Die Redaktion des Pfarreiforums hat sich auf die Suche nach eigenen Erinnerungen gemacht. Welche Situationen, Gegenstände und Momente lassen uns an Verstorbene denken und was löst das in uns aus?
Sich in Träumen begegnen
Friedhöfe und Gräber besuche ich selten. Wenn ich vor dem Grab verstorbener Verwandter stehe, kommt es mir jedes Mal komisch vor: Ich bin hier, die Person ist weg. Zudem habe ich in diesen Momenten selten Erinnerungen und studiere daher eher die Grabbepflanzung oder die Schriftart auf den Grabsteinen. Dann gehe ich lieber schnell weiter. Vielleicht gehöre ich zu jenen Menschen, die den Tod verdrängen. Oder vielleicht ist es einfach zu schmerzhaft, daran zu denken, dass jemand, der einmal so selbstverständlich da war, es nicht mehr ist.
Den Kopf leeren
Da sind viele Erinnerungen an die unbeschwerte Kindheit und all diese mittlerweile verstorbenen Menschen, die mir wichtig waren. Ich frage mich, ob diese Personen heute in meinem Alltag noch eine Rolle spielen. Ich habe keine Rituale, mit denen ich mich bewusst an sie erinnere. Viel eher ist es umgekehrt: Es gibt bestimmte Momente und Phasen in meinem Leben, die Raum für Erinnerungen lassen. Ein Sonnenuntergang in der Natur lässt mich jedes Mal an meine Tante denken, die kurz vor ihrem Tod zu mir sagte: «Schau dir diesen Sonnenuntergang an mit all seinen Farben!» Auch habe ich gelernt, dass ein leerer Kopf und Auszeiten neue Begegnungen mit Verstorbenen zulassen. Als ich einst mit dem Velo mehrere Wochen Richtung Süden fuhr und täglich acht Stunden auf dem Sattel sass, träumte ich in vielen Nächten von meinen Grosseltern. Wir redeten, lachten und ich sah ihre Gesichter sehr deutlich vor mir. Wenn ich erwachte, verblasste die Erinnerung auch nicht. Ich träumte während dieser Velotour übrigens auch von «Gspänli» aus der Primarschulzeit, an die ich mindestens 20 Jahre nicht mehr gedacht hatte. Ich weiss nun, dass ich Platz in meinem Kopf und Ruhe brauche, um mich an Menschen zu erinnern und daran, wer sie für mich waren.
Beim Abstauben
Manchmal lassen mich auch Gegenstände im Alltag innehalten. Kürzlich fand ich etwa eine Matroschka-Puppe wieder, als ich einen Umzugskarton auspackte. Matroschkas sind bunte und aus Holz gefertigte Puppen, die viele weitere kleine Puppen in sich verstecken, die sich ineinander schachteln lassen. Nach dem Tod meiner Grossmutter vor vielen Jahren hatte ich sie als Erinnerung ausgewählt. Wenn ich die Puppe in der Hand halte, werde ich wieder zu dem Mädchen, das bei jedem Besuch bei seiner Oma auf dem Sofa sass und die Matroschka im Regal bewunderte. Manchmal durfte ich sie auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Das tue ich auch heute noch, wenn mir die Puppe zum Beispiel beim Abstauben einmal in die Finger gerät. Ich setzte mich hin und nehme Püppchen um Püppchen heraus. Die Figuren lassen mich zufällig an Vergangenes denken. Ich weiss im Vorfeld nicht, welche Erinnerung ich haben werde. Gerne wüsste ich, ob man es trainieren kann, sich in bestimmten Momenten an jemanden zu erinnern. Zumindest nehme ich mir das seit vielen Jahren vor: Ich möchte an Allerheiligen auf einen Friedhof gehen und eine Kerze anzünden, um in Gedanken bei dieser Person zu sein. Die Vergänglichkeit würde mir in diesem Moment wohl sehr bewusst. Und ich müsste mir wahrscheinlich die Frage stellen, was nach dem Tod von uns bleibt. Wie einfach ist es im Vergleich dazu, mit dem Alltag davonzurauschen.
Nina Rudnicki
«Oma-und-Opa-Stadt»
Meine Grosseltern wohnten in Bregenz, ich verbrachte als Kind und auch als Jugendlicher viel Zeit bei ihnen am Bodensee, Oma und Opa waren für mich sehr prägend. Vor ein paar Jahren sind sie mit Mitte bzw. Ende achtzig gestorben.
Vor-Ort-Atmosphäre
Bregenz hat ein wunderschönes Seeufer, kulturell einiges zu bieten, zum Beispiel die Festspiele, und auch die Altstadt hat ihren Reiz, abgesehen davon ist die Vorarlberger Kleinstadt eine Stadt wie viele andere. Für mich ist es aber DIE Stadt – Bregenz ist meine «Oma-und-Opa-Stadt». Sie ist zwar nicht weit weg von St. Gallen, aber wenn ich dort bin, bin ich doch gleich ganz woanders. Ich bin heute immer noch regelmässig in Bregenz und jedes Mal sind sofort alle Erinnerungen an meine verstorbenen Grosseltern da. Ich kann selbst in ganz unspektakulären Gassen oder sogar auf dem Parkplatz vor einem Einkaufszentrum Kraft tanken. Hier sind Oma und Opa mir viel näher als auf dem Friedhof. Auch das eine oder andere Erinnerungsstück wie eine Karaffe oder ein Spiegel, die ich von ihnen aufbewahrt habe, sind nichts gegen die Vor-Ort-Atmosphäre. Wenn ich irgendwo etwas von Bregenz höre oder mir jemand erzählt, dass sie oder er aus Bregenz kommt, löst das immer sofort positive Gefühle aus.
Stephan Sigg
Bewusst Zeit nehmen
Ich kann gut verdrängen – ich gebe es zu. Ich verbanne unliebsame Gedanken manchmal gerne in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses. Vielleicht ist es ein Schutzmechanismus, dass ich nicht zu lange um Sachen herumstudiere, die zu ändern ich nicht mehr in der Lage bin. Denn Erinnern heisst auch Akzeptieren. Es heisst, Vergangenes vergangen sein lassen. Aber es gibt auch Momente, da hole ich Erinnerungen gerne wieder aus ebendieser hintersten Ecke hervor. Dabei helfen mir unter anderem Gegenstände. Etwa die Kaffeetässchen meiner italienischen Urgrossmutter. Sie sind bestimmt schon 80 Jahre alt und abgegriffen. Sie sind nichts Besonderes, aber ich hüte sie wie einen Goldschatz. Wenn immer ich sie zur Hand nehme, denke ich an unsere gemeinsame Zeit in Italien zurück. Ich habe nur schöne Erinnerungen daran – an die Gespräche mit fürsorglichen Menschen, an die ausgelassenen Stunden am Holztisch in der grossen Wohnküche, an den alten wärmenden Holzofen. Der Kaffee schmeckt mir aus diesen Tässchen einfach besser – und das morgendliche Aufstehen fällt einfach leichter.
Treffen mit einer Verstorbenen
Gegenstände vermögen Erinnerungen zu wecken. Genauso auch Orte. Das beste Beispiel ist wohl der Friedhof. Ich gehe oft auf den Friedhof. Ich mag es, auf den Friedhof zu gehen. Warum? Die Ruhe dort lässt mir im hektischen Alltag den nötigen Raum für Erinnerungen. Ich kann mir Zeit nehmen, um bewusst an jene Menschen zu denken, die ich schmerzlich vermisse und die ich nicht einfach mal kurz anrufen kann. Meine Grossmutter väterlicherseits etwa. Sie liegt seit 40 Jahren in einem Familiengrab. Und seit ich mich erinnern kann, besuchen wir sie auf dem Friedhof. Diese «Treffen» gehören für mich zum Alltag. Ich kenne es nicht anders und es ist okay so. Mehr noch, ich freue mich, wenn ich wieder zu Nonna gehen und ihr von meinem Tag erzählen kann. Ich nehme dann Blümchen mit. Keine Nägeli, die mochte sie nicht. Violette oder gelbe Blumen waren ihre Favoriten. Und ich erzähle ihr dann von meinen Sorgen, von Problemen und den erfreulichen Sachen. Und ich fühle mich ihr dann besonders nah.
Erinnerungen durch Erzählungen
Meine Grossmutter ist früh von uns gegangen – für uns alle zu früh. Ich kannte sie nicht persönlich. Reale Treffen gab es nie. Nur Treffen auf dem Friedhof. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass sie mir um einiges näher ist als so manche Person, mit der ich einen Abschnitt meines Lebensweges gegangen bin. Es sind die Erzählungen meiner Eltern, die ihre Person so lebendig gehalten haben. Sie haben oft über meine Grossmutter gesprochen. Meine Eltern haben unzählige Anekdoten aus ihrem Leben erzählt, haben uns Fotos gezeigt und sind mit uns an Orte gereist, die für sie eine besondere Bedeutung hatten. Wenn wir Glockengeläut hören, denken wir oft an sie. Sie hat Glocken gesammelt. Meine Grossmutter hat einen besonderen Stellenwert in unserem Leben – auch wenn sie längst nicht mehr da ist. Ich habe zwar keine eigenen Erinnerungen an meine Grossmutter, aber trotzdem erinnere ich mich immer gerne an sie.
Alessia Pagani
Bilder: pixabay.com, Nina Rudnicki, Alessia Pagani, iStock / ctaskesen
Veröffentlichung: 26. Oktober 2024