier­schutz den Weg ins Tier­heim und schliess­lich zu seiner lieben­den neuen Besit­ze­rin. Und das drei­bei­ni­ge Kätz­chen? Es streift heute noch übers Areal und ist somit die ältes­te Mitbe­woh­ne­rin im Katzen­al­ters­heim, wo es umsorgt seinen Lebens­abend verbrin­gen darf.

Text: Ales­sia Pagani

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 23.08.2024

«Viele Betroffene ermutigt»

Vor rund einem Jahr ist die schweiz­wei­te Pilot­stu­die zur Aufar­bei­tung der ­Miss­bräu­che im kirch­li­chen Umfeld erschie­nen. Der Schock über die Ergeb­nis­se ist bis heute gross, Rufe nach Mass­nah­men wurden laut. Was ist der aktu­el­le Stand?

«Seit Septem­ber 2023 hat sich eini­ges getan», hält Vreni Pete­rer aus Schlatt AI fest. Sie ist Präsi­den­tin der IG‑M!kU, einer Gemein­schaft von Miss­brauchs­be­trof­fe­nen im kirch­li­chen Umfeld, und selbst Betrof­fe­ne. Nach­dem am 12. Septem­ber 2023 die Vorstu­die der Univer­si­tät Zürich präsen­tiert wurde, hat Vreni Pete­rer in zahl­rei­chen Inter­views Betrof­fe­nen eine öffent­li­che Stim­me gege­ben. In den vergan­ge­nen zwölf Mona­ten hat sie auch an vielen Sitzun­gen und Gesprä­chen mit den verschie­dens­ten kirch­li­chen Gremi­en teil­ge­nom­men. «Einer­seits gibt es Betrof­fe­ne, die davon berich­ten, dass sie nun endlich ernst genom­men werden und ihnen zuge­hört wird. Ande­re erle­ben, dass sie nach wie vor für ihr Recht kämp­fen müssen. Ich kenne Betrof­fe­ne, die sogar einen Juris­ten einschal­ten muss­ten.» Die Katho­li­sche Kirche hat verschie­de­ne Mass­nah­men beschlos­sen, um Miss­brauch aufzu­de­cken und zu verhin­dern. «Es ist ein Prozess der klei­nen Schrit­te», sagt Vreni Pete­rer und fügt hinzu: «Wir sind noch lange nicht am Ziel.» Als posi­ti­ve Entwick­lung nennt sie, dass nun auch dem spiri­tu­el­len Miss­brauch die nöti­ge Beach­tung geschenkt wird. «Nicht immer handelt es sich bei Über­grif­fen um sexu­el­le Gewalt, das wuss­ten viele bisher nicht. Auch Macht­miss­brauch oder Mani­pu­la­ti­on sind Formen von Über­grif­fen, die verhee­ren­de Folgen im Leben Betrof­fe­ner haben können.»

Am 13. Septem­ber 2023 stell­ten sich Bischof Markus Büchel und Vreni Pete­rer in St. Gallen den Fragen der Medi­en zu sexu­el­len Über­grif­fen im Bistum St. Gallen und den Mass­nah­men, die künf­tig psychi­sche und physi­sche Grenz­ver­let­zun­gen verhin­dern sollen.

Mass­nah­men umsetzen

Die Mass­nah­men rich­tig umzu­set­zen, sei ein anspruchs­vol­les Unter­fan­gen, sagte der Churer Bischof Joseph Bonn­emain bei einer Medi­en­kon­fe­renz am 27. Mai. Eine der Mass­nah­men ist die Tren­nung der Bera­tung von Betrof­fe­nen und Melde­struk­tu­ren. Betrof­fe­ne sollen künf­tig an kanto­na­le Opfer­hil­fe­stel­len verwie­sen werden. Vreni Pete­rer: «Diese Stel­len sind etabliert, deshalb macht das auch Sinn und es ist auch schon Reali­tät, dass Betrof­fe­ne dort­hin verwie­sen werden.» Derzeit sind die Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz (SBK), die kath. Kanto­nal­kir­chen (RKZ) und die kath. Ordens­ge­mein­schaf­ten (Kovos) im Gespräch mit diesen Stel­len, um sich am Mehr­auf­wand finan­zi­ell zu betei­li­gen. Eben­so werden kirch­li­che Informations- und Koor­di­na­ti­ons­stel­len als Support für die Opfer­be­ra­tung geschaf­fen. Und es gibt eine Weiter­ent­wick­lung der kirchen­in­ter­nen Melde- und Fall­be­ar­bei­tungs­struk­tu­ren. Ziel ist es, im Janu­ar 2025 eine unab­hän­gi­ge Melde­stel­le zu haben. «Natür­lich wünsch­te ich mir, dass solche Mass­nah­men möglichst schnell konkret umge­setzt werden», räumt Vreni Pete­rer ein. Ihr sei in den vergan­ge­nen Mona­ten jedoch bewusst gewor­den: Damit die Mass­nah­men künf­tig wirk­lich gut funk­tio­nie­ren, soll nicht über­stürzt gehan­delt werden. «Aber viele Betrof­fe­ne haben sich nach dem 12. Septem­ber 2023 gemel­det. Sie benö­ti­gen jetzt offe­ne Ohren und Unter­stüt­zung. Aktu­ell kann dies nicht immer opti­mal gebo­ten werden.» Die Zeit dränge.

Erfah­re­nes aufschreiben

Seit Septem­ber 2023 berich­ten die Medi­en regel­mäs­sig über die Aufar­bei­tung der Miss­bräu­che im kirch­li­chen Umfeld. Dies ist laut Vreni Pete­rer nicht ohne Wirkung geblie­ben: «Das Thema ist in der Öffent­lich­keit. Dies hat viele Betrof­fe­ne ermu­tigt, zum ersten Mal über das erfah­re­ne Leid zu spre­chen oder sich zu melden.» Bei der IG‑M!kU haben sich über fünf­zig Betrof­fe­ne gemel­det. Vreni Pete­rer erzählt auch von Nach­rich­ten, die sie auf Insta­gram bekom­men hat. «Es war diesen Betrof­fe­nen ein Anlie­gen, das Erfah­re­ne aufschrei­ben zu können», sagt sie. «Wir hoffen, dass sich noch mehr Betrof­fe­ne melden. Jede Geschich­te trägt dazu dabei, das Gesche­he­ne aufzu­ar­bei­ten.» Die IG‑M!kU will auch mit Info­aben­den in der ganzen Deutsch­schweiz einen Beitrag zur Aufar­bei­tung leis­ten und gleich­zei­tig Betrof­fe­ne ermu­ti­gen. Der erste Abend wird am 1. Okto­ber in Chur statt­fin­den und gleich­zei­tig online via Zoom übertragen.

«Es ist ein Prozess der klei­nen Schrit­te», sagt Vreni Pete­rer knapp ein Jahr nach Präsen­ta­ti­on der Pilot-Studie und fügt hinzu: «Wir sind noch lange nicht am Ziel.» (Archiv­bild Septem­ber 2023)

Psycho­lo­gi­sches Assessment

Die SBK, RKZ und Kovos haben weite­re Mass­nah­men beschlos­sen: Künf­tig sollen alle Seel­sor­gen­den vor dem Einstieg in eine kirch­li­che Tätig­keit ein psycho­lo­gi­sches Assess­ment durch­lau­fen. Dies soll auffäl­li­ge Persön­lich­keits­struk­tu­ren aufzei­gen. Für die Umset­zung dieser Mass­nah­me hat sich die Kirche Unter­stüt­zung bei Rund­stedt, einem dafür spezia­li­sier­ten Unter­neh­men, geholt. Eine drit­te Mass­nah­me umfasst die Stan­dards für Perso­nal­dos­siers und Infor­ma­ti­ons­aus­tausch. Täter zu verset­zen, war in der Vergan­gen­heit möglich, da zu wenig Austausch statt­ge­fun­den hat. Derzeit werden Stan­dards entwi­ckelt für die Führung der Personaldossiers.

Text: Stephan Sigg

Bild: Regi­na Kühne (Archiv, 13. Septem­ber 2023)

Veröf­fent­licht: 16.08.2024

«Leider herrscht sehr viel Unwissenheit»

Der Israel-Palästina-Konflikt beschäf­tigt. Dies zeigen nicht zuletzt die gestie­ge­nen Besu­cher­zah­len im Jüdi­schen Muse­um Hohen­ems. Muse­ums­di­rek­tor Hanno Loewy und sein Team ­versu­chen, mit Wissens­ver­mitt­lung ihren Beitrag gegen Anti­se­mi­tis­mus zu leisten.

«Wir waren vorbe­rei­tet – sofern man auf so etwas über­haupt vorbe­rei­tet sein kann», sagt Hanno Loewy. Der 63-Jährige spricht mit ruhi­ger und beson­ne­ner Stim­me. Loewy muss seine Antwor­ten nicht abwä­gen. Es sind Antwor­ten, die er schon zigmal gege­ben hat. Aber es sind auch Antwor­ten auf Fragen, auf die es eigent­lich keine oder sicher­lich keine einfa­chen Antwor­ten gibt: Fragen zum Israel-Palästina-Konflikt, der am 7. Okto­ber mit dem Über­fall der Hamas auf Isra­el auf furcht­ba­re Weise eska­liert ist und die bis heute dauern­de mili­tä­ri­sche Offen­si­ve Isra­els im Gaza­strei­fen zur Folge hatte. Vom Konflikt ist Hanno Loewy direkt betrof­fen. Er ist seit 2004 leiten­der Direk­tor des Jüdi­schen Muse­ums Hohen­ems und war von 2011 bis 2017 Präsi­dent der Asso­cia­ti­on of Euro­pean Jewish Muse­ums. Loewy ist über­zeugt: Das Muse­um Hohen­ems kann durch Wissens­ver­mitt­lung seinen Beitrag gegen den gestie­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus und ande­re radi­ka­le Reak­tio­nen auf den Konflikt leis­ten. «Leider herrscht sehr viel Unwis­sen­heit in diesem Bereich. Wir versu­chen, mit unse­ren Ausstel­lun­gen einen unge­wohn­ten und viel­leicht uner­war­te­ten Blick auf die jüdi­sche Geschich­te zu werfen.» Mit «guter Vorbe­rei­tung» meint er die aktu­el­le Ausstel­lung «A Place of Our Own. Vier junge Paläs­ti­nen­se­rin­nen in Tel Aviv», die noch bis Ende August zu sehen ist. Eine Ausstel­lung, die die paläs­ti­nen­si­sche Minder­heit Isra­els ins Zentrum stellt.

Unter­schied­li­che Konflikte

Das Muse­um Hohen­ems macht seit seiner Eröff­nung im Jahr 1990 mit Ausstel­lun­gen und nieder­schwel­li­gen Projek­ten jüdi­sche Geschich­te und Gegen­wart, und auch die wider­sprüch­li­che Reali­tät Isra­els und Paläs­ti­nas, greif­bar. Und dies ist nicht ganz einfach. Jüdi­sche Geschich­te ist viel­fäl­tig. «Es gab immer wieder frucht­ba­re Koexis­ten­zen. Und es gab Unter­drü­ckung und Migra­tion», sagt Loewy. 

Im Jüdi­schen Muse­um Hohen­ems möch­te Hanno Loewy die jüdi­sche Geschich­te und Gegen­wart, und auch die wider­sprüch­li­che Reali­tät Isra­els und Paläs­ti­nas, greif­bar machen.

Heute ist das Land Isra­el gespal­ten. Loewy spricht von vier unter­schied­li­chen Konflik­ten in und um Isra­el: Einer­seits dem Konflikt zwischen Isra­el und seinen arabi­schen Nach­barn, zwei­tens dem Konflikt um die Besat­zung, drit­tens dem Konflikt um Gleich­be­rech­ti­gung oder Diskri­mi­nie­rung der israe­li­schen Paläs­ti­nen­ser und schliess­lich dem inner­jü­di­schen Konflikt, ob Isra­el ein säku­la­rer oder reli­gi­ös domi­nier­ter Staat sein soll. «Inzwi­schen fragen sich viele kriti­sche Israe­lis, ob Isra­el die besetz­ten Gebie­te nun annek­tie­ren wird  oder ob umge­kehrt die Sied­ler in den besetz­ten Gebie­ten Isra­el beherr­schen. Diese Konflik­te können nur gemein­sam und von den Menschen vor Ort gelöst werden», sagt Loewy.

Inte­grie­ren, nicht ausgrenzen

Von der viel­fäl­ti­gen Geschich­te Isra­els zeugt auch die heuti­ge Bevöl­ke­rung. 1948, nach dem Rück­zug der Briten aus dem Mandats­ge­biet, gegrün­det, leben heute rund 1,8 Millio­nen Paläs­ti­nen­se­rin­nen und Paläs­ti­nen­ser im klei­nen Staat zwischen Mittel­meer und Jordan. Dies macht rund 20 Prozent der Bevöl­ke­rung Isra­els aus. Eben­falls rund 20 Prozent gehö­ren dem musli­mi­schen Glau­ben an. «Dies sind weder Zuge­wan­der­te noch Frem­de», sagt Hanno Loewy. Ein Umstand, der oft verges­sen werde. «Isra­el wird diese Menschen als inte­gra­len Teil der Gesell­schaft begrei­fen müssen, nicht als ausge­grenz­te Minder­heit.» Genau hier setzt das Muse­um an. Auch die kommen­de Ausstel­lung wird diese pola­ren Iden­ti­täts­po­li­ti­ken infra­ge stel­len. Sie handelt von der Erin­ne­rung und Gegen­wart arabisch-jüdischer Lebens­wel­ten aus der Perspek­ti­ve von sieben Künst­le­rin­nen und ihrem arabisch-jüdischen Hinter­grund. «Wir wollen Menschen zeigen, die im Konflikt zwischen den Stüh­len sitzen und an die die wenigs­ten denken.»

Gros­ses Interesse

Die Situa­ti­on rund um den Gaza­krieg und den auch in der Schweiz gestie­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus macht nicht nur Hanno Loewy betrof­fen. Dies zeigt sich auch an den Besu­cher­zah­len im Jüdi­schen Muse­um Hohen­ems. Das Inter­es­se ist gross. Mit mehr als 20 000 Eintrit­ten verzeich­ne­te das Muse­um im vergan­ge­nen Jahr die höchs­te Zahl seit Eröff­nung. «Wir wurden gera­de­zu über­rannt», sagt der Muse­ums­di­rek­tor. Noch steht vor ihm eini­ges an Arbeit. Die Wissens­ver­mitt­lung ist noch längst nicht been­det. Ein Projekt beschäf­tigt die Muse­ums­ver­ant­wort­li­chen seit eini­ger Zeit – und steht nun kurz vor dem Start. Gemein­sam mit dem Kanton St. Gallen plant das Jüdi­sche Muse­um Hohen­ems in Diepold­sau ein Vermitt­lungs­zen­trum zum Thema Flucht und Gren­ze in den Jahren 1938–1945.

Veröf­fent­li­chung: 9. August 2024
Text: Ales­sia Paga­ni
Bilder: Ana Kontoulis

Wenn nicht der Tod sie scheidet

Nach einer Tren­nung wieder neuen Lebens­mut finden? Das ist schwie­rig, aber möglich, wenn man die vier Phasen der Tren­nung bewusst durch­wan­dert. Hilfe bietet das kirch­li­che Semi­nar «Trennung/Scheidung». Das Pfar­rei­fo­rum war am Abschluss­abend in Sargans dabei.

Das Semi­nar ist vorbei. Quint­essenz: Alle haben Kraft­quel­len gefun­den, neue Schrit­te gewagt und neuen Mut gefasst. Auch der Kontakt unter­ein­an­der hat sie berei­chert und gestärkt. Kein Wunder, immer­hin haben alle das glei­che Schick­sal erlit­ten, wenn auch in unter­schied­li­cher Prägung. Während bei B. die psychi­sche Erkran­kung der Part­ne­rin verbun­den mit einer Sucht­pro­ble­ma­tik zur Tren­nung führ­te, hat dies bei den ande­ren ande­re Grün­de. Matthi­as Koller Filli­ger, einer der beiden Semi­nar­lei­ter, legt am Boden noch­mals die vier Trau­er­pha­sen aus. In der Betrach­tung machen sich die Teil­neh­men­den bereits Gedan­ken, in welcher Phase sie jetzt stecken. Bei R. ist immer noch viel Wut mit im Spiel. «Das ist doch feige, dass er das Tele­fo­nat nicht entge­gen­nimmt, wenn ich anru­fe», sagt sie. A. hatte zwar ein gutes Tele­fo­nat mit ihrem ehema­li­gen Schwie­ger­va­ter, möch­te aber derzeit lieber keinen Kontakt mehr mit ihm. Nach­dem sie mehr­mals dessen Anru­fe nicht entge­gen­ge­nom­men hatte, wurde vorwurfs­voll nach den Grün­den gefragt. «Muss ich mir denn Dinge über meinen Ex anhö­ren, die ich gar nicht wissen möch­te?», fragt sie rheto­risch. Verge­bung – auch sich selbst zu verge­ben, das ist ein Prozess der Zeit braucht. «Die Lösung liegt in euch selbst», gibt Matthi­as Koller Filli­ger allen mit auf den Weg, nach­dem er ihre eige­nen Worte zitiert hat.

Matthi­as Koller Filli­ger legt die vier Phasen der Tren­nung offen. Nach der Phase des «Nicht-Wahrhaben-Wollens» und der Tren­nung folgt die Phase der aufbre­chen­den Gefühle. 

Nie leicht­fer­tig

Zu einer gelin­gen­den Bezie­hung gehö­ren immer zwei. Wenn sich – für Aussen­ste­hen­de über­ra­schend – ein lang­jäh­ri­ges Paar trennt, wird oft mit Unver­ständ­nis, Vorver­ur­tei­lung, Mitleid oder hilf­lo­sen Trost­ver­su­chen reagiert. Dies alles bringt Betrof­fe­ne nicht weiter. Leicht­fer­tig tren­nen sich lang­jäh­ri­ge Paare nie. Es steckt immer eine Leidens­ge­schich­te dahin­ter. Diese sorgt letzt­lich für Verlet­zun­gen bei allen Betei­lig­ten. Freund­schaf­ten bröckeln weg. Die Ange­hö­ri­gen müssen sich mit der Situa­ti­on arran­gie­ren. Die Erwerbs­ar­beit muss allen­falls aufge­stockt werden und manch­mal entgleist die finan­zi­el­le Situa­ti­on trotz­dem. Das alles zehrt an den Nerven und frisst Ener­gie. Da sind Gott­ver­trau­en und Kontak­te zu verständ­nis­vol­len Menschen in ähnli­cher Situa­ti­on eben­so hilf­reich wie profes­sio­nel­le Hilfe. Das Semi­nar «Trennung/Scheidung» kann der erste Schritt in eine neue selbst­be­wuss­te und eigen­stän­di­ge Rich­tung sein. Es sorgt für Klar­heit und Perspektiven.

Matthi­as Koller Filli­ger (Bild) und Sonja Kroiss haben die Teil­neh­men­den auf ihrem Weg begleitet.

Alle vier Phasen durchleben

Das Trennungs-/Scheidungsseminar gibt es seit eini­gen Jahren nicht nur im Sargan­ser­land. Gelei­tet wird es durch den Theo­lo­gen und Erwach­se­nen­bild­ner Matthi­as Koller Filli­ger von der Fach­stel­le PEF Partnerschaft-Ehe-Familie des Bistums St. Gallen in Zusam­men­ar­beit mit der Katho­li­schen Kirche in der Regi­on Sarganserland-Werdenberg. Als Kontakt­per­son vor Ort beglei­te­te die Seel­sor­ge­rin und Wangs­er Theo­lo­gin Sonja Kroiss die Grup­pen. Auch an ande­ren Orten im Bistum ist der Ablauf so wie in Sargans. Nach einem Einstiegs­abend mit Vorstel­lungs­run­de und Stand­ort­be­stim­mung folgt das Tages­se­mi­nar, in welchem die Betrof­fe­nen dank fach­li­cher Hilfe­stel­lung Perspek­ti­ven für ihr Leben ohne Part­ner oder Part­ne­rin entwi­ckeln können. Dazu legt Matthi­as Koller Filli­ger die vier Phasen der Tren­nung offen. Nach der Phase des «Nicht-Wahrhaben-Wollens» und der Tren­nung folgt die Phase der aufbre­chen­den Gefüh­le. Sie ist allen­falls geprägt von Wut oder Hass auf den oder die Ex. Zugleich kommen Selbst­zwei­fel und Minder­wer­tig­keits­ge­füh­le auf. Einsam­keit und Trau­er machen sich breit. Die Phase der Neuori­en­tie­rung bringt Hoff­nung. Man nimmt das Leben wieder aktiv in die Hand und das Selbst­wert­ge­fühl gesun­det lang­sam. Mit der letz­ten Phase kann ein neues Lebens­kon­zept wach­sen, die eige­nen Stär­ken kommen wieder zum Vorschein. Eine Abkür­zung gibt es auf diesem teils jahre­lan­gen Weg nicht, wohl aber Umwe­ge und Rück­fäl­le. Heute, ein halbes Jahr nach dem Tages­se­mi­nar, sagt B.: «Ich wäre gern ganz normal mit ihr befreun­det.» Doch aus seinen Worten wird auch klar: Bis dahin scheint es noch ein langer Weg zu sein. Ende offen.

Text und Bild: Kath­rin Wetzig

Veröf­fent­licht: 2. August 2024

Semi­nar Trennung/ Schei­dung in ­St. Gallen

Das nächs­te Mal wird das Semi­nar in St. Gallen ange­bo­ten am 4. Novem­ber 2024, 18.30 bis 21 Uhr, 16. Novem­ber 2024, 9 bis 18 Uhr, Mai 2025 Nach­tref­fen, Leitung: Urszu­la Pfis­ter, Seel­sor­ge­rin, Heilig­kreuz St. Gallen, und Matthi­as Koller Filli­ger, Fach­stel­le PEF, Ort: DAJU, Weber­gas­se 15, St. Gallen. Die Anzahl Teil­neh­men­de ist beschränkt, Anmel­dung bis 28. Okto­ber: Urszu­la Pfis­ter, Fede­r­erstr. 12, 9008 St. Gallen, Tel. 071 224 07 34, urszula.pfister@kathsg.ch. Teil­nah­me­bei­trag: Fr. 50.– pro Teil­neh­mer (inkl. Mittag­essen am Sams­tag). Bei finan­zi­el­len Fragen bitte an Urszu­la Pfis­ter wenden. Es sind nur Einzel­an­mel­dun­gen möglich, keine getrenn­ten Paare.

Mit Visionen eine Diskussion anregen

Eine Ausstel­lung im Seifen­mu­se­um St. Gallen beschäf­tig­te sich kürz­lich mit der Zukunft des ÖV in St. Gallen und wirft die Frage nach einem Gratis-Konzept in den Raum. Noch ist es eine Utopie. Dass aus einer Visio­nen aber Reali­tät werden kann, zeigen verschie­de­ne Beispiele.

Wir alle haben Visio­nen und Träu­me. Sie halten uns bei der Stan­ge und helfen uns, unse­re Ziele zu verfol­gen. Der erfolg­rei­che deut­sche Fuss­ball­tor­hü­ter Oliver Kahn sagte einst über die Visi­on, die seine Karrie­re begrün­de­te: „Meine Visi­on, und sie stand schon sehr früh für mich fest, war folgen­de: Ich woll­te der beste Torhü­ter der Welt werden.“ Kahns Biogra­fie zeigt: Aus einer Visi­on kann Reali­tät werden. Davon zeugen seine drei Titel als Welt­tor­hü­ter des Jahres. Wer Visio­nen hat, arbei­tet darauf hin und kann diese mit der nöti­gen Stra­te­gie viel­fach auch errei­chen. Kürz­lich hat sich eine Ausstel­lung im Seifen­mu­se­um St. Gallen mit dem Thema Visio­nen ausein­an­der­ge­setzt. Genau­er mit der Visi­on eines Gratis-ÖV in St. Gallen.

Zahl­rei­che Besu­che­rin­nen und Besu­cher fanden den Weg ins Seifen­mu­se­um St. Gallen.

Unter­schied­li­che Vorstellungen

An der Ausstel­lung der Juso St. Gallen haben fünf Künst­le­rin­nen und Künst­ler teil­ge­nom­men. Diese haben sich der Frage ange­nom­men, wie ein St. Gallen mit kosten­lo­sem ÖV ausse­hen würde und welche Auswir­kun­gen ein solches auf die Bevöl­ke­rung hat. Die Werke könn­ten unter­schied­li­cher nicht sein: Eini­ge zeigen einfa­che Lini­en oder geben Kurz­sät­ze wieder, ande­re sind kompak­ter und farben­froh. Dies zeigt: Nicht nur unse­re Visio­nen unter­schei­den sich, sondern auch unse­re Vorstel­lun­gen und Blick­win­kel auf Dinge. Wir alle setzen unse­re eige­nen Schwer­punk­te und wir ordnen anders ein. Der St.Galler Künst­ler Beni Bischof bringt das in einem seiner gezeig­ten Werke gut zum Ausdruck.

Beni Bischof weiss: Unse­re Vorstel­lun­gen klaf­fen manch­mal stark auseinander.

Maj Lisa Dörig setzt in ihren Werken das Augen­merk auf ihre persön­li­chen Busfahr­ten und verwebt in den klein­tei­li­gen Zeich­nun­gen Wirk­lich­keit und Traum miteinander.

„Der ÖV lässt nieman­den kalt“

Künst­le­rin Kata­lin Deér drückt ihre Gedan­ken mit einem Farb­fo­to aus. Es zeigt eine Stras­sen­sze­ne in Neapel im Jahr 2006. Zwei kurz nach­ein­an­der aufge­nom­me­ne Bilder — ein Gewu­sel an Menschen, Vespas und Autos. Kurz: Ein Durcheinander.

Kata­lin Deérs Farb­fo­tos zeigt eine Stras­sen­sze­ne in Neapel im Jahr 2006.

Anna Harb zeigt uns ihren Blick aus dem Zugfens­ter auf Mogels­berg und Linus Lutz hat für die Ausstel­lung ein Bus-Mobile gefer­tigt. „Es ist für uns sehr inter­es­sant zu sehen, dass alle Künst­le­rin­nen und Künst­ler einen ande­ren Zugang zum Thema Gratis-ÖV haben“, sagt Muse­ums­di­rek­tor Vasco Hebel. 

Anna Harb zeigt uns ihren Blick aus dem Zugfenster.

Dass er für die Ausstel­lung in Rekord­zeit namhaf­te Künst­le­rin­nen und Künst­ler mobi­li­sie­ren konn­te, freut ihn. „Das Thema ÖV lässt nieman­den kalt. Alle haben eine Meinung und alle haben einen Berührungspunkt.“

Raum für Diskus­sio­nen schaffen

Das Seifen­mu­se­um hat zum ersten Mal eine Kunst­aus­stel­lung orga­ni­siert. Vasco Hebel erklärt: „Als Muse­um sehen wir unse­re Aufga­be auch darin, Räume zu schaf­fen, in denen Diskus­sio­nen statt­fin­den. Wir wollen im Seifen­mu­se­um den Meinungs­aus­tausch möglich machen.“ Für den 21-Jährigen ist klar: Künf­tig soll es mehr Ausstel­lun­gen und Anläs­se dieser Art im Seifen­mu­se­um geben. Das Muse­um soll auch Möglich­keit bieten, um über Ideen, Visio­nen oder Proble­me in ganz verschie­de­nen Berei­chen zu disku­tie­ren und so einen neuen Zugang zu gesell­schaft­li­chen oder poli­ti­schen Themen zu erlangen. 

An der Vernis­sa­ge lausch­ten über 50 Perso­nen einem Podi­ums­ge­spräch über die Chan­cen und Heraus­for­de­run­gen eines Gratis-ÖV.

Die Ausstel­lung sei, auch im Hinblick auf die Besu­cher­zah­len, ein Erfolg gewe­sen, so Vasco Hebel. Dass an der Vernis­sa­ge über 50 Perso­nen anwe­send waren und über die Chan­cen und Heraus­for­de­run­gen eines Gratis-ÖV disku­tiert haben, freut ihn beson­ders. „Es gibt kein rich­tig oder falsch. Es geht darum, den Diskurs brei­ter und für alle zugäng­lich zu machen.“

Verstoss gegen über­ge­ord­ne­tes Recht

Und wie sieht es nun mit dem Gratis-ÖV aus? Die Juso St. Gallen spre­chen noch von „einer Utopie für ein St. Gallen der Zukunft“. 

Linus Lutz fertig­te für die Ausstel­lung ein Bus-Mobile.

Sie wissen: Die recht­li­chen Hürden für die Umset­zung von Gratis-Bus und ‑Bahn sind in der Schweiz nicht gege­ben. Der Grund: Ein Gratis-ÖV würde gegen die Schwei­zer Verfas­sung verstos­sen. Dort steht, dass die Kosten des öffent­li­chen Verkehrs zu einem ange­mes­se­nen Teil von den Nutze­rin­nen und Nutzern über­nom­men werden müssen. Dennoch fordert die Juso St. Gallen Mobi­li­tät für alle Menschen als Grund­recht. In der Ausstel­lung zeigt sie auch mögli­che Wege dahin, unter ande­rem die Finan­zie­rung durch höhe­re Steu­ern auf hohe Einkom­men und Vermö­gen oder die Umnut­zung von Flächen, die heute den Autos gehö­ren, hin zu Frei­räu­men für alle Menschen.

Die Visi­on eines Gratis-ÖV soll zur Diskus­si­on anregen. 

Dass das System eines Gratis-ÖV umsetz­bar ist und funk­tio­nie­ren kann, zeigt das Ausland. Wer etwa in der fran­zö­si­schen Gross­stadt Mont­pel­lier lebt, fährt seit Dezem­ber 2023 gratis mit dem Öffent­li­chen Verkehr. Wie der Tages-Anzeiger schreibt, hat die ÖV-Nutzung seit­her um gut einen Vier­tel zuge­nom­men. Finan­ziert wird das Projekt durch zusätz­li­che Einnah­men aus der Mobi­li­täts­steu­er für Firmen. In Tallinn, der Haupt­stadt von Estland, können Bürge­rin­nen und Bürger bereits seit 2013 kosten­los den öffent­li­chen Nahver­kehr nutzen. Mitt­ler­wei­le kennen verschie­de­ne euro­päi­sche Städ­te das System. Aber auch Staa­ten haben bereits landes­weit flächen­de­ckend den Gratis-ÖV einge­führt. 2020 war Luxem­burg das erste Land der Welt, das den gesam­ten öffent­li­chen Verkehr kosten­frei mach­te. 2022 folg­te Malta. Im klei­nen Insel­staat fahren die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner kosten­los Bus. Ob die Hürden für einen Gratis-ÖV auch in der Schweiz dereinst abge­baut werden können und ein solcher in St. Gallen n wird, steht in den Ster­nen. Noch ist es eine Vision.

Beni Bischof
Beni Bischof ist in Widnau im St.Galler Rhein­tal aufge­wach­sen. Nach dem Vorkurs an der Hoch­schu­le für Gestal­tung in Zürich folg­te 2004 der Abschuss der Grafik­fach­klas­se an der Schu­le für Gestal­tung in St. Gallen. Beni Bischof hat zahl­rei­che Stipen­di­en erhal­ten und Prei­se gewon­nen, unter ande­rem drei Mal einen Werk­bei­trag des Kantons St. Gallen sowie zwei Mal den Eidge­nös­si­schen Preis für Kunst.

Anna Harb
Anna Harb ist Psychologie-Studentin an der Univer­si­tät Zürich und arbei­tet neben­bei an der Uni im Insti­tut für Rechts­me­di­zin. Ihre gros­se Leiden­schaft ist das Zeich­nen. Seit ihrer Schul­zeit an der Kantons­schu­le am Burg­gra­ben in St. Gallen liegt ihr Fokus auf anime- und comic­ar­ti­gen Charak­te­ren. Anna Harb inter­es­sie­ren an Kunst­wer­ken vor allem die Geschich­te und die Ideen hinter dem Werk und sie analy­siert gerne deren Farben und Ästhe­tik. Dadurch bekommt sie immer wieder Inspi­ra­tio­nen für die eige­nen Werke.

Maj Lisa Dörig
Maj Lisa Dörig hat in Luzern Illus­tra­ti­on studiert und ist momen­tan an der Royal Drawing School in London. In ihren Bildern verwe­ben sich Reali­tät und Traum zu einem Ganzen. Für Maj Lisa Dörig ist Zeich­nen ein Dialog zwischen Zeich­nungs­stift und Gedan­ken, und eine Metho­de, um in das komple­xe Gewe­be der Welt einzu­tau­chen.

Kata­lin Deér
Kata­lin Deér ist in Palo Alto in den USA gebo­ren und lebt und arbei­tet seit 2004 in St. Gallen. Ihre Werke werden regel­mäs­sig an Ausstel­lun­gen im In- und Ausland gezeigt. 2007 erhielt Kata­lin Deér einen Werk­bei­trag der Stadt St. Gallen, 2012 einen Werk­bei­trag des Kantons St. Gallen und 2013 einen Förder­preis der Stadt St. Gallen.

Linus Lutz
Linus Lutz unter­sucht in seiner Praxis handels­üb­li­che sowie indus­tri­el­le Rohstof­fe unter­schied­li­cher Herkunft und setzt diese neu zusam­men. Er stellt sie in skulp­tu­ra­ler sowie instal­la­ti­ver Form gegen­über und macht sie so sicht­bar. Mit dem GAFFA Kollek­tiv St. Gallen hat Linus Lutz 2019 und 2022 einen Werk­bei­trag der Stadt St. Gallen erhalten.

Text: Ales­sia Paga­ni
Bilder: zVg.
Veröf­fent­li­chung: 18. Juli 2024

Kinder- und Jugendhilfe stellt Buch vor

Pfle­ge­kin­der hatten schon immer ein schwe­res Los und erle­ben bis heute Belas­ten­des, weiss Chris­toph Wick, Geschäfts­lei­ter der Kinder- und Jugend­hil­fe St. Gallen – ein Sozi­al­werk des Bistums St. Gallen. Er half mit, für das Buch «Auf-gefangen» die Geschich­te der Insti­tu­ti­on aufzu­ar­bei­ten. Am 22. August wird das Buch in St.Gallen vorgestellt.

Das kürz­lich erschie­ne­ne Buch beleuch­tet die Entwick­lung vom Sera­phi­schen Liebes­werk zur Kinder- und Jugend­hil­fe (KJH) St. Gallen. Der Geschäfts­lei­ter und Sozi­al­ar­bei­ter Chris­toph Wick (63) erklärt, dass die histo­ri­sche Aufar­bei­tung schon länger ein Thema gewe­sen sei: «Wir sind schon seit über 50 Jahren an der Fron­gar­ten­stras­se und im Estrich unter­hiel­ten wir ein Archiv mit jahrzehnte-alten Dossiers. Dazu kamen die öffent­li­chen Diskus­sio­nen über Verding­kin­der. Wir woll­ten die eige­ne Geschich­te kennen und dabei auch die Schat­ten­sei­ten beleuch­ten.» Der Vorstand des Vereins KJH hat deshalb zwei Histo­ri­ke­rin­nen und einen Histo­ri­ker beauf­tragt, anhand von Archiv­ma­te­ri­al sowie Gesprä­chen mit Betrof­fe­nen die Entwick­lung dieser Orga­ni­sa­ti­on, die 1891 von Pries­ter Johann Josef Eber­le gegrün­det wurde, zu doku­men­tie­ren. Nun ist daraus ein Buch für die Öffent­lich­keit entstan­den, das Einbli­cke in die Lebens­um­stän­de von Kindern und Fami­li­en gibt. Bei der Aufar­bei­tung wurden die Einzel­schick­sa­le in den Kontext der Sozial- und Kirchen­ge­schich­te gestellt. Dabei werden aus heuti­ger Sicht proble­ma­ti­sche Seiten in der Betreu­ung von Kindern und Jugend­li­chen, insbe­son­de­re die Fremd­plat­zie­run­gen, thematisiert.

Margi­na­le Überprüfung

Wick war als Beirat bei der Erar­bei­tung dieses Buches betei­ligt. Aufgrund seiner 20-jährigen Erfah­rung hatte er schon Einbli­cke in die Dossiers und kann­te die Geschich­te vieler Einzel­schick­sa­le. «Durch diese Arbeit wurde mir erneut vor Augen geführt, wie viele Kinder damals in Pfle­ge­fa­mi­li­en vermit­telt wurden. Zwischen 1948 und 1980 betraf es rund 100 Kinder pro Jahr, heute sind es jähr­lich durch­schnitt­lich fünf.»  Ein Teil der Kinder sei unter sehr schwie­ri­gen Bedin­gun­gen aufge­wach­sen; ande­re wieder­um hätten sich in der Pfle­ge­fa­mi­lie wohl und aufge­ho­ben gefühlt. Die Kinder hatten kaum Kontak­te zu den Eltern oder Vertrau­ens­per­so­nen. Die Über­prü­fung der Pfle­ge­fa­mi­li­en war margi­nal, erklärt er. Mit der Neuaus­rich­tung in den 1980er-Jahren verän­der­te sich nicht nur der Name und das Erschei­nungs­bild des Kinder­hilfs­wer­kes, die Orga­ni­sa­ti­on erhielt auch neue Struk­tu­ren. Heute ist die KJH eine konfes­sio­nell neutra­le und profes­sio­nel­le Anlauf­stel­le für Fami­li­en. Recht­lich als Verein orga­ni­siert, ist die KJH ein Sozi­al­werk des Bistums St. Gallen.

Der schwe­re Ruck­sack bleibt

«Für Pfle­ge­kin­der haben sich die gesetz­li­chen, fach­li­chen und sozia­len Rahmen­be­din­gun­gen inso­fern verbes­sert, dass sich mehre­re Fach­leu­te engma­schig um sie, ihre Eltern und Pfle­ge­fa­mi­li­en kümmern. Früher hatte oftmals nur eine Person über das Schick­sal der betrof­fe­nen Kinder entschie­den. Nicht selten wuss­ten die Kinder nicht, weshalb sie nicht bei ihren Eltern aufwach­sen konn­ten. Manche litten auch, da sie sich gegen­über leib­li­chen Kindern der Pfle­ge­el­tern diskri­mi­niert fühl­ten», sagt Wick. Auch heute seien Pfle­ge­kin­der belas­tet. Der Umstand, dass sie nicht bei den eige­nen Eltern aufwach­sen, sei für Kinder eine gros­se Heraus­for­de­rung. Sie kämen nicht darum herum, sich mit ihrem Leben auf eine ande­re Art ausein­an­der­zu­set­zen im Gegen­satz zu Kindern, die in ihrer Herkunfts­fa­mi­lie aufwachsen. 

Bera­tung und prak­ti­sche Hilfe

Die KJH wird vom Katho­li­schen Konfes­si­ons­teil des Kantons St. Gallen finan­ziert. Sie hat je eine Bera­tungs­stel­le in St. Gallen und in Sargans mit 20 Fach­per­so­nen, 40 Pfle­ge­fa­mi­li­en und rund 40 Frei­wil­li­gen. Das Ange­bot umfasst Bera­tung für Fami­li­en, Kinder und Jugend­li­che, Fami­li­en­be­glei­tung sowie die Beglei­tung von Pfle­ge­fa­mi­li­en. Dazu kommt das Ange­bot «well­co­me – Prak­ti­sche Hilfe nach der Geburt» für Eltern, die in der ersten Phase mit einem Neuge­bo­re­nen Unter­stüt­zung benö­ti­gen. Wick erklärt: «Wir vermit­teln frei­wil­li­ge Mitar­bei­ten­de zur Entlas­tung von Müttern mit Baby und/oder Klein­kin­dern im ersten Lebens­jahr. Die Frei­wil­li­gen leis­ten prak­ti­sche Hilfe wie etwa einen Spazier­gang mit einem Kind oder eine Beglei­tung zum Kinder-Arzttermin». Laut Wick sind viele Eltern froh, mit einer Fach­per­son über ihre Sorgen spre­chen zu können und gemein­sam Lösun­gen zu erar­bei­ten. Die Proble­me seien sehr breit gefä­chert, von Über­for­de­rung, über einschnei­den­de Ereig­nis­se, bis alltäg­li­che Konfliktsituationen.

Pfle­ge­el­tern und Frei­wil­li­ge gesucht

Die KJH sucht Perso­nen, die ein Pfle­ge­kind bei sich aufneh­men, und Frei­wil­li­ge für das Ange­bot «well­co­me». → http://www.kjh.ch

Buch­ver­nis­sa­ge «Aufge­fan­gen»

Donners­tag, 22. August 2024, 18.30 Uhr

«Aufge­fan­gen – Vom Sera­phi­schen Liebes­werk zur Kinder- und Jugend­hil­fe St. Gallen» zeich­net die Entwick­lung der Orga­ni­sa­ti­on und deren Tätig­kei­ten nach und gibt Einbli­cke in die Lebens­um­stän­de von Kindern und Fami­li­en. An der Vernis­sa­ge hält Präsi­dent Beat Zindel eine Begrüs­sungs­re­de, Schau­spie­ler Marcus Schä­fer wird aus dem Buch vorle­sen. Weite­re Anwe­sen­de sind unter ande­rem Regie­rungs­rä­tin Laura Bucher und Histo­ri­ke­rin Loret­ta Segli­as. Anmel­dung (erbe­ten bis 14. August) an: beratungsstelle-sg@kjh.ch oder 071 222 53 53

→ Stadt­saal Lager­haus, David­s­tras­se 42, St. Gallen

Text: Katja Hong­ler, Bild: Regi­na Kühne

Veröf­fent­licht: 24.1.24

Aktua­li­siert: 15.07.2024

Wer wählt den neuen Bischof?

Eine der Aufga­ben des St. Galler Domka­pi­tels ist die Wahl des Bischofs, die in St. Gallen in ­abseh­ba­rer Zeit ansteht. Wer es wird, steht noch in den Ster­nen – doch wie läuft die Wahl ab? Domde­kan Guido Scher­rer, der das Domka­pi­tel leitet, gibt Auskunft.

Guido Scher­rer, was ist Ihre Aufga­be als Domdekan?

Guido Scher­rer: Der Domde­kan leitet das Domka­pi­tel und vertritt es auch nach aussen. Wir tref­fen uns zu zwei ordent­li­chen Sitzun­gen im Früh­jahr und auch aus Anlass des Geden­kens an alle frühe­ren Äbte, Mönche, Bischö­fe und Mitar­bei­te­rIn­nen in der Seelsorge.

Sind Sie als Domde­kan ­Kron­fa­vo­rit fürs Bischofamt?

«Dornen­kron­fa­vo­ri­ten» sind – wenn man auf die letz­ten elf Bischö­fe von St. Gallen schaut – alle Kano­ni­ker. Der erste Bischof war nicht im Domka­pi­tel, weil das Gremi­um erst mit der Grün­dung des Bistums 1847 neu orga­ni­siert wurde und der erste Bischof nicht gewählt wurde. Bischof Otmar Mäder gehör­te eben­falls nicht dem Domka­pi­tel an.

Was sind Kano­ni­ker und wie setzt sich das Domka­pi­tel zusammen?

Das Domka­pi­tel besteht aus fünf soge­nann­ten Residenzial- und acht Rural­ka­no­ni­kern. Resi­die­ren­de Kano­ni­ker beklei­de­ten früher alle wich­ti­gen Aufga­ben in der Bistums­lei­tung. Die acht Rural­ka­no­ni­ker bezie­hen sich auf die acht Deka­na­te, die es zur Zeit der Grün­dung des Bistums St. Gallen gab. Die Frage mit Appen­zell war zur Zeit der Bistums­grün­dung noch nicht gere­gelt. Seit eini­gen Jahren sind auch Pries­ter, die im Deka­nat Appen­zell tätig sind, im Domkapitel.

Wo sind die Vortei­le des dualen Systems?

An unse­rem dualen System (Bistum und Konfes­si­ons­teil, Kirch­ge­mein­den und Pfar­rei­en) schät­ze ich es sehr, dass sich so viele Menschen im weites­ten Sinne für die Kirche und ihre Aufga­ben enga­gie­ren. Ich erin­ne­re daran, dass kein Domherr vom Bischof oder vom Domka­pi­tel allein ernannt werden kann. Bei den Rural­ka­no­ni­kern gehen die Vorschlä­ge immer über den Admi­nis­tra­ti­ons­rat – dieser kann Kandi­da­ten strei­chen. Bei den Resi­die­ren­den werden je zwei vom Bischof und zwei vom Admi­nis­tra­ti­ons­rat gewählt. Der Domde­kan wird aus einem Drei­er­vor­schlag des Bischofs durch den Admi­nis­tra­ti­ons­rat gewählt. Die Kräf­te sind so ausge­wo­gen verteilt.

Wie läuft ein ­Bischofs­wech­sel ab?

Diöze­sen werden vakant, wenn ein Diöze­san­bi­schof stirbt oder wenn der Papst ein Rück­tritts­ge­such annimmt. Konkret: Bischof Markus wird dem Papst mit seinem 75. Geburts­tag einen Brief schrei­ben und seinen Rück­tritt anbie­ten. Dann heisst es warten, bis Papst Fran­zis­kus diesen Rück­tritt auf ein bestimm­tes Datum hin annimmt. Dann beginnt die eigent­li­che Vakanz. Die Beson­der­heit in St. Gallen ist, dass und wie das Domka­pi­tel den Bischof wählen darf.

Domde­kan Guido Scher­rer ist über­zeugt: Bischö­fe müssen gedul­dig zuhö­ren können. «Wenn sie neben Gott­ver­trau­en noch eine gros­se Porti­on Gelas­sen­heit und Humor mitbrin­gen, wird das ihr heraus­for­dern­des Amt erträg­lich machen.»

Wieso gibt es in St. Gallen eine Bischofswahl?

Nach dem Konkor­dat von 1845 und der Reor­ga­ni­sa­ti­ons­bul­le von 1847 erfolgt die Neube­set­zung des St. Galler Bischofs­stuhls durch freie Wahl des Domka­pi­tels innert drei Mona­ten nach einge­tre­te­ner Vakanz. Diese während Jahr­hun­der­ten bewähr­te Form der Bischofs­wahl vermoch­ten die Bistü­mer Basel und St. Gallen als einzi­ge Diöze­sen der west­li­chen Kirche beizubehalten.

Wieso genau nach Konkordat?

Die Bischofs­wahl ist mehr als ein Gentlemen’s Agree­ment. Ein Konkor­dat ist ein Vertrag zwischen dem Heili­gen Stuhl und einem Land. Es hat völker­recht­li­chen Status.

Wer ist als Bischof wählbar?

Nach Kirchen­recht muss ein Pries­ter mindes­tens 35 Jahre alt sein und seit fünf Jahren Pries­ter sein. Was das Kirchen­recht vorschreibt, ist auch Krite­ri­um in den Statu­ten des Kapi­tels. Hinzu kommt, dass ein künf­ti­ger Bischof in Verwal­tung oder Seel­sor­ge inner­halb des Bistums erfah­ren sein und der Diöze­san­g­eist­lich­keit ange­hö­ren soll. Diese Voraus­set­zun­gen erfül­len Stand heute um die 60 Priester.

Wie wird bei der Wahl die katho­li­sche Bevöl­ke­rung einbezogen?

Bei den letz­ten beiden Bischofs­wech­seln gab es beglei­tend zur Listen­er­stel­lung eine soge­nann­te Konsul­ta­ti­on: Wir frag­ten nach Eigen­schaf­ten, die ein künf­ti­ger Bischof haben soll­te, und es durf­ten auch Namen genannt werden. Betei­li­gen durf­te  sich neben Räten und Gremi­en die ganze Bevöl­ke­rung. Niemand muss­te sich auswei­sen, katho­lisch zu sein. Eine Konsul­ta­ti­on wird es sicher wieder geben. In einer Grup­pe mit Vertre­tern aus dem Domka­pi­tel und von «Refor­men jetzt» disku­tie­ren wir geeig­ne­te Mass­nah­men diesbezüglich.

Darf ein gewähl­ter Bischof ­seine Wahl ablehnen?

Nach Statu­ten kann ein Gewähl­ter inner­halb von sieben Tagen Annah­me oder Nicht­an­nah­me der Wahl erklä­ren. Diese Annah­me der Wahl ist Voraus­set­zung für die Ernen­nung durch den Papst.

Inter­view: Isabel­la Awad / ssi

Bild: Clau­dio Bäggli

Veröf­fent­licht: 02.07.2024

Bischofs­wahl

Am 9. August wird Bischof Markus Büchel 75 Jahre alt. Dann bittet er den Papst um Demis­si­on. Das Pfar­rei­fo­rum berich­tet in den nächs­ten Mona­ten mit mehre­ren Beiträ­gen darüber. Das Inter­view mit Gene­ral­vi­kar Guido Scher­rer hat das Bistum der Redak­ti­on zur Verfü­gung gestellt.

Bestsellerautorin hört die Mönche flüstern

Für die deut­sche Best­sel­ler­au­torin Tanja Kinkel ist die Insel Reichen­au Schau­platz myste­riö­ser Verbre­chen und Spie­gel für die Welt­ereig­nis­se der letz­ten Jahr­hun­der­te zugleich. Für das Jubi­lä­um «1300 Jahre Klos­ter Reichen­au» hat sie ein Hörspiel geschrie­ben und eine Samm­lung von histo­ri­schen Kurz­ge­schich­ten herausgegeben.

In dicken Nebel gehüllt, einsam und verlas­sen. So traf Tanja Kinkel die Reichen­au an, als sie diese im Novem­ber 2022 zum aller­ers­ten Mal besuch­te. «Diese myste­riö­se Stim­mung hat mich total ange­spro­chen», erin­nert sich die Autorin und lacht, «ich konn­te mir so noch viel besser vorstel­len, wie das Leben im Mittel­al­ter auf dieser Insel war.» Die gebür­ti­ge Bamber­ge­rin (Bayern), die seit vielen Jahren in München lebt, wurde auf die Insel im Boden­see aufmerk­sam durch die Anfra­ge das Badi­schen Landes­mu­se­ums: «Ich bekam den Auftrag, Texte für eine App für das Jubi­lä­um zu verfas­sen. Bei meinen Recher­chen habe ich sofort gemerkt, wie viel Stoff in der Geschich­te der Reichen­au steckt. Deshalb mach­te ich dem Landes­mu­se­um den Vorschlag, zum Jubi­lä­um einen Band mit histo­ri­schen Kurz­ge­schich­ten zu veröf­fent­li­chen. In der Reichen­au steckt eine Menge Stoff. Zum Beispiel allein die Tatsa­che, dass in der späten Zeit des Klos­ters inner­halb eines Jahres gleich zwei Äbte zu Tode kamen, das schreit gera­de danach, dass sich ein Ermitt­ler darum kümmert.»

Tanja Kinkel war vor zwei Jahren zum ersten Mal auf der Insel Reichenau.

In die Geschich­te eingetaucht

Auch wenn Tanja Kinkel die Reichen­au erst seit zwei Jahren kennt, spürt man im Gespräch mit ihr sofort: Sie ist mitten­drin in der wech­sel­sei­ti­gen Geschich­te der Insel. Die Autorin spru­delt nur so, wenn sie von ehema­li­gen Äbten, Nonnen und Mönchen spricht, und wird zuwei­len sogar emotio­nal, als wäre sie ihnen persön­lich begeg­net. Sie hat sich akri­bisch in die Doku­men­te einge­le­sen und inten­siv auf die Moti­ve und Charak­te­re der prägen­den Perso­nen einge­las­sen. «Das war auch mein Köder für meine Kolle­gin­nen», sagt sie. Für die Geschich­ten­samm­lung hat sie Autorin­nen und Autoren ange­fragt, die wie sie erfolg­rei­che histo­ri­sche Roma­ne schrei­ben. «Alle beka­men von mir ein Dossier zu Perso­nen, die für die Reichen­au prägend waren.» Dass schliess­lich nur Frau­en Geschich­ten beigesteu­ert haben, sei Zufall: «Alle Kolle­gen, die ich ange­fragt habe, sagten aus Zeit­grün­den ab. Nur Ulf Schie­we woll­te mitwir­ken.» Leider erkrank­te er kurz darauf und starb. «Ich habe ihm deshalb das Buch gewidmet.»

Spie­gel der Weltereignisse

Die Geschich­ten in Tanja Kinkels Buch zeigen deut­lich: Die klei­ne Insel im Boden­see war in den vergan­ge­nen Jahr­hun­der­ten oft Schlüs­sel­ort für Welt­ereig­nis­se. In der Blüte­zeit (8. bis 11. Jahr­hun­dert) war sie das Zentrum des christ­li­chen Abend­lan­des. Zum Beispiel stamm­ten viele wich­ti­ge Schrif­ten aus der Schreib­stu­be der Klos­ter­ge­mein­schaft auf der Reichen­au. Adeli­ge und Geist­li­che lies­sen ihre Schrif­ten auf der Insel anfer­ti­gen. «Die Reichen­au ist ein Brenn­glas für die zahl­rei­chen kulturellen und sozia­len Entwick­lun­gen der dama­li­gen Zeit», so Tanja Kinkel. Als Beispiel schil­dert sie den Sturm der Konstan­zer Bürge­rin­nen und Bürger auf die Insel, als sie gegen das Klos­ter aufbegehrten.

Nur noch ein Scherbenhaufen

Tanja Kinkels Geschich­te beschäf­tigt sich mit dem Nieder­gang und nimmt den letz­ten Abt des Klos­ters Reichen­au in den Fokus. Auf der einen Seite der letz­te Reichs­abt, Markus von Knörin­gen – «einer der wider­lichs­ten Menschen, den man sich vorstel­len kann», wie Tanja Kinkel im Gespräch fest­hält, «zu seiner Zeit gibt es noch mehre­re Reform­ver­su­che, um das Klos­ter zu retten. Der Reichs­abt ist schuld, dass diese schei­tern.» Ihm gegen­über steht Prior Georg Dietz. «Mich faszi­niert an diesem Mönch, dass er seiner Beru­fung treu bleibt – das Klos­ter ist nur noch ein Scher­ben­hau­fen, vom Glanz des Mönch­tums auf der Reichen­au ist nichts mehr übrig. Er hätte die Möglich­keit, weiter­zu­zie­hen. Trotz­dem beschliesst er, auf der Insel zu blei­ben, und das, obwohl er dafür alles ande­re als Ruhm und Ehre erhält.»

Drei Kirchen besuchen

Wer die Reichen­au in diesem Jahr besu­chen will, dem steht eine App, die zum Jubi­lä­um entwi­ckelt wurde, zur Verfü­gung. Tanja Kinkel hat dafür Hörtex­te verfasst, die die Geschich­te atmo­sphä­risch dicht erleb­bar machen. Die deut­sche Autorin empfiehlt, die Reichen­au zu Fuss zu erwan­dern, zunächst am Ufer entlang und dann zum Aussichts­punkt Hoch­wart. «Es lohnt sich, die drei Kirchen zu besu­chen. Zum Jubi­lä­um wurde bei jeder Kirche ein klei­nes Muse­um einge­rich­tet. Hier kann man die Geschich­te mit allen Sinnen erle­ben.» Auf ein High­light ist Tanja Kinkel bei ihrem ersten Besuch auf der Insel in der Kirche St. Georg (Ober­zell) gestos­sen: «Ich hatte zuvor Aufnah­men der mittel­al­ter­li­chen Fres­ken gese­hen. Ich war total erstaunt, wie gut erhal­ten die sind.» Tanja Kinkel wird es auch in Zukunft wieder auf die Reichen­au und an den Boden­see ziehen, im Herbst hält sie zum Beispiel eine Lesung in Konstanz.

Bestsellerautorin hört die Mönche flüstern

Die Geschich­ten­samm­lung von Tanja Kinkel enthält u. a. Geschich­ten von Sabi­ne Ebert, Iny Lorentz und Heidi Rehn. In Kurz­ge­schich­ten erzäh­len die Best­sel­ler­au­torin­nen auf Basis wahrer Bege­ben­hei­ten von Menschen auf der Reichen­au. Sie beschrei­ben die Spuren, die Äbte und Mönche, Wein­bau­ern und Fischer, Kaise­rin­nen und Nonnen auf der Insel hinter­las­sen haben, und skiz­zie­ren so das Leben auf der Insel und im Klos­ter durch die Jahr­hun­der­te. Die Antho­lo­gie lässt damit die lange Geschich­te dieses heili­gen Ortes neu leben­dig werden. Die Geschich­ten werden wohl bei Fans von histo­ri­schen Roma­nen beson­ders gut ankom­men. Tanja Kinkel, geb. 1969 in Bamberg, lande­te mit ihren Büchern schon mehr­mals auf der Spiegel-Bestsellerliste und gilt als eine der meist­ver­kauf­ten Autorin­nen in Deutsch­land. Ihr erfolg­reichs­tes Buch «Die Puppen­spie­ler» wurde von der ARD verfilmt. Die Autorin lebt in München und ist u. a. Gast­do­zen­tin an der Univer­si­tät Zürich.

→ Tanja Kinkel (Hg): «Reichen­au – Insel der ­Geheim­nis­se», Bonifatius-Verlag, 224 Seiten

Text: Stephan Sigg

Bilder: SWR / zVG

Veröf­fent­licht: 28.06.2024

Das Quarten hat sich gelohnt

Die öster­rei­chi­sche Kinder­buch­au­to­rin Lena Raubaum aus Wien erin­nert sich für das Pfar­rei­fo­rum an die Jung­schar­la­ger bei den Schön­statt­schwes­tern in Quar­ten über dem Walensee.

Soll­te mich jemals jemand anru­fen, der bei «Wer wird Millio­när?» vor der Frage zittert, welche Masse der Walen­see habe, erhält von mir als Joker prompt die Antwort: «15,5 Kilo­me­ter lang, 150 Meter tief, zwei Kilo­me­ter breit!» Gewiss: Orts­kun­di­ge Menschen wissen das. Aber ich vermu­te mal, vielen Menschen in Öster­reich ist das nicht bewusst, geschwei­ge denn, wie atem­be­rau­bend schön dieser See ist, beschützt von den majes­tä­ti­schen Chur­firs­ten. Die Einzi­gen, die das in Öster­reich wissen könn­ten, sind die Jung­schar­kin­der der Pfar­re Alt-Ottakring des 16. Wiener Gemein­de­be­zirks. Diese Jung­schar­kin­der fuhren über Jahr­zehn­te nach Quar­ten auf Jung­schar­la­ger. Eines davon war ich.

Lena Raubaum verbrach­te mehre­re Jung­schar­la­ger in Quar­ten über dem Walen­see. Heute ist sie eine erfolg­rei­che öster­rei­chi­sche Kinderbuchautorin.

Weil es so schön war

Der Walen­see war das Zeichen dafür, dass es nicht mehr weit war. Rund 80 Mädchen zwischen sechs und 16 Jahren, die stun­den­lang per Bahn oder Bus unter­wegs gewe­sen waren, jubel­ten. Der See rück­te das Ende einer sehr langen Reise in Sicht, einer Reise, auf der Lieder, Vorle­se­zeit, Jausen­tausch­bör­sen, Schläf­chen und Witze­run­den die Zeit verkürzt hatten. Während die Jung­schar­lei­tung Gitti per Busmi­kro­fon die Details erzähl­te, die mich zu einem guten Joker machen, bog der Bus bereits den Berg hinauf. Nach ein paar Kurven waren wir da: in Neu-Schönstatt in Quar­ten. Kaum ange­kom­men – spätes­tens beim Abend­essen –, begrüss­te uns eine der allge­gen­wär­ti­gen Mari­en­schwes­tern  mit der wunder­ba­ren Würze von Schwi­zer­dütsch in ihren Worten. Dadurch, dass wir als Grup­pe für uns waren, hatten wir nicht allzu viel Inter­ak­ti­on mit den Schönstatt-Schwestern. Doch wir begeg­ne­ten ihnen, manche fallen mir jetzt wieder ein. Die eine mit der gros­sen Bril­le, bei der wir an der Rezep­ti­on Karten und Brief­mar­ken kauf­ten. Die ande­re mit der blau­en Schür­ze, die im Garten arbei­te­te. Die Junge, die immer, immer lächelte.

Wieso fuhren Mädchen- und Buben­jung­schar­grup­pen (stets getrennt!) ausge­rech­net von Wien in die Schweiz auf Jung­schar­la­ger? Ehrlich gesagt: Ich weiss es nicht. Aber einer der Grün­de war gewiss: Weil es so schön war! Allein für das Panora­ma zahl­te sich jeder Kilo­me­ter aus. Genau­so für das klei­ne Wald­stück oder die Spiel­wie­se samt Teich vor dem Zentrum, auf der wir das Schwung­tuch schwan­gen, Feld­mes­se feier­ten, Ball spiel­ten. Dabei muss­ten wir übri­gens aufpas­sen, dass der Ball nicht die Böschung runter­rol­len würde. (Heute steht da ein Zaun. Gute Entschei­dung!) Und natür­lich schätz­ten wir das Zentrum an sich. Die Schlaf­sä­le mit je sechs Kojen, in denen morgens Musik erschall­te, um uns zu wecken. Ich weiss auch noch, dass man über die Kästen perfekt von Koje zu Koje klet­tern konn­te (war eigent­lich nicht erlaubt, bitte nicht melden!) und dass man natür­lich jedes Geräusch mitbe­kam. Zum Beispiel auch, wie einmal eine Jung­schar­füh­re­rin während eines Lach­an­falls einschlief.

Eine bunte Gemeinschaft

Dank dieser Wochen lern­ten wir vieles an der Schweiz kennen und lieben. Unzäh­li­ge Orte, manche mit vielen, ande­re mit etwas weni­ger Höhen­me­tern. Ich glau­be, ich muss unbe­dingt mal wieder dem Verkehrs­mu­se­um in Luzern, Knies Kinder­zoo und dem Säntis einen Besuch abstat­ten. Ah, und der Migros in Sargans. Der war das High­light am Ende unse­res Lagers. Dort kauf­ten wir nicht nur haufen­wei­se Appen­zel­ler Biber­li, Scho­ko­stäng­li oder Toblerone-Schoki. Dort gingen wir vor allem liebend gern aufs Klo, weil dessen Ästhe­tik und Hand­creme immense Begeis­te­rung in uns auslösten.

Sicher, vieles, das man auf einem Jung­schar­la­ger erlebt, erlebt man über­all. Eine bunte Gemein­schaft. Morgen­ge­be­te. Abend­lob. Fackel­wan­de­run­gen. Küchen­dienst. Strei­te­rei­en. Spie­le­aben­de. Ein spiri­tu­el­les Wochen­the­ma. Heim­weh. Zusam­men­halt. Und noch mehr. So viel mehr. Doch ich bin zutiefst dank­bar, dass ich all das an einem beson­de­ren Ort in St. Gallen erle­ben durf­te und dass ich mit dem Brust­ton der Über­zeu­gung schrei­ben kann: Dieses Quar­ten, das hat sich gelohnt.

Text: Lena Raubaum

Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 27.06.2024

Lena Raubaum

Lena Raubaum, gebo­ren 1984 in Wien, hat für ihre Kinder­bü­cher viele Prei­se erhal­ten. Als Kind verbrach­te sie mehre­re Sommer bei den Schön­statt­schwes­tern in Quar­ten. «Das hat mein Bild von der Schweiz geprägt», sagt sie. Diesen Erin­ne­rungs­text hat sie auf Einla­dung des Pfar­rei­fo­rums verfasst. 

Zuletzt ist ihr Kinder­buch «Ungal­li» über die Kraft der Wieder­ho­lung erschie­nen. Sie erzählt eine afri­ka­ni­sche Legen­de  in neuen Worten: Wie merkt man sich etwas wirk­lich? Was ist beim Lernen von Neuem das Aller­wich­tigs­te? Und was haben ein Baum, seine Früch­te, eine Gazel­le, ein Elefant und eine Schild­krö­te damit zu tun? ­www.lenaraubaum.com

Kinder­buch «Ungal­li» von Lena Raubaum.

Das Zentrum Neu-Schönstatt der katho­li­schen Schön­statt­be­we­gung in Quar­ten ist heute ein moder­nes Bildungs- und Tagungs­haus und steht für Einzel­per­so­nen, Fami­li­en und Grup­pen offen. 

Leserfrage: Wie sensibilisiert man Kinder für Solidarität?

Was versteht man unter Soli­da­ri­tät? Vermut­lich hat jeder seine eige­ne Defi­ni­ti­on dafür. Für mich ist Soli­da­ri­tät ein Grund­prin­zip mensch­li­chen Zusam­men­le­bens. Wir fühlen uns mitein­an­der verbun­den und unter­stüt­zen uns gegenseitig.

Es gibt verschie­de­ne Möglichkeiten, Kinder für Soli­da­ri­tät zu sensi­bi­li­sie­ren: Eine reli­giö­se Erzie­hung bietet eine gute Chan­ce, ihnen Soli­da­ri­tät näher­zu­brin­gen. Dabei können reli­giö­se Geschich­ten ein Beispiel dafür sein. Ich denke dabei an die Geschich­te des barm­her­zi­gen Sama­ri­ters: Ein Mann wird von Räubern über­fal­len und schwer verletzt zurück­ge­las­sen. Zuerst gehen ein Pries­ter und dann ein Levit acht­los an ihm vorbei. Erst ein Sama­ri­ter, also einer aus einer verfein­de­ten Grup­pe, hat Mitleid mit ihm und kümmert sich um ihn. Er fragt nicht nach seiner Herkunft. Er handelt ohne eige­nen Nutzen oder Hintergedanken.

Gemein­nüt­zi­ges tun

Der Reli­gi­ons­un­ter­richt trägt auch dazu bei, die persön­li­che Entwick­lung der Kinder und Jugend­li­chen zu fördern. Viele reli­giö­se Tradi­tio­nen beto­nen die Bedeu­tung von Mitge­fühl, Nächs­ten­lie­be und Soli­da­ri­tät mit den Bedürf­ti­gen. Im Unter­richt wird mit den Schü­le­rin­nen und Schü­lern über Themen wie Unge­rech­tig­keit, Armut und Diskri­mi­nie­rung gespro­chen. Sie können Fragen stel­len und ihre Gedan­ken ausdrü­cken. Sie hören auch aus dem Leben von verschie­de­nen Persön­lich­kei­ten und ihrem Einsatz für die Menschen. Sie werden ermu­tigt, Soli­da­ri­tät im Alltag zu leben, indem sie ande­ren helfen, Mitge­fühl zeigen und ande­ren gegen­über respekt­voll sind.

Eine weite­re Möglich­keit ist es, an gemein­nüt­zi­gen Akti­vi­tä­ten der Pfar­rei wie etwa am Stern­sin­gen oder ande­ren cari­ta­ti­ven Projek­ten mitzu­ma­chen. Dort wird Geld für eine gute Sache gesam­melt. Gleich­zei­tig können die jungen Menschen die Erfah­rung machen, wie sie ande­ren helfen können, beson­ders denen, die weni­ger privi­le­giert sind.

Vorbild sein

Im Gebet für ande­re wird die spiri­tu­el­le Dimen­si­on der Soli­da­ri­tät gestärkt. Durch das gemein­sa­me Beten können wir Soli­da­ri­tät zeigen, Mitge­fühl ausdrü­cken und unse­re Verbin­dung mit ande­ren Menschen und der Welt um uns herum stär­ken. Und zu guter Letzt der wich­tigs­te Punkt: ein Vorbild sein. Unser soli­da­ri­sches Vorle­ben ist die beste Möglich­keit, Kinder und Jugend­li­che zu lehren, wie man sich um ande­re kümmert und soli­da­risch handelt. Durch unser eige­nes Tun können wir einen nach­hal­ti­gen Einfluss auf die Entwick­lung der Werte und Über­zeu­gun­gen haben.

Text: Alex­an­dra Moser, Reli­gi­ons­päd­ago­gin, Reli­gi­ons­päd­ago­gi­sche Medi­en­stel­le Altstätten

Grafik: Cavel­ti

Veröf­fent­li­chung: 11. Juni 2024

Leser­fra­gen an info@pfarreiforum.ch

Pfarrblatt im Bistum St.Gallen
Webergasse 9
9000 St.Gallen

+41 71 230 05 31
info@pfarreiforum.ch