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«Es braucht den Mut der Bischöfe und den Druck von der Basis»

Über 2500 Perso­nen aus dem ganzen Bistum St.Gallen haben bereits die Erklä­rung “So nicht!» der Katho­li­schen Kirche in der Stadt St.Gallen unter­zeich­net. Ange­sichts der Miss­brauchs­fäl­le fordert die Bewe­gung einen ­Kultur- und Struk­tur­wan­del in der Kirche.

2514 Perso­nen haben auf reformenjetzt.ch die Akti­on «So nicht» unter­zeich­net (Stand Redak­ti­ons­schluss 13. Okto­ber). Darun­ter Menschen aus urba­nen Pfar­rei­en wie Rappers­wil oder Wil, aber auch aus länd­li­chen Regio­nen wie dem Walen­see oder Sargan­ser­land. «In der Erklä­rung nennen wir mehre­re Punk­te, die zu einem Kultur­wan­del in der Katho­li­schen Kirche führen sollen», sagt Ann-Katrin Gäss­lein, eine der Initia­tin­nen. “Wir stel­len die Macht­fra­ge, die Sexu­al­mo­ral, das Pries­ter­bild, die Rolle der Frau und die Ausbildungs- und Perso­nal­po­li­tik in Frage, weil wir wissen, dass Kirche auch anders sein kann.» Ann-Katrin Gäss­lein ist katho­li­sche Theo­lo­gin und Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­le­rin. Sie arbei­tet für das Ressort «Kultur und Bildung» der Katho­li­schen Kirche im Lebens­raum St. Gallen. Anfangs rich­te­te sich die Bewe­gung an Gläu­bi­ge, frei­wil­lig Enga­gier­te und kirch­li­che Mitar­bei­ten­de in der Stadt St. Gallen. Das Echo war gross, deshalb wurde sie für Menschen im ganzen Bistum geöffnet.

Nicht gegen Kirchenrecht

Eines fällt beim Blick in die Reform­vor­stös­se gleich auf: Ganz heis­se Eisen wie das Pflicht­zö­li­bat oder die Zulas­sung der Frau­en zum Pries­ter­amt kommen nicht vor. «Das Pflicht­zö­li­bat wird oft als erstes genannt”, räumt Ann-Katrin Gäss­lein ein, “diese Entschei­dung liegt jedoch beim Papst. Unab­hän­gig davon, ob solche Anlie­gen berech­tigt sind, man kann es sich damit auch einfach machen: Man dele­giert es an “die da oben”. Wir setzen auf einen ande­ren Stil: Wir werden als Basis aktiv.” Sie persön­lich sei skep­tisch, ob die Abschaf­fung des Pflicht­zö­li­bats das drin­gends­te Anlie­gen sei. “Viel drän­gen­der sind Themen wie die Gleich­stel­lung von Mann und Frau, Trans­pa­renz und Mitspra­che­mög­lich­kei­ten der Gläu­bi­gen, unse­rer katho­li­schen Basis.”

Teil der Lösung sein

Die St. Galler Reform­ak­ti­on ist nicht der erste Versuch: Initia­ti­ven wie «Kirche mit* den Frau­en», das schweiz­wei­te “Gebet am Donners­tag” für die Gleich­stel­lung, die deut­sche Akti­on “Maria 2.0”, die auch in der Schweiz Sympathisant*innen mobi­li­sier­te, oder die “Alli­anz gleich­wür­dig katho­lisch” haben schon vor Jahren versucht, Bischö­fe und den Papst zum Umden­ken zu brin­gen. Konkre­tes ist wenig passiert. Ist bei «So nicht!» der Frust nicht vorpro­gram­miert? “Diese Initia­ti­ven waren und sind wich­tig”, so Ann-Katrin Gäss­lein, “Unse­re Reform­vor­stös­se fokus­sie­ren auf Anlie­gen, die nach aktu­el­len kirchen­recht­li­chen Vorga­ben auch realis­tisch sind. Um sie umzu­set­zen, braucht es nur Mut vonsei­ten der Bischö­fe und der verant­wort­li­chen Gremi­en – sowie den Druck von der Basis, weder ein neues Konzil noch einen neuen Papst.» Ann-Katrin Gäss­lein hält fest: “Wir wollen nicht gegen den Bischof agie­ren. Wir über­le­gen uns schon im Vorfeld, was im Bistum konkret umsetz­bar ist. Wir wollen Teil der Lösung sein.” Darüber hinaus pocht sie auf die Verant­wor­tung der Leitungs­ebe­ne: „Wir erwar­ten, dass unse­re Schwei­zer Bischö­fe in Rom Spiel­raum für die Gestal­tung neuer Struk­tu­ren in der Orts­kir­che hart­nä­ckig einfordern.“

Feier in der Kathedrale

Anfang Okto­ber wurden die ersten Vorstös­se bei Bischof Markus Büchel, aber auch ande­ren Verant­wor­tungs­trä­gern wie dem Domde­kan oder dem Katho­li­schen Admi­nis­tra­ti­ons­rat einge­reicht. “Wir machen das öffent­lich und erwar­ten auch eine öffent­li­che Antwort”, sagt Ann-Katrin Gäss­lein. Unab­hän­gig davon seien in den nächs­ten Mona­ten verschie­de­ne Aktio­nen geplant. Und die Bewe­gung ist spiri­tu­ell veran­kert: Am Sonn­tag, 10. Dezem­ber 2023, um 16 Uhr findet eine Feier in der Kathe­dra­le St. Gallen statt. Gelei­tet wird sie von den beiden Theo­lo­gin­nen Hilde­gard Aepli und Stefa­nia Fenner sowie Dompfar­rer Beat Grög­li. Im Reform­pro­zess geht es laut den Verant­wort­li­chen auch darum, zusam­men zu stehen, sich zu stär­ken und zu verbin­den. Alle Mitfei­ern­den sind einge­la­den, eine Kerze mitzu­brin­gen. Aktu­ell werden laut Ann-Katrin Gäss­lein bereits weite­re Reform­vor­stös­se ausge­ar­bei­tet – unter ande­rem zum Thema Privat­le­ben: “Das Bistum soll künf­tig die part­ner­schaft­li­chen Bezie­hun­gen der Gläu­bi­gen und der Seel­sor­gen­den respek­tie­ren. Konkret: Bei den Gesprä­chen und Formu­la­ren, mit denen Seel­sor­gen­de bei der Berufs­ein­füh­rung im Bistum St.Gallen konfron­tiert werden, sollen die part­ner­schafl­ti­chen Bezie­hung kein Krite­ri­um für die Zulas­sung mehr sein.” So schnell wird es also nicht ruhig um die St.Galler Bewe­gung “So nicht!”.

Text: Stephan Sigg

Bild: zVg.

Veröf­fent­licht: 13. Okto­ber 2023

Zeitungs­in­se­rat, Trau­er­fei­er und Online-Petition

Der Miss­brauchs­skan­dal und das Verhal­ten der St.Galler Bischö­fe Markus Büchel und Ivo Fürer hat Betrof­fen­heit und Wut ausge­löst. Die Katho­li­sche Kirche St. Gallen setz­te neben der Online-Petition «So nicht!» auch mit einer Trau­er­fei­er und einem Zeitungs­in­se­rat ein Zeichen: Rund 500 Gläu­bi­ge trafen sich am 18. Septem­ber zu einer Art Trau­er­fei­er in der Kathe­dra­le St. Gallen und teil­ten Enttäu­schung und Wut, aber auch Hoff­nung. Im St. Galler Tagblatt forder­ten kirch­li­che Mitar­bei­ten­de in einem ganz­sei­ti­gen Inse­rat einen Struk­tur­wan­del – das Inse­rat wurde darauf auf Face­book und Insta­gram in der ganzen Deutsch­schweiz geteilt. Eini­ge Pfar­rei­en aus dem Bistum St. Gallen veröf­fent­lich­ten das Plakat in ihren Social-Media-Kanälen und auf ihren Websites.

Soll man Bettelnden etwas geben?

Viele kennen die Situa­ti­on nur allzu gut: Man läuft durch die Stadt und trifft auf Menschen, die einen nach Geld fragen. Etwas geben oder nicht? Die Entschei­dung ist nicht einfach – und hängt von ­unter­schied­li­chen Fakto­ren ab. Ich ­persön­lich gebe ­meis­tens den Betteln­den ­etwas: Manch­mal Geld, aber nicht immer.

Gute Erfah­rung habe ich gemacht, indem ich Menschen auch Essen kaufe, nach dem sie verlan­gen. Dies bot ich zum Beispiel einem jungen Mann am Bahn­hof an, der mich nach Geld frag­te. Er nahm das Ange­bot dankend an und es mach­te mir auch Freu­de, ihm etwas zu schen­ken, von dem ich wuss­te, dass es ihm wirk­lich dient. Ich denke, das ist meis­tens das Problem bei Bettel-Anfragen: Man ist sich nicht sicher, wofür die betteln­den Menschen das verlang­te Geld ausge­ben. Man möch­te sicher sein, dass es wirk­lich für die Befrie­di­gung von Grund­be­dürf­nis­sen ausge­ge­ben und nicht einfach als Taschen­geld benutzt wird. Einem betteln­den Menschen Natu­ra­li­en oder einen konkre­ten Einkauf anzu­bie­ten, erach­te ich als einen guten Kompromiss.

Das Erleb­nis mit dem jungen Mann am Bahn­hof hat in mir ein paar Über­le­gun­gen ausge­löst: Was sagt es über unse­re Gesell­schaft aus, wenn man gros­se Beden­ken hat, jeman­dem Geld zu geben, damit er sich etwas kaufen kann? Wir sind gegen­über Menschen, die betteln, kritisch einge­stellt. Oft vertrau­en wir ihnen nicht und haben ihnen gegen­über viele Vorur­tei­le. Das ist ganz normal und mensch­lich. Aber wieso soll man nicht gera­de die Vorur­tei­le über­win­den und etwas geben? Gera­de uns Chris­ten kann in diesem Zusam­men­hang das Gebot der Golde­nen Regel ein Leit­ge­dan­ke sein: Alles nun, was Ihr wollt, dass Euch die Menschen tun, das tut auch Ihr ihnen eben­so (Matthä­us 7,12).

Das Gebot fordert uns auf und lehrt uns, jeman­den so zu behan­deln, wie wir selbst gerne behan­delt werden wollen. In solchen Situa­tio­nen soll­ten wir uns immer wieder fragen: Wie sollen die Menschen uns behan­deln, wenn wir in Not sind? Wenn wir selber im Alltag in irgend­ei­ner Weise Hilfe benö­ti­gen, sind wir eben­falls froh, wenn uns gehol­fen wird, ohne gross zu fragen oder von uns etwas zu verlan­gen. Bei manchen sind sie offen­sicht­li­cher (wie zum Beispiel bei betteln­den Menschen) und bei manchen verbor­ge­ner. Warum also soll­ten wir nicht auch helfen, wenn ande­re in Not sind?

Und Hand aufs Herz: Die meis­ten von uns haben genug Geld, dass ein oder zwei Fran­ken wirk­lich entbehr­lich sind und man diese den betteln­den Menschen gut geben kann. Letzt­lich bleibt es aber natür­lich die freie Entschei­dung jeder einzel­nen Person, wie er oder sie in solchen Momen­ten reagiert.

Pascal Graf
Jugend­seel­sor­ger St. Gallen

Leser­fra­gen an info@pfarreiforum.ch

Veröf­fent­li­chung: 11. Okto­ber 2023

Sind religiöse Menschen engagierter?

Eine neue Studie unter­sucht den Zusam­men­hang zwischen Reli­gio­si­tät und Enga­ge­ment und kommt zum Schluss, dass reli­gi­ös prak­ti­zie­ren­de Menschen stär­ker frei­wil­lig tätig sind.

«Frei­wil­li­ge gesucht», «Haben Sie Zeit und wollen sich einbrin­gen?», «Wollen Sie sich ehren­amt­lich enga­gie­ren?» Wer im Inter­net über Orga­ni­sa­tio­nen oder Verei­ne recher­chiert, stösst oft auf solche Aussa­gen. Nicht zuletzt die Orga­ni­sa­to­ren von kirch­li­chen Veran­stal­tun­gen, wie etwa den Rorate-Frühstücken (im Bild: Altstät­ten), sind auf die Hilfe von Frei­wil­li­gen ange­wie­sen. Die Bereit­schaft ist in der Bevöl­ke­rung vorhan­den. Doch wer ist eigent­lich bereit, sich für die Gemein­schaft zu enga­gie­ren? Dieser Frage geht der Luzer­ner Reli­gi­ons­so­zio­lo­ge Anas­tas Oder­matt in einer Studie nach. Unter dem Titel «Reli­gi­on und Sozi­al­ka­pi­tal in der Schweiz. Zum eigen­wil­li­gen Zusam­men­hang zwischen Reli­gio­si­tät, Enga­ge­ment und Vertrau­en» unter­sucht der gebür­ti­ge St. Galler unter ande­rem, inwie­weit das sozia­le Enga­ge­ment von der Reli­gio­si­tät beein­flusst wird. Oder­matt kommt zum Schluss: Reli­gio­si­tät und frei­wil­li­ges Enga­ge­ment sind posi­tiv korre­liert. Vor allem die reli­giö­se Praxis, insbe­son­de­re der Gottes­dienst­be­such, verstärkt das frei­wil­li­ge Enga­ge­ment. Zudem zeigt die Studie, dass reli­gi­ös prak­ti­zie­ren­de Menschen sowohl im reli­giö­sen als auch im säku­la­ren Bereich stär­ker frei­wil­lig tätig sind.

Teil einer Grup­pe sein

Doch ist es wirk­lich so einfach? Enga­gie­ren sich gläu­bi­ge Menschen mehr? «Ja», sagt Jürg Wüst, Pfar­rei­be­auf­trag­ter aus Gommis­wald, auf Nach­fra­ge. «Die Bereit­schaft für frei­wil­li­ges Enga­ge­ment ist in den Pfar­rei­en grund­sätz­lich gross. Das spüren wir schon.» Kirch­gän­ger oder Menschen, die sich in Pfar­rei­en enga­gie­ren, such­ten die Inter­ak­ti­on mit der Gemein­schaft. «Sie suchen den Kontakt und wollen Teil einer Grup­pe sein, in die sie sich einbrin­gen können», so Wüst. Nach den Gottes­diens­ten biete sich dafür eine gute Gele­gen­heit. Ähnli­che Erfah­run­gen hat Susan­ne Baum­gart­ner von der ökume­ni­schen Gemein­de St. Gallen-Halden gemacht. Im Nähca­fé stel­len frei­wil­li­ge Helfe­rin­nen Inter­es­sier­ten ihre Zeit zur Verfü­gung. «Tenden­zi­ell enga­gie­ren sich bei uns mehr die Menschen mit reli­giö­sem Hinter­grund frei­wil­lig. Das hat auch mit der Kern­aus­sa­ge des Chris­ten­tums zu tun, dass wir unse­re Mitmen­schen lieben sollen  wie uns selbst», sagt Baum­gart­ner. Das Wir-Gefühl sei davon unab­hän­gig, auch durch den ökume­ni­schen Gedan­ken, in den vergan­ge­nen Jahr­zehn­ten in der Pfar­rei stark gewach­sen. «Bei uns im Quar­tier herrscht ein gros­ses Gemein­schafts­ge­fühl. Die Bereit­schaft zur Unter­stüt­zung ist extrem gross. Unab­hän­gig davon, ob die Menschen gläu­big sind oder nicht.» Auf die Mithil­fe von Frei­wil­li­gen ist auch Niklaus Fürer ange­wie­sen. Fürer orga­ni­siert in der Pfar­rei Abtwil-St. Jose­fen die Senio­ren­treffs mit Kaffee­stu­be. Diese wird von Frei­wil­li­gen betreut. «Es sind alles religiös-engagierte Frau­en. Auf ihre Unter­stüt­zung kann ich immer zählen», sagt Fürer. Er selber orga­ni­siert ehren­amt­lich das Programm des Senio­ren­treffs, unter ande­rem Vorträ­ge, Ausflü­ge und ande­re Zusam­men­künf­te. «Für mich ist es eine Befrie­di­gung, wenn ich älte­ren Menschen inter­es­san­te Themen und ein gemüt­li­ches Beisam­men­sein anbie­ten kann.»

Bereit­schaft gross

Bene­vol, die Fach­stel­le für frei­wil­li­ges Enga­ge­ment, regis­triert laut Projekt­ma­na­ger Ueli Ricken­bach pro Monat rund 100 neue Frei­wil­li­ge auf benevol-jobs.ch. «Die Bereit­schaft, sich ehren­amt­lich zu enga­gie­ren, ist nach wie vor gross», sagt Ricken­bach. Entschei­dend seien dabei die Stoss­rich­tun­gen der einzel­nen Grup­pie­run­gen, welche Anrei­ze diese setz­ten und wie die Zusam­men­ar­beit funk­tio­nie­re. «Die Verbun­den­heit mit einer Orga­ni­sa­ti­on, das Teilen dersel­ben Werte und das gemein­sa­me Bewe­gen sind Förder­fak­to­ren. Diese sind sicher­lich auch in der Kirche anzu­tref­fen», sagt Ricken­bach und ergänzt: «Beliebt sind Aufga­ben, die zeit­lich flexi­bel sind. ‹Lebens­lan­ge› Jobs sind weni­ger gefragt.» Entspre­chend würden die Orga­ni­sa­tio­nen heute auch mehr auf Projekt­ba­sis arbei­ten. Auch Jürg Wüst sagt: «Für Einzel­ein­sät­ze finden wir schnel­ler Frei­wil­li­ge. Bei länge­ren Einsät­zen oder Dauer­ein­sät­zen ist es schwie­ri­ger. Anschei­nend wollen sich die Leute heute nicht mehr allzu lang binden.»

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Pfar­rei Altstät­ten, R. Hang­art­ner
Veröf­fent­li­chung: 4. Okto­ber 2023

Neues Leben in Afrika

David Rütti­mann steht vor einem­ ­gros­sen Aben­teu­er. Während drei­er Jahre wird der St. Galler mit seiner Fami­lie in Kenia leben und bei der ­Ausbil­dung von Fach­kräf­ten helfen.

Ende August 2023: David Rütti­mann sitzt in seiner Werk­statt im Keller, den Lötkol­ben in der Hand. Es ist einer der weni­gen Räume im Haus, die noch voll einge­rich­tet sind. Die Zimmer haben sich in den vergan­ge­nen Wochen nach und nach geleert. Der Haus­rat wurde einge­la­gert. «Wir lassen alles auf uns zukom­men und nehmen eines nach dem ande­ren», sagt Rütti­mann und strahlt eine Ruhe und Gelas­sen­heit aus, die erstaunt. Denn: Sein Leben wird sich bald grund­le­gend ändern. David Rütti­mann wird für die kommen­den drei Jahre in Kenia leben und vor Ort sein Wissen als Elek­tro­tech­ni­ker weiter­ge­ben. «An der Basis. Dort, wo es auch wirk­lich gebraucht wird», sagt er. Als Entwick­lungs­hel­fer für das Schwei­zer Hilfs­werk Comun­do – entstan­den aus der Beth­le­hem Missi­on Immensee – wird der 54-Jährige am North Coast Medi­cal Trai­ning College Lehr­kräf­te in Faci­li­ty Manage­ment und Medi­zi­nal­tech­nik ausbil­den und unter ande­rem den Aufbau von Werk­stät­ten beglei­ten. Der Grund: In Kenia fehlen Fach­kräf­te für die Wartung und Repa­ra­tur von medi­zi­ni­schen Gerä­ten. «Die Gesund­heits­ein­rich­tun­gen sind zwar gut ausge­rüs­tet, aber die Hand­ha­bung und Repa­ra­tur der Appa­ra­tu­ren stellt die Mitar­bei­ten­den immer wieder vor Proble­me», sagt Rütti­mann. «Nicht nur, dass die Appa­ra­te dann nicht mehr zur Verfü­gung stehen, auch entste­hen so Unmen­gen an Abfall.»

Leben mit den Einheimischen

Auf seinem Einsatz wird David Rütti­mann von seiner Ehefrau und den beiden Kindern Anna, 15 Jahre, und Bram, 13 Jahre, beglei­tet. Physio­the­ra­peu­tin Will­emi­jn Rütti­mann wird zu 50 Prozent am College bei der medi­zi­ni­schen Ausbil­dung mitwir­ken. Die Reise führt die Fami­lie ins circa 80 Kilo­me­ter nörd­lich der Millio­nen­stadt Momba­sa gele­ge­ne Kili­fi – eine Stadt am Indi­schen Ozean mit rund 31000 Einwoh­ne­rin­nen und Einwoh­nern. Der künf­ti­ge Wohn­ort wurde bei einem Besuch im Febru­ar sorg­fäl­tig ausge­wählt, befin­det sich unweit des künf­ti­gen Arbeits­plat­zes und nahe einer inter­na­tio­na­len Schu­le. «Wir woll­ten mit unse­ren Kindern nicht in die Gross­stadt und auch nicht in einem Quar­tier wohnen, wo nur Auslän­der oder Menschen mit weis­ser Haut­far­be leben.» Die Fami­lie freut sich auf den Kontakt mit den «Locals». David Rütti­mann lernt seit einem halben Jahr die Landes­spra­che Swahi­li. «Die Spra­che ist immer auch ein Türöff­ner.» Und für Rütti­mann noch wich­ti­ger: «Die Menschen in der Landes­spra­che anzu­spre­chen, hat für mich viel mit Respekt zu tun.»

Extre­me Höhen und Tiefen

Zwei Koffer darf jedes Fami­li­en­mit­glied auf die Reise ins neue Leben mitneh­men. David Rütti­mann hat zusätz­lich noch Gerä­te und Werk­zeu­ge aus der Schweiz im Gepäck. «Es gibt zwar alles in Kenia. Die Quali­tät ist aller­dings nicht mit jener bei uns vergleich­bar.» David Rütti­mann und seine Frau wissen, dass der Umzug für die Kinder im Teen­ager­al­ter nicht einfach ist. Sie spre­chen die unter­schied­li­che Kultur an, die unbe­kann­te Spra­che, das unge­wohn­te Essen, die fehlen­den Freun­de. Diese Erfah­run­gen hat die Fami­lie bereits einmal gemacht. Von 2014 bis 2016 waren die Rüttimanns in Simbab­we im Einsatz. «Wir wissen, dass es nicht immer einfach werden wird. Die Inten­si­tät der Gefüh­le wird sehr viel grös­ser sein. Es wird unheim­lich viele Höhen und eben­so viele Tiefen geben.» Aber die vielen Erfah­run­gen würden alles wett­ma­chen: „Es ist keine Einbahn­stras­se. Wir werden viel aus dieser Zeit mitneh­men und von den Menschen dort lernen. Wir sehen es als Privi­leg, so tief in eine ande­re Kultur einzutauchen.»

Mitt­ler­wei­le wurden auch die letz­ten an den Wänden verblie­be­nen Bilder im Einfa­mi­li­en­haus in St. Gallen abge­hängt. Am 11. Septem­ber hiess es für die Rütti­manns: ab ins Flug­zeug und hinein ins neue Leben.

Infos: www.comundo.org/kenia

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Ana Kontou­lis
Veröf­fent­li­chung: 28. Septem­ber 2023

Selbstbewusstsein weht durch die alten Gassen

Lich­ten­steig hat den Wakker­preis 2023 des Schwei­zer Heimat­schut­zes erhal­ten. Was ist so beson­ders am Städt­chen im Toggen­burg? Auf Spuren­su­che vor Ort.

Es ist ein wunder­schö­ner Sommer­tag Ende August. Die Sonnen­strah­len wärmen die Haut schon in den frühen Morgen­stun­den. Im Städt­chen Lich­ten­steig am Fusse der Wasser­fl­uh hat der Tag längst begon­nen. Passan­tin­nen und Passan­ten queren auf leisen Sohlen die Stras­se, Laden­be­sit­zer wischen ihre Vorplät­ze, auf den Balko­nen der Wohn­häu­ser werden die Pflan­zen gegos­sen. Über den verwin­kel­ten Gäss­lein der Altstadt liegt an diesem Morgen eine idyl­li­sche Ruhe. Einzig ein Auto durch­bricht dann und wann die Stil­le. Reger Betrieb herrscht derweil bereits im Café Huber am Orts­ein­gang. Die Plät­ze auf der Terras­se sind rest­los belegt, die Ange­stell­ten haben alle Hände voll zu tun. Das Städt­li – wie Lich­ten­steig liebe­voll genannt wird – ist ein belieb­tes Ausflugs­ziel. Und es war in den vergan­ge­nen Wochen vermehrt im Gespräch. Denn: Lich­ten­steig hat den Wakker­preis 2023 erhal­ten. Der Heimat­schutz Schweiz hat das Städt­chen für seinen «Mut zur inno­va­ti­ven Bele­bung von leer­ste­hen­den Räumen» geehrt. Dadurch habe es zu einem «neu beleb­ten Selbst­be­wusst­sein» gefun­den. Beson­ders gewür­digt werden dabei der Einbe­zug der Bevöl­ke­rung sowie die viel­fäl­ti­gen Umnut­zun­gen von histo­ri­schen Gebäuden.

Verwal­tung macht Kultur Platz

Bei einem Spazier­gang durch die Altstadt – im Inven­tar schüt­zens­wer­ter Orts­bil­der der Schweiz enthal­ten – fallen den Besu­che­rin­nen und Besu­chern diese schö­nen und meist liebe­voll sanier­ten Altbau­ten direkt ins Auge. Arka­den und Bogen­gän­ge lassen einen in längst verges­se­ne Zeiten eintau­chen. Viele klei­ne Hand­wer­ker­be­trie­be und Verkaufs­lä­de­li bieten ihre Waren und Dienst­leis­tun­gen an. Das Ange­bot ist gross und viel­fäl­tig. Auch die Regio­na­li­tät fehlt nicht. Darauf, so scheint es, wird ein gros­ses Augen­merk gelegt. Der Schwei­zer Heimat­schutz nennt als posi­ti­ves Beispiel für die Stadt­ent­wick­lung die UBS-Filiale und das Rathaus. Das Rathaus aus dem 17. Jahr­hun­dert dien­te dereinst der Stadt als Sitz der Verwal­tung. Um allen Menschen den Zugang zu ermög­li­chen, wurde vor eini­gen Jahren ein Lift­einbau evalu­iert. Aufgrund der Kosten und des star­ken Eingriffs in die histo­ri­sche Substanz entschied sich die Stadt aller­dings dafür, nicht in die Reno­va­ti­on, sondern in den Erwerb des benach­bar­ten UBS-Gebäudes zu inves­tie­ren. 2018/2019 bezog die Stadt­ver­wal­tung die neuen Räume, das bishe­ri­ge Rathaus wurde zum «Rathaus für Kultur». Dieses bietet seit­her Platz für Krea­tiv­wirt­schaft und beher­bergt verschie­de­ne Ausstel­lun­gen. Als weite­res Beispiel hebt der Heimat­schutz die Umnut­zung des ehema­li­gen Post­ge­bäu­des hervor. Nach dem Auszug der Post 2016 wurde aus dem statt­li­chen Gebäu­de das Mach­er­zen­trum Toggen­burg. In den Räumen werden heute Coworking-Plätze ange­bo­ten. Ein Ange­bot, das den heuti­gen Arbeits­an­for­de­run­gen entspricht.

Die Verwal­tung hat neue Räume im ehema­li­gen Bank­ge­bäu­de bezo­gen, das Rathaus wurde zum «Rathaus für Kultur».

Neue Menschen anziehen

Mit seiner akti­ven Poli­tik nutze Lich­ten­steig die Möglich­keit, auf die bauli­che Entwick­lung Einfluss zu nehmen und die Nutzung in eine zukunfts­fä­hi­ge Rich­tung zu lenken, so der Heimat­schutz. Es gelin­ge, neue Menschen anzu­zie­hen, Einge­ses­se­ne zu halten, Kultur zu ermög­li­chen und so den Charak­ter eines urba­nen Zentrums auf dem Land wieder zu stär­ken. Mit der Stra­te­gie «Mini.Stadt 2025» stützt sich Lich­ten­steig gemäss eige­ner Aussa­ge für seine zukünf­ti­ge Entwick­lung auf ihre vorhan­de­nen Poten­zia­le. Augen­merk wird dabei auf die «einma­li­ge Archi­tek­tur, das kultu­rel­le Ange­bot, das Unter­neh­mer­tum sowie auf die muti­gen und inno­va­ti­ven Bürge­rin­nen und Bürger» gelegt. Und diese lassen sich immer wieder etwas einfal­len. Etwa einen Pop-up-Manufakturladen mit verschie­dens­ten Produk­ten von Schwei­zer Herstel­le­rin­nen und Herstel­lern und regio­na­len Produzenten.

Preis als Wertschätzung

Die Stadt Lich­ten­steig geht selbst­be­wusst mit dem Wakker­preis um. Auf der Website wird in gros­sen Lettern und an promi­nen­ter Stel­le darauf verwie­sen. Und das Bewusst­sein ist auch in der Bevöl­ke­rung vorhan­den. «Natür­lich wissen wir Lich­ten­stei­ge­rin­nen und Lich­ten­stei­ger, dass wir den Wakker­preis erhal­ten haben. Es freut uns sehr», sagt eine Passan­tin. Die Ehrung des Heimat­schut­zes sei eine Wert­schät­zung für sie und mache sich auch an den Besu­cher­zah­len bemerk­bar. «Wir hatten schon immer viele auswär­ti­ge Besu­che­rin­nen und Besu­cher. In diesem Jahr aber noch mehr. Das spüren wir schon. Aber wir Lich­ten­stei­ge­rin­nen und Lich­ten­stei­ger waren schon immer sehr inno­va­tiv» ruft die Frau noch zu, bevor sie in einem Haus­ein­gang verschwindet.

Text: Ales­sia Paga­ni
Bilder: Ana Kontou­lis
Veröf­fent­li­chung: 25. Septem­ber 2023

«Beide mussten noch wachsen»

An einem golde­nen Herbst­tag auf die Alp Sell­amatt: Die Lukas-Kapelle hat nicht nur archi­tek­to­nisch eine beson­de­re Ausstrah­lung, auch deren ­Namens­ge­bung ist nicht alltäg­lich. Für die Fami­lie Lötscher, Gast­ge­be­rin auf der Sell­amatt, ist die Berg­ka­pel­le von gros­ser, emotio­na­ler Bedeutung.

Der Bau dieser Kapel­le war ein lang ersehn­ter Wunsch unse­rer Fami­lie», sagt Magda­le­na Lötscher (50). Ihre Eltern Hanni und Valen­tin Lötscher führ­ten den Berg­gast­hof Sell­amatt in zwei­ter Gene­ra­ti­on und woll­ten aus Dank­bar­keit, für das, was sie erreicht haben, eine Kapel­le erbau­en lassen. «Es war aller­dings ein langer Weg, bis alle einver­stan­den waren mit dem Bauvor­ha­ben», erin­nert sich Magda­le­na. «Ich war gera­de mit unse­rem ältes­ten Sohn schwan­ger, als die Bauar­bei­ten im Jahr 2002 star­ten konn­ten. Als es zu einer Früh­ge­burt kam, hatten die Gross­eltern die Idee, die Kapel­le nach dem Namen ihres ersten Enkels zu benen­nen.» Es sei wie ein zufäl­li­ges Zeichen gewe­sen, «beide muss­ten noch wach­sen, Lukas und die Kapelle». 

Nach der Frühgeburt ihres ersten Sohnes haben Magdalena Lötscher und Franz Niederberger auf der Sellamatt in der Lukas-Kapelle geheiratet. Das war vor 20 Jahren. Bis heute prägt dieser Ort ihre Familiengeschichte ganz besonders.
Nach der Früh­ge­burt ihres ersten Sohnes haben Magda­le­na Lötscher und Franz Nieder­ber­ger auf der Alp Sell­amatt in der Lukas-Kapelle geheiratet. 

Stol­zer Namensgeber 

Und beides verlief wie erhofft: Lukas wurde kräf­ti­ger und das Baupro­jekt konn­te im darauf­fol­gen­den Jahr erfolg­reich abge­schlos­sen werden. Zur Krönung heira­te­ten die Eltern Magda­le­na Lötscher und Franz Nieder­ber­ger in eben dieser neu erbau­ten Kapel­le. Lukas Nieder­ber­ger ist mitt­ler­wei­le 21 Jahre alt, ausge­bil­de­ter Schrei­ner und aktu­ell in seiner Zweit­aus­bil­dung zum Zimmer­mann. Was bedeu­tet es für ihn persön­lich, dass die Kapel­le nach ihm benannt ist? «Es ist mir eine Ehre und erfüllt mich schon ein wenig mit Stolz», antwor­tet er. Denn schliess­lich habe nicht jeder eine Kapel­le, die ihm gewid­met sei. Er und seine Fami­lie besu­chen jedes Jahr den Weih­nachts­got­tes­dienst hier in der Kapel­le. «Seit ich grös­ser bin, darf ich manch­mal auch die Lesung lesen.» Beim Alpgot­tes­dienst im Juli komme er auch immer auf die Sell­amatt und als sein Gotti vor drei­zehn Jahren hier oben heira­te­te, durf­te er die Ringe über­ge­ben: «Das war sehr emotio­nal für mich.» Gene­rell bedeu­tet ihm dieser Ort und die Umge­bung sehr viel: «Die Aussicht an diesem Pätz­li ist einfach einma­lig. Im Norden der ganze Alpstein und im Süden die Churfirsten.»

Aus dem «Frühchen» Lukas ist ein lebensfroher, junger Mann geworden.
Aus dem «Früh­chen» Lukas ist ein lebens­fro­her, junger Mann geworden.

«Es ist mir eine Ehre und ­erfüllt mich schon ein wenig mit Stolz.»

Markant und begehrt

Die mit markan­ten Natur­stei­nen gebau­te Berg­ka­pel­le ähnelt einem Tessi­ner Grot­to. Der quadra­ti­sche Baukör­per und der frei­ste­hen­de Turm stehen an ausge­zeich­ne­ter Lage auf einem Vorsprung an der Lich­tung beim Gast­haus Sell­amatt auf 1400 m ü. M. Der gross­zü­gi­ge Fens­ter­kranz lässt die bezau­bern­de Natur durch­bli­cken und der Innen­raum ist mit behag­li­chem Holz ausge­klei­det. Gebaut wurde die Berg­ka­pel­le von der Archi­tek­tur­ge­mein­schaft Güttin­ger und Busch­or aus Watt­wil. Das Berg­gast­haus Sell­amatt verwal­tet und pflegt die Kapel­le. Die Nach­fra­ge für Hoch­zei­ten, Taufen und immer mehr auch für Abdan­kungs­fei­ern ist gross. Letz­te­re bieten sich insbe­son­de­re an, weil es neben der Kapel­le einen unkon­ven­tio­nel­len Fried­hof für Natur­be­stat­tun­gen gibt. Die Asche der Verstor­be­nen wird in die Erde unter einen Fels­stein gestreut. «Auch für Chor­pro­ben ist die Kapel­le sehr gefragt, weil die Akus­tik ideal ist», ergänzt Franz, der selbst im loka­len «Chur­firs­ten­chör­li» mitsingt.

«Erin­ne­rungs­bänk­li»

Seit diesem Sommer hat dieser Ort für die Fami­lie Lötscher noch eine zusätz­li­che Bedeu­tung erhal­ten. Die Gross­mutter von Lukas ist im Früh­jahr verstor­ben und im August hat die Fami­lie in der Kapel­le ihren Abschied gefei­ert und eine Gedenk­stät­te für sie errich­tet. Auf der Anhö­he vor der Kapel­le umrah­men zwei «Erin­ne­rungs­bänk­li» diesen einzig­ar­ti­gen Platz mit einem Ahorn­baum und einem Brun­nen. Toch­ter und Schwie­ger­sohn der Verstor­be­nen sind sich einig: «Es wäre ihr vergönnt gewe­sen, noch ein biss­chen länger den Ruhe­stand genies­sen zu können. Sie war stets hier oben und hat jeden Tag im Betrieb gearbeitet.»

In Gedenken an Hanni Lötscher (Grossmutter von Lukas) ist diese Gedenkstätte mit zwei Erinnerungsbänkli entstanden.
In Geden­ken an Hanni Lötscher (Gross­mutter von Lukas) ist diese Gedenk­stät­te mit zwei Erin­ne­rungs­bänk­li entstanden.

Besinn­li­cher Ort

Ihr Able­ben erin­nert Magda­le­na und Franz auch daran, das eige­ne Leben bewusst zu genies­sen und auch mal inne­zu­hal­ten. Magda­le­na sagt: «Ich gehe gerne in die Kapel­le, um meinen Gedan­ken nach­zu­ge­hen oder zu beten. Ich mag die Stil­le hier.» Für Franz ist die Kapel­le ein Kraft­ort, wo er Ener­gie auftan­ken kann und Distanz zum Alltags­stru­del findet: «Ich stel­le mir manch­mal vor, wie mein Leben und mein Umfeld in zwan­zig Jahren wohl ausse­hen werden. Wenn man über weite Zeit­span­nen voraus- und zurück­schaut, werden die aktu­el­len Sorgen oft kleiner.»

Alp Sell­amatt 

Die Anrei­se mit öffent­li­chen Verkehrs­mit­teln führt mit der Bahn von Wil nach Ness­lau. Ab Ness­lau fährt das Post­au­to nach Alt St. Johann. Die Alp Sell­amatt erreicht man ganz­jäh­rig mit der Berg­bahn. Die Kombi-Bahn mit offe­nen Vierer­ses­seln und geschlos­se­nen Gondeln führt von Alt St. Johann in sechs Minu­ten auf die Sell­amatt (1400 m ü. M.). Während des Sommer­be­trie­bes ist die gebüh­ren­pflich­ti­ge Alps­tras­se bis zur Alp Sell­amatt gut fahr­bar. Die Berg­sta­ti­on befin­det sich unmit­tel­bar neben dem roll­stuhl­gän­gi­gen Berg­ho­tel Sellamatt. 

Wander­emp­feh­lung 

Ausgangs­punkt für diese mode­ra­te Wande­rung ist der kosten­lo­se Park­platz bei der Talsta­ti­on der Sallamatt-Bahn in Alt St. Johann. Von hier aus geht es in 25 Gehmi­nu­ten nach Unter­was­ser. Dann führt ein stün­di­ger Anstieg hinauf zum Schwen­di­see im Natur­schutz­ge­biet. Das Ufer des Schwen­di­sees ist von Schilf gesäumt und bietet an beiden Enden Grill­mög­lich­kei­ten. Weiter geht es über Hinter­seen entlang des Klang­we­ges via Ilti­os zur Alp Sell­amatt (1 h). Der Abstieg zurück nach Alt St. Johann ist mit der Sellamatt-Bahn oder über die Wander­rou­te Chueweid-Pfruendwald (1 h) möglich. 

High­lights

Schwen­di­see, Klang­weg, Berg­pan­ora­ma auf der Sell­amatt mit Blick auf Alpstein mit Säntis und Churfirsten. 

Höhen­dif­fe­renz

500 Höhen­me­ter

Reine Wander­zeit 

3,5 Stun­den inklu­si­ve Abstieg nach Alt ­St.­­ Johann

Text: Katja Hongler

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 25.9.2023

Neue Wege der Mitwirkung

Papst Fran­zis­kus hat mit der Aargaue­rin Hele­na Jeppesen-Spuhler eine von zehn ­Perso­nen ­ernannt, die bei der Welt­syn­ode im Okto­ber in Rom die Kirche Euro­pas vertre­ten. Die ­Fastenaktion-Mitarbeiterin setzt sich für eine glaub­wür­di­ge und parti­zi­pa­ti­ve Kirche ein.

«Ich hoffe, dass die katho­li­sche Kirche dann ein diver­ses Gesicht haben darf, dass wir es schaf­fen, diese Fragen anzu­ge­hen: die Rolle der Frau und auch die des Einbe­zugs der quee­ren Menschen in der katho­li­schen Kirche. Ich hoffe auf mehr Diver­si­tät, mehr Stär­ke und Entschei­dungs­mög­lich­keit auf der loka­len Ebene», sagt Hele­na Jeppe­sen vor der Synode. 364 Perso­nen werden vom 4. bis 29. Okto­ber an der Welt­syn­ode in Rom teil­neh­men. Mit der Welt­syn­ode hat Papst Fran­zis­kus etwas Neues geschaf­fen. Erst­mals haben auch nicht­geweihte Männer und Frau­en ein Stimm­recht, obwohl es sich kirchen­recht­lich um eine Bischofs­synode handelt. Mit Jeppe­sen werden insge­samt 80 nicht bischöf­li­che Perso­nen an der Welt­syn­ode mit Stimm­recht teil­neh­men. Aus der Schweiz sind neben Hele­na Jeppe­sen Bischof Felix Gmür und Clai­re Jonard, Koor­di­na­to­rin für das Zentrum für Beru­fungs­pas­to­ral in der West­schweiz, dabei.«Ich hoffe, dass die katho­li­sche Kirche dann ein diver­ses Gesicht haben darf, dass wir es schaf­fen, diese Fragen anzu­ge­hen: die Rolle der Frau und auch die des Einbe­zugs der quee­ren Menschen in der katho­li­schen Kirche. Ich hoffe auf mehr Diver­si­tät, mehr Stär­ke und Entschei­dungs­mög­lich­keit auf der loka­len Ebene», sagt Hele­na Jeppe­sen vor der Synode. 364 Perso­nen werden vom 4. bis 29. Okto­ber an der Welt­syn­ode in Rom teil­neh­men. Mit der Welt­syn­ode hat Papst Fran­zis­kus etwas Neues geschaf­fen. Erst­mals haben auch nicht­geweihte Männer und Frau­en ein Stimm­recht, obwohl es sich kirchen­recht­lich um eine Bischofs­synode handelt. Mit Jeppe­sen werden insge­samt 80 nicht bischöf­li­che Perso­nen an der Welt­syn­ode mit Stimm­recht teil­neh­men. Aus der Schweiz sind neben Hele­na Jeppe­sen Bischof Felix Gmür und Clai­re Jonard, Koor­di­na­to­rin für das Zentrum für Beru­fungs­pas­to­ral in der West­schweiz, dabei.

Offe­ne Diskussionen

Die Miss­brauchs­kri­se und der Verlust der Glaub­wür­dig­keit der katho­li­schen Kirche sind die Themen, die Hele­na Jeppe­sen nach Rom mitnimmt: «Ich erwar­te, dass die syste­mi­schen Ursa­chen disku­tiert und ange­gan­gen werden.» Dabei hofft sie auf offe­ne Diskus­sio­nen und zukunfts­wei­sen­de Entschei­de. Es brau­che parti­zi­pa­ti­ve Entschei­dungs­pro­zes­se auf allen Ebenen. Katho­li­kin­nen und Katho­li­ken welt­weit hätten bei der synoda­len Befra­gung ausser­dem die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau­en in der Kirche als wich­ti­ges Anlie­gen klar geäussert.

Von Jugend­ar­beit geprägt

Hele­na Jeppe­sen ist stark geprägt von Erfah­run­gen in der kirch­li­chen Jugend­ar­beit. In Wisli­kofen im Kanton Aargau, wo sie aufwuchs, habe es eine sehr gute kirch­li­che Jugend­ar­bei­te­rin gehabt. Dank ihr hätten sie als Jugend­li­che selbst­stän­dig regio­na­le Oster­tref­fen und Jugend­treffs orga­ni­sie­ren können. «Da habe ich das Prin­zip Empower­ment selbst erlebt», sagt Hele­na Jeppe­sen. Das sei auch in der Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit für Fasten­ak­ti­on sehr wich­tig. Sie besuch­te in Luzern das Kate­che­ti­sche Insti­tut, das heuti­ge Reli­gi­ons­päd­ago­gi­sche Insti­tut (RPI) und arbei­te­te als Kate­che­tin und Jugend­ar­bei­te­rin. Dann wurde im Phil­ip­pi­nen­pro­gramm der Fasten­ak­ti­on eine Stel­le frei. Hele­na Jeppe­sen holte für diese Aufga­be berufs­be­glei­tend das Nach­di­plom für Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit an der ETH Zürich nach.

Fokus auf die Schwächsten

Die Synode will sich mit neuen Wege der Mitwir­kung der kirch­li­chen Basis bei wich­ti­gen Entschei­dun­gen in der katho­li­schen Kirche beschäf­ti­gen. Schon vor Beginn wird die Synode in kirch­li­chen Medi­en kontro­vers disku­tiert und Hoff­nun­gen und Befürch­tun­gen geteilt. «Es wird eine gros­se Heraus­for­de­rung sein, Offen­heit zu schaf­fen für lösungs­ori­en­tier­tes Arbei­ten und die Bereit­schaft, frei­mü­tig zu reden.» Dass Hele­na Jeppe­sen selbst keine Angst davor hat, hat sie bei der Vorver­samm­lung im Juni in Rom gezeigt: Bei der Pres­se­kon­fe­renz trat sie selbst­be­wusst auf und ergriff als einzi­ge nicht­ge­weih­te Person das Mikro­fon. «In solchen Situa­tio­nen kommt mir meine Erfah­rung in der Menschen­rechts­ar­beit bei der Fasten­ak­ti­on zugu­te», sagt sie, «das Fokus­sie­ren auf die Schwächs­ten und die Ausge­schlos­se­nen in einem Staat oder einer Orga­ni­sa­ti­on und das Vernet­zen mit ande­ren helfen mir die Angst vor einem über­mäch­ti­gen System zu überwinden.»

Franz Kreissl leitet das Pasto­ral­amt des ­Bistums St. Gallen.

«Menschen warten auf Antworten»

Franz Kreissl, wie blickt das Bistum St. Gallen der Synode entgegen?

Franz Kreissl: Wir hoffen, dass die Synode Grund­la­gen für mehr Synoda­li­tät – also Mitwir­kung und Betei­li­gung aller Gläu­bi­gen – in der Kirche schafft. Bevor konkre­te Themen disku­tiert werden können, muss Grund­sätz­li­ches geklärt werden: Wie kommen wir zu Entschei­dun­gen? Wer ist an Entschei­dun­gen betei­ligt? Wie schaf­fen wir es, entschei­dungs­fä­hig zu werden und zwar auf den verschie­de­nen Ebenen: Welt­kir­che, Bischofs­kon­fe­renz, Bistum?

Im Juni hat der Vati­kan ein ­Arbeits­pa­pier für die Synode veröf­fent­licht. Die Schwei­zer Bistü­mer haben dazu Stel­lung­nah­men verfasst. Welche Anlie­gen gibt das Bistum St. Gallen der Arbeits­grup­pe mit?

Franz Kreissl: Die Menschen warten auf Antwor­ten. Es reicht nicht, an der Synode einfach noch einmal über alles zu reden. Es muss nun darum gehen, entschei­dungs­fä­hig zu werden. Ein Beispiel ist die Frage der Regio­na­li­sie­rung: Die Möglich­keit, bei bestimm­ten Themen regio­na­le Lösun­gen zu finden. An vielen Punk­ten kommen wir nicht weiter, weil die Reali­tät in den verschie­de­nen Regio­nen der Welt nicht über­all die glei­che ist.

Wie präsent wird die Synode und deren Themen im Bistum St. Gallen sein?

Franz Kreissl: Konkret werden wir sie bereits beim Pasto­ral­fo­rum, der Tagung der Diöze­sa­nen Räte, im Novem­ber aufgrei­fen: Da werden wir uns unter ande­rem mit dem Thema kirch­li­che Spra­che beschäf­ti­gen: Wie muss sich die Spra­che in der Kirche verän­dern, damit sie die Menschen erreicht und verstan­den wird? Auch bei der Umfra­ge, die wir im Vorfeld der Synode durch­ge­führt haben, haben viele dieses Thema als eines der drin­gends­ten Anlie­gen genannt.

Text: Stephan Sigg

Bild: Chris­ti­an Merz (oben) / Regi­na Kühne (unten)

Veröf­fent­licht: 21.09.2023

«Es ist erschreckend und beschämend»

Der Bischof des Bistums St. Gallen hat am 13. Septem­ber zur Medi­en­kon­fe­renz in den Saal der Bischofs­woh­nung gela­den. «Es ist erschre­ckend und beschä­mend, was heraus­ge­kom­men ist», sagt Bischof Markus Büchel vor einer Schar Medi­en­schaf­fen­den über die Pilot-Studie – die Kame­ras auf ihn gerich­tet, die Mikro­fo­ne vor ihm auf dem Tisch.

Bischof Markus Büchel stellt sich den Fragen der Medi­en­schaf­fen­den – einen Tag nach­dem die schweiz­wei­te Pilot-Studie der Univer­si­tät Zürich über sexu­el­len Miss­brauch in der katho­li­schen Kirche publik gewor­den ist. «Ich fühle gros­sen Schmerz und werde alles daran­set­zen, dass die beschlos­se­nen Mass­nah­men grei­fen», sagt Bischof Markus Büchel. Die Studie brach­te erschre­cken­de Zahlen zum Vorschein. Zwischen 1950 und heute gab es schweiz­weit 1002 Fälle sexu­el­len Miss­brauchs in der katho­li­schen Kirche.

Fehler gemacht

Die Studie attes­tiert dem Bistum St. Gallen eine profes­sio­nel­le Führung des Archivs und eine voll­um­fäng­li­che Unter­stüt­zung durch den Archi­var. Die Archi­vie­rung der Akten des Fach­gre­mi­ums seien gar vorbild­haft. Die Studie zeigt aber auch zwei Fälle aus dem Bistum St. Gallen. Bischof Markus Büchel wirkt ange­spannt, als er am ovalen Tisch Auskunft gibt und den Anwe­sen­den Red und Antwort steht. «Ich habe Fehler gemacht. Einen gros­sen Fehler», sagt er mit gebro­che­ner Stim­me. «Dazu muss ich stehen.» Durch sein Verhal­ten seien Fälle baga­tel­li­siert und einer Vertu­schung Vorschub geleis­tet worden. «Das tut mir leid. Ich möch­te daraus lernen.» Bischof Ivo Fürer, Büchels Vorgän­ger, unter­liess es – so die Studie – trotz Hinwei­sen, einen beschul­dig­ten Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen zu melden bezie­hungs­wei­se mit Konse­quen­zen zu bele­gen. Büchel seiner­seits wird in der Studie vorge­wor­fen, nicht konse­quent genug gehan­delt zu haben.

Anders handeln

Bei seinem Amts­an­tritt habe er keine offe­nen Fälle über­ge­ben bekom­men, erklärt Büchel am Medi­en­ge­spräch. «Ich bin davon ausge­gan­gen, dass der Fall abge­schlos­sen ist.» Er habe es unter­las­sen, die Vorab­klä­run­gen durch Bischof Ivo Fürer erneut zu prüfen und zu handeln. «Es war der einzi­ge Fall, der mir vom Fach­gre­mi­um gemel­det wurde, den ich aber nicht ange­gan­gen bin.» Der Fall war seiner­zeit einer der ersten, den das 2002 von Bischof Ivo Fürer gegrün­de­te Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe behan­del­te. Seinen Vorgän­ger nimmt Markus Büchel teil­wei­se in Schutz. «Er nahm die Sache ernst und hat mit dem Beschul­dig­ten Gesprä­che geführt. Aber es gab eine Befan­gen­heit.» Zudem bestehe die Pflicht, solche Fälle in Rom zu melden, erst seit 2019. Büchel zeigt sich einsich­tig: «Ich hätte inten­si­ver handeln müssen. Heute hätte ich anders gehandelt.»

Mass­nah­men getroffen

Bei Miss­brauchs­fäl­len muss heute seitens der Kirche Straf­an­zei­ge bei der Poli­zei einge­reicht werden. Am Medi­en­ge­spräch sagt Bischof Markus Büchel, er wisse noch nicht, wer der Beschul­dig­te sei. Die Studie sei stark anony­mi­siert worden – auch zum Schutz der Betrof­fe­nen. Nur kurze Zeit später räumt das Bistum auf noch­ma­li­ge Nach­fra­ge ein: «Der betref­fen­de Pries­ter arbei­tet defi­ni­tiv nicht mehr in der Seel­sor­ge.» Wie Bischof Markus Büchel an der Pres­se­kon­fe­renz mitteilt, ist eine Vorun­ter­su­chung einge­lei­tet und eine Straf­an­zei­ge bei der Staats­an­walt­schaft einge­reicht worden. Er hoffe, dass nun Licht ins Dunkel und eine Rück­mel­dung aus Rom komme, so Büchel. Die Verant­wort­li­chen verwei­sen auf das laufen­de Verfah­ren, weite­re Auskünf­te sind deshalb nicht möglich. Für den Beschul­dig­ten gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Ein Jour­na­list stellt die Frage nach den persön­li­chen Konse­quen­zen für den St. Galler Bischof: Tritt er von seinem Amt zurück? Bischof Markus Büchel verneint, das sei vorerst noch kein Thema. Er wolle zuerst die Ergeb­nis­se der Vorun­ter­su­chung abwar­ten. «Wenn Rom meinen Rück­tritt fordert, werde ich zurücktreten.»

Aufde­cken und aufarbeiten

Wie Bischof Markus Büchel ausführt, wird die Rolle des Bistums St. Gallen im Bezug auf die Zusam­men­ar­beit mit dem Fach­gre­mi­um noch kriti­scher über­prüft. «Es ist beispiels­wei­se nicht rich­tig, wenn das Fach­gre­mi­um nur Bera­tungs­funk­ti­on hat.» Alle beschlos­se­nen Mass­nah­men (siehe Kasten) sollen auch im Bistum St.Gallen umge­setzt werden. Dieses verpflich­tet sich, die für die Umset­zung der Mass­nah­men nöti­gen Ressour­cen bereit­zu­stel­len. Der Bischof setze sich für «ein scho­nungs­lo­ses Aufde­cken und Aufar­bei­ten des sexu­el­len Miss­brauchs im Bistum St. Gallen» ein.

«Ich glau­be dem Bischof»

An der Pres­se­kon­fe­renz ist auch Vreni Pete­rer anwe­send. Die 62-Jährige ist Präsi­den­tin der Inter­es­sen­ge­mein­schaft für Miss­brauchs­be­trof­fe­ne im kirch­li­chen Umfeld (IG-MikU) und selbst Betrof­fe­ne. Aufmerk­sam lauscht sie den Ausfüh­run­gen des St. Galler Bischofs. «Ich nehme ihm die Entschul­di­gung ab und glau­be dem Bischof, wenn er sagt, es täte ihm leid», sagt Pete­rer nach dem Medi­en­ge­spräch auf Nach­fra­ge. «Ja, er hat einen gros­sen Fehler gemacht. Ich denke jedoch, dass er nicht wirk­lich vorsätz­lich vertuscht hat. Er hat aber im entschei­den­den Moment nicht rich­tig gehan­delt bezie­hungs­wei­se nicht hinge­schaut und nicht gehan­delt.» Enttäuscht und scho­ckiert ist sie vom Vorge­hen von Bischof Ivo Fürer, der das Fach­gre­mi­um mehr­mals vertrös­tet habe. «Im Nach­hin­ein wirkt sein dama­li­ger Auftrag zur Grün­dung des Fach­gre­mi­ums auf mich wie eine Alibi­übung.» Wie sie zuvor am Medi­en­ge­spräch ausführt, habe sie in ihrer Funk­ti­on mehr­mals von Betrof­fe­nen gehört, dass deren Glaub­wür­dig­keit in Frage gestellt wurde. «Das darf nicht sein. Wich­tig ist, dass den Betrof­fe­nen geglaubt wird.» Sie erwar­te nun die nöti­ge Profes­sio­na­li­tät der Verant­wor­tungs­trä­ger. «Diese müssen den Mut haben, Fehler einzu­ge­ste­hen und sich und ihr Verhal­ten zu korrigieren.»

Forde­rung der IG-MikU

Vreni Pete­rer begrüsst die Mass­nah­men des Bistums. «Jede Mass­nah­me bringt uns einen Schritt weiter und hilft, die Schwel­le für weite­re Miss­bräu­che höher zu legen.» Dennoch hofft sie, dass noch weite­re Anstren­gun­gen seitens der Katho­li­schen Kirche unter­nom­men werden. Die IG-Miku fordert, dass die Bevöl­ke­rung nun nicht allei­ne gelas­sen wird. Gemeint sind all jene Menschen, die nicht unmit­tel­bar betrof­fen, aber dennoch verun­si­chert und ergrif­fen sind. «Es tun sich nun Fragen auf wie: Wem kann ich über­haupt noch vertrau­en? Diese Menschen müssen aufge­fan­gen werden.» Denk­bar wären etwa Infor­ma­ti­ons­aben­de. Pete­rer sieht auch die Pfar­rei­en in der Pflicht. «Die Ange­bo­te sollen auch von der Basis kommen.» 

Konkre­te Massnahmen

Bischof Joseph Maria Bonn­emain, der bei der Medi­en­kon­fe­renz in Zürich die Bischofs­kon­fe­renz vertrat, kündig­te konkre­te Mass­nah­men an. Unter ande­rem sollen für Betrof­fe­ne schweiz­weit profes­sio­nel­le Ange­bo­te geschaf­fen werden, bei denen sie Miss­bräu­che melden können. Künf­ti­ge Pries­ter, stän­di­ge Diako­ne, Mitglie­der von Ordens­ge­mein­schaf­ten und weite­re Seel­sor­gen­de sollen im Rahmen ihrer Ausbil­dung stan­dar­di­sier­te psycho­lo­gi­sche Abklä­run­gen durch­lau­fen. In einer schrift­li­chen Selbst­ver­pflich­tung erklä­ren alle kirch­li­chen Verant­wort­li­chen an der Spit­ze von Bistü­mern, Landes­kir­chen und Ordens­ge­mein­schaf­ten, keine Akten mehr zu vernich­ten, die im Zusam­men­hang mit Miss­brauchs­fäl­len stehen oder den Umgang damit doku­men­tie­ren. Die Studie wird im Janu­ar 2024 mit einem vier­jäh­ri­gen Folge­pro­jekt fortgesetzt.

Text: Ales­sia Paga­ni / Stephan Sigg

Foto: Regi­na Kühne

Veröf­fent­licht: 14.09.2023

Zeit­zeu­gen gesucht

Die Forsche­rin­nen und Forscher bieten eine öffent­li­che Ring­vor­le­sung an der Univer­si­tät Zürich an (Start: 28. Septem­ber). Ausser­dem rufen sie Zeit­zeu­gin­nen und Zeit­zeu­gen auf, sich für die weite­re Forschung zu melden: forschung-missbrauch@hist.uzh.ch

Anlauf­stel­len für Betrof­fe­ne von sexu­el­len Miss­brauch im kirch­li­chen Umfeld:

www.missbrauch-kath-info.ch

www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch

Infor­ma­tio­nen und Kontakt­adres­sen Fach­gre­mi­um des Bistum St.Gallen

«Zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe»

«So schmerz­haft es sein mag, wir müssen uns den Tatsa­chen stel­len», schreibt Bischof Markus Büchel in einem offe­nen Brief an alle Mitar­bei­ten­de in der Seel­sor­ge sowie frei­wil­lig und ehren­amt­lich Enga­gier­te weni­ge Tage nach Präsen­ta­ti­on der Pilot-Studie zum sexu­el­len Miss­brauch — das Pfar­rei­fo­rum konn­te Auszü­ge aus dem Brief vorab lesen. Der Bischof zeigt sich in seinem Brief selbst­kri­tisch: «Ich ganz persön­lich muss zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe.» Ihm sei «sehr bewusst, dass durch jeden einzel­nen Fall von sexu­el­lem Miss­brauch Menschen in ihrem Leben und Glau­ben verun­si­chert und teil­wei­se aus der Bahn gewor­fen werden.»

Perspek­ti­ven­wech­sel

Wie beim Medi­en­ge­spräch in St. Gallen betont der St. Galler Bischof auch in seinem Brief, «der Respekt vor den Opfern gebie­tet es, sich mit den Ergeb­nis­sen der Studie zu befas­sen», es brau­che einen Perspek­ti­ven­wech­sel. Was er darun­ter versteht und wie das genau gesche­hen soll, führt er nicht aus. Er zählt noch­mals alle Mass­nah­men auf, die die Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz beschlos­sen hat und weist darauf hin, dass sie entschlos­sen seien, «in den Themen der Macht­fra­gen, der Sexu­al­mo­ral, des Priester- und Frau­en­bil­des wie der Ausbil­dung und Perso­nal­aus­wahl konkre­te Schrit­te zu unter­neh­men, die auch in der Studie einge­for­dert werden».

Die Fälle im Bistum St. Gallen

In die Studie wurden zwei Fälle, die das Bistum St. Gallen betref­fen, aufge­nom­men: Idda­heim in Lütis­burg (Studie, S. 69 bis 71): Beschrie­ben sind Meldun­gen zahl­rei­cher Fälle psychi­scher, physi­scher und sexu­el­ler Gewalt unter ande­rem im Zeit­raum zwischen 1978 und 1988, durch einen der Direk­to­ren, ein Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen. Weiter beschreibt die Studie Berich­te von sexu­el­len Über­grif­fen und Gewalt durch einen Erzie­her und einen Gärt­ner (zwischen 1964 bis 1971) sowie durch Menzin­ger Schwes­tern. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Das heuti­ge Kinder­dörf­li Lütis­burg ist seit vielen Jahren nicht mehr unter kirch­li­cher Führung.

Der Fall E.M. (Pseud­onym, S. 96 bis 100): Im Jahr 2002, als das Fach­gre­mi­um erst­mals einge­setzt wurde, melde­te eine Frau länger zurück­lie­gen­de Über­grif­fe des Pries­ters E.M.. Es fanden Gesprä­che mit dem Beschul­dig­ten und Ivo Fürer, dem dama­li­gen Bischof, statt. Da E.M. die gegen ihn erho­be­nen Vorwür­fe bestritt und sich die Anschul­di­gun­gen nicht erhär­te­ten, schie­nen sich diese zu entkräf­ten. Weni­ge Wochen später gab es weite­re Hinwei­se durch eine ehema­li­ge Heim­mit­ar­bei­te­rin, worauf das Fach­gre­mi­um Empfeh­lun­gen an Bischof Fürer aussprach. Das Fach­gre­mi­um stell­te zudem klar, dass es nicht Unter­su­chungs­be­hör­de sein kann. Trotz eindeu­ti­ger Empfeh­lun­gen durch das Fach­gre­mi­um St. Gallen und jenes der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz (SBK) unter­nahm der dama­li­ge Bischof keine weite­ren Schrit­te; E.M. erhielt eine weite­re Stel­le. Bis 2009 war er zusätz­lich in einer Funk­ti­on im Bistum ange­stellt. Im April 2010 feier­te E.M. zusam­men mit dem neuen Bischof Markus Büchel eine Messe. Dies führ­te bei einer betrof­fe­nen Person zu einer hefti­gen emotio­na­len Reak­ti­on, worauf sie sich beim Fach­gre­mi­um melde­te. 2012 wurde E.M. zwar versetzt, aber trotz­dem in verschie­de­nen Gemein­den als Seel­sor­ger einge­setzt. Noch im Janu­ar 2023 sind gemäss Studie Eucha­ris­tie­fei­ern mit E.M. fest­ge­hal­ten. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. (Bistum St.Gallen / ssi)

Hinter­grund: Dossier mit allen Infor­ma­tio­nen zur Pilot-Studie und den bishe­ri­gen Mass­nah­men im Bistum St.Gallen

Studie Aufarbeitung Sexueller Missbrauch

Am 12. Septem­ber 2023 präsen­tiert ein Forschungs­team des Histo­ri­schen Semi­nars der Univer­si­tät Zürich eine Vorstu­die zur Aufar­bei­tung sexua­li­sier­ter Gewalt in der katho­li­schen Kirche seit den 1950er-Jahren.

«Gros­ses Spek­trum von Fällen sexu­el­len Miss­brauchs im Umfeld der katho­li­schen Kirche»

Am 12. Septem­ber stell­te das Forschungs­team der Univer­si­tät Zürich die Ergeb­nis­se der Pilot­stu­die zur sexua­li­sier­ten Gewalt in der katho­li­schen Kirche Schweiz vor.

Resul­ta­te der Studie (Website Univer­si­tät Zürich)

Das Pfar­rei­fo­rum hat in den letz­ten Jahren mehr­mals über das Thema berich­tet (Auswahl):

Infos Histo­ri­sche Studie

Website Fach­gre­mi­ums «Sexu­el­le Über­grif­fe im kirch­li­chen Umfeld» der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz www.missbrauch-kath-info.ch

Kontakt­adres­sen:

Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe des Bistums St.Gallen www.bistum-stgallen.ch/kontakt/fachgremium-uebergriffe/

Inter­es­sen­ge­mein­schaft für miss­brauchs­be­trof­fe­ne Menschen im kirch­li­chen Umfeld (IG Mi-Ku) www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch

Zusam­men­stel­lung: Stephan Sigg

Veröf­fent­li­chung: 23.08.2023 (letz­te Aktua­li­sie­rung: 12.09.2023)

Bananen retten mit dem Smartphone

Es gibt auch gute Nach­rich­ten bezüg­lich Food­was­te: Mit Chats und Apps kann heute jeder Einzel­ne helfen, Obst und Gemü­se sowie Mahl­zei­ten vor der Müll­ton­ne zu retten. So kann «Ernte­dank» ganz konkret gelebt werden.

Kirschen: zu klein für Handel, Eier: zu klei­nes Kali­ber, Blau­bee­ren: Retouren, Bana­nen: zu gelb für Handel», so liest sich die aktu­el­le Mängel­lis­te, die Ivo Streiff (52) von «Foodchat.ch» jeweils seinen Kunden in Gais, Heris­au oder St. Gallen schickt. «Wir verkau­fen Gemü­se und Früch­te mit Mängeln oder aus Über­pro­duk­ti­on und vermei­den so, dass tonnen­wei­se Lebens­mit­tel im Abfall landen.» Der Jurist und ehema­li­ge Versi­che­rungs­ma­na­ger hat seine Geschäfts­idee bei einem Glas Wein mit einem guten Freund und Lebens­mit­tel­händ­ler entwi­ckelt. «Er hat mir an jenem Abend erzählt, dass er zwei Tonnen beste Trau­ben wegschmeis­sen müsse. Ich habe dann kurzer­hand einen Grup­pen­chat für das ganze Dorf orga­ni­siert, um die Früch­te an verschie­de­ne Abneh­mer auszuliefern.» 

Obst und Gemü­se mit Handicap

Die Geschich­te mit den Trau­ben ist leider kein Einzel­fall. Oft wird einwand­frei­es Gemü­se und Obst wegge­wor­fen, nur weil es nicht der Optik entspricht oder über­schüs­sig produ­ziert wurde. Laut Medi­en­mit­tei­lung des Bundes­ra­tes wird fast ein Drit­tel der für den Schwei­zer Konsum produ­zier­ten Lebens­mit­tel verschwen­det oder unnö­tig wegge­wor­fen. Dies entspricht rund 330 Kilo­gramm Abfall pro Kopf und Jahr. Mit dem nach­hal­ti­gen Geschäfts­mo­dell konn­te «Food­chat» im letz­ten Jahr 300 Tonnen Frisch­pro­duk­te retten. Inter­es­sier­te können sich auf der Website für den Gruppen-Chat regis­trie­ren. Streiff infor­miert sie dann über die aktu­el­len Ange­bo­te, inklu­si­ve Herkunft, Preis und «Handi­cap». Mitt­ler­wei­le bedient der Thur­gau­er 20 Stand­or­te in der Ostschweiz und stösst allmäh­lich an seine Kapa­zi­täts­gren­zen. «Ich bin Montag bis Frei­tag unter­wegs und verkau­fe die Frisch­pro­duk­te über die Rampe meines Liefer­wa­gens und abends fülle ich das Lager mit neuen Produk­ten auf, die palet­ten­wei­se ange­lie­fert werden». Nun steht der nächs­te Schritt an: «Ich werde eine zusätz­li­che Person anstel­len und einen grös­se­ren Liefer­wa­gen anschaffen.» Der Erfolg seiner drei­jäh­ri­gen Firma ist auch auf seiner Whatsapp-Liste offen­sicht­lich: «Ich habe mitt­ler­wei­le 10 000 Kontakte.» 

Mahl­zei­ten retten

Im April 2022 hat der Bundes­rat einen Akti­ons­plan verab­schie­det mit dem Ziel, die Lebens­mit­tel­ver­schwen­dung bis 2030 im Vergleich zu 2017 zu halbie­ren. Er rich­tet sich an alle Unter­neh­men und Orga­ni­sa­tio­nen der Lebens­mit­tel­bran­che sowie an Bund, Kanto­ne und Gemein­den. Eine von vielen Akteu­ren ist die welt­wei­te Orga­ni­sa­ti­on «Too Good to Go». Mit Hilfe dieser App können unver­kauf­te Lebens­mit­tel von Geschäf­ten und Restau­rants vor dem Wegwer­fen verschont werden. Die App ist seit 2018 in der Schweiz aktiv und entwi­ckel­te sich in kürzes­ter Zeit zur bekann­tes­ten Marke im Kampf gegen Food­was­te. Laut Unter­neh­men zählt sie über 2 Millio­nen User*innen in der Schweiz und arbei­tet mit mehr als 7100 Part­ner­be­trie­ben zusam­men, darun­ter auch Migros und Coop. In den vergan­gen fünf Jahren konn­ten bereits über acht Millio­nen «Mahl­zei­ten­päck­li» geret­tet werden. 

Bewusst einkau­fen

Was kann ich als einzel­ner schon bewe­gen? Eigent­lich sehr viel! Mit rund einem Drit­tel Anteil am Food­was­te gehört der Endkon­su­ment zu den Haupt­ver­ur­sa­chern. Es liegt letzt­lich in der Verant­wor­tung jedes einzel­nen Haus­halts, einen umsich­ti­gen Umgang mit unse­ren Lebens­mit­teln zu pfle­gen. Bewusst einkau­fen lohnt sich für die Umwelt sowie das Haus­halts­bud­get. Und manch­mal geht es sogar fast ganz gratis: Lässt die Nach­ba­rin an ihren Sträu­chern oder Bäumen das Obst oder das Gemü­se verder­ben? Warum frage ich sie nicht, ob ich das für sie über­neh­men und das Geern­te­te verwen­den darf? 

Herbst­zeit ist Ernte­zeit – in den Pfar­rei­en wird Ernte­dank gefei­ert und die ökume­ni­sche Akti­on «Schöp­fungs­zeit» sensi­bi­li­siert für Schöp­fungs­ver­ant­wor­tung – der idea­le Zeit­punkt, um Apps gegen Food­was­te zu instal­lie­ren oder das Einkaufs­ver­hal­ten unter die Lupe zu nehmen. Tipps von WWF gegen Foodwaste:

– bewusst Gemü­se und Obst kaufen, das nicht perfekt ist: z. B. eine App instal­lie­ren, die unper­fek­tes Gemü­se und Obst verkauft

– Unnö­ti­ge Einkäu­fe vermei­den = Blick in Kühl­schrank vor dem Einkaufen

– Einkäu­fe planen: Menü­plan und Einkaufs­lis­te erstellen

– Frisches kaufen: Lieber häufi­ger, dafür geziel­ter einkaufen

– Verfall­da­tum hinter­fra­gen: Zuerst testen, ob abge­lau­fe­ne Produk­te wirk­lich nicht mehr geniess­bar sind

Text: Katja Hongler

Bild: pixabay.com

Veröf­fent­licht: 11. Septem­ber 2023

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