Den Erinnerungen ihren Platz geben

Ein Lieb­lings­es­sen oder eine Zufalls­be­geg­nung, die einen an jemand Verstor­be­nen denken lassen: Solche Erin­ne­run­gen finden sich über­all im Alltag. Die St. Galler Seel­sor­ge­rin Pris­ka ­Filli­ger Koller sagt, wie Ritua­le dabei helfen können, sich bewuss­ter zu erin­nern, und wieso Aller­hei­li­gen heute wich­ti­ger ist denn je.

Pris­ka Filli­ger Koller, wie ­wich­tig ist es für Sie, sich an Verstor­be­ne zu erinnern?

Für mich ist das sehr wich­tig. Meine Mutter starb vor 19 Jahren. Davor war sie bereits viele Jahre an Krebs erkrankt. Auf einer Kommo­de in meinem Zuhau­se stell­te ich ein Foto von ihr auf, dane­ben legte ich eini­ge Stei­ne aus ihrer Samm­lung und stell­te eine Kerze auf. Über die Jahre kamen weite­re Fotos von Verstor­be­nen dazu. Morgens und abends zünde ich die Kerze an und trete mit meiner Mutter in einen inne­ren Dialog. Ich wünsche ihr zum Beispiel einen guten Tag.

Tod und Vergäng­lich­keit sind dadurch in Ihrem Zuhau­se sehr präsent.

Fotos Verstor­be­ner aufzu­stel­len, gehört zu einer Tradi­ti­on, die ich seit meiner Kind­heit kenne. Ich bin in Nidwal­den aufge­wach­sen. Dort verteil­te man an Ange­hö­ri­ge und Bekann­te die soge­nann­ten Helge­li als Erin­ne­rung. Das sind Fotos der Verstor­be­nen mit den Lebens­da­ten und einem Gedan­ken. Genau­so wich­tig ist es mir, zusam­men mit meinem Vater in Nidwal­den das Grab meiner Mutter und meiner Gross­el­tern zu bepflan­zen und mich so vor Ort an diese Perso­nen erin­nern zu können.

Was macht das mit Ihnen, sich an einem bestimm­ten Ort an Verstor­be­ne zu erinnern?

Dadurch wird mir bewusst, dass ich Teil von etwas Ganzem bin. Reise ich beispiels­wei­se ans ­Fami­li­en­grab, ist es immer auch eine Reise zurück in meine Kind­heit. Ich bin einge­bun­den in eine Fami­li­en­ge­schich­te und das spüre ich in solchen Momen­ten deut­lich. Es gibt aber auch eine spon­ta­ne Form des Erin­nerns, die ich als Erin­ne­rungs­blit­ze bezeich­ne. Kürz­lich fuhr ich Zug. Als dieser an einem Bahn­hof anhielt, sah ich auf dem Perron einen Mann stehen, der mich an einen verstor­be­nen Seel­sor­ger erin­ner­te, den ich sehr schätz­te und mit dem ich zusam­men­ge­ar­bei­tet hatte. In diesem Moment wurde ich einer­seits trau­rig und ande­rer­seits fühl­te ich eine Dank­bar­keit und inne­re Verbun­den­heit mit ihm.

Fotos Verstor­be­ner aufzu­stel­len, gehört zu einer Tradi­ti­on, die Pris­ka Filli­ger Koller seit ihrer Kind­heit kennt.

Es gibt also Ritua­le, durch die wir uns bewusst erin­nern können, sowie alltäg­li­che Ereig­nis­se, die uns spon­tan erin­nern lassen?

Ja, so unter­tei­le ich es. Ein Ritu­al kann etwa ein Besuch am Grab sein oder Aller­hei­li­gen selbst, an dem wir der Verstor­be­nen geden­ken. In meiner Pfar­rei St. Fiden schrei­ben wir während eines Jahres beispiels­wei­se die Namen aller in diesem Jahr Verstor­be­nen auf weis­se Stei­ne und legen sie auf einen Seiten­al­tar. An der Gedenk­fei­er an Aller­hei­li­gen können die Ange­hö­ri­gen die Stei­ne zusam­men mit einer Kerze und einer Rose auf der Trep­pe vor dem Altar plat­zie­ren und diese nach der Feier mit nach Hause nehmen. Ritua­le mit Stil­le, Gebet und Kerzen können Steig­bü­gel für eine Erin­ne­rungs­kul­tur sein.

Und was sind alltäg­li­che Ereignisse?

Zu den alltäg­li­chen Ereig­nis­sen zähle ich zum Beispiel ein Essen, das jemand kocht, im Wissen, dass dies das Lieb­lings­ge­richt einer verstor­be­nen Person war. Auch der Besuch eines Plat­zes oder Ortes, den die Verstor­be­nen beson­ders lieb­ten, lässt Erin­ne­run­gen entste­hen. Genau­so kann uns ein Duft an jeman­den denken lassen oder ein Hobby, das man mit dieser Person geteilt hat. Flicke ich etwa ein Klei­dungs­stück, lässt mich das immer an meine Mutter erin­nern und daran, wie wir als Kinder unter dem Tisch mit einem Kinder­last­wa­gen die Faden­res­te ihrer Nähar­beit aufsammelten.

In der Pfar­rei St. Fiden, in der Pris­ka Filli­ger Koller arbei­tet, werden die Namen aller in einem Jahr verstor­be­nen Perso­nen auf weis­se Stei­ne geschrie­ben und auf einen Seiten­al­tar gelegt.

Wie haben sich die kirch­li­chen Ange­bo­te rund um Aller­hei­li­gen verändert?

Sie sind viel­fäl­ti­ger und indi­vi­du­el­ler gewor­den. Es gibt heute ganz­jäh­rig vieler­orts Trau­er­ca­fés. Um Aller­hei­li­gen herum ist in der Schutz­en­gel­ka­pel­le in St. Gallen ein Trau­er­raum einge­rich­tet. In diesem können sich Ange­hö­ri­ge an verschie­de­nen Statio­nen mit der persön­li­chen Trau­er ausein­an­der­set­zen. Auch sind Seel­sor­gen­de an Aller­hei­li­gen auf den beiden St. Galler Fried­hö­fen Ost und Feld­li präsent. Wer möch­te, bekommt von ihnen eine Anlei­tung, wie man selbst ein Grab segnen kann. Weih­was­ser und Kerze gibt es dazu. Ich selbst werde gemein­sam mit dem St. Galler Männer­chor eine Gedenk­fei­er auf dem Ostfried­hof gestal­ten. Das sind nur eini­ge Beispie­le. In den verschie­de­nen Pfar­rei­en gibt es zahl­rei­che weite­re Angebote.

Ist Aller­hei­li­gen als Feier­tag heute noch zeitgemäss?

Ich bin sehr froh darüber, dass Aller­hei­li­gen bei uns ein Feier­tag ist. Um uns erin­nern zu können, brau­chen wir Ruhe. Aller­hei­li­gen ist ein ganzer frei­er Tag, den wir gestal­ten können und der uns Zeit fürs Inne­hal­ten, Erin­nern und Trau­ern lässt. Durch gemein­sa­me Gedenk­fei­ern erfah­ren wir beispiels­wei­se, dass Trau­ern etwas Urmensch­li­ches ist. An Aller­hei­li­gen können wir uns auch bewusst machen, dass Ster­ben und der Tod zum Leben dazu­ge­hö­ren. Tod, Abschied­neh­men und Erin­nern sind zudem immer etwas, das Platz in der Gesell­schaft und in einer Gemein­schaft haben soll­te. Entschei­det sich etwa jemand für eine Trau­er­fei­er nur im engs­ten Fami­li­en­kreis, nimmt er ande­ren Menschen die Möglich­keit, sich in Gemein­schaft verab­schie­den zu können.

Erin­ne­run­gen aufschrei­ben oder viel­leicht ein Foto­al­bum anle­gen: Wie könn­ten wir Erin­ne­run­gen besser bewahren?

Da gibt es viele Möglich­kei­ten. Ich persön­lich habe mir vorge­nom­men, biogra­fi­sche Erin­ne­rungs­ar­beit mit meinem 85-jährigen Vater zu machen. Ich besu­che ihn alle 14 Tage. Oft erzählt er dann von früher, etwa davon, wie er als einfa­cher Bauern­sohn aufge­wach­sen ist und wie es war, in einem Haus mit mehre­ren Gene­ra­tio­nen zu leben. Diese Gesprä­che möch­te ich aufneh­men und ihm bei jedem Besuch eini­ge Fragen mitbrin­gen. Seine Erzäh­lun­gen von früher berüh­ren mich und auch meine Kinder. Ich finde es span­nend und es entspricht meinem Geschichts­be­wusst­sein, dass wir einge­bun­den sind in etwas Ganzes mit Menschen, die vor uns gelebt haben und die auch nach uns leben werden. Dank dem ritua­li­sier­ten und alltäg­li­chen Erin­nern lerne ich zudem, mich mit meiner eige­nen Endlich­keit ausein­an­der­zu­set­zen, nicht nur an Allerheiligen.

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Ana Kontou­lis, zVg

Veröf­fent­li­chung: 23. Okto­ber 2024

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