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Nicht die Aufklärung spaltet …

Offe­ner Brief von Bischof Markus Büchel an die Gläubigen

Seit eini­gen Jahren werden die tiefen Wunden sicht­bar, welche durch zahl­rei­che Über­grif­fe den meist jungen Menschen zuge­fügt wurden, die unschul­dig zu Opfern wurden. Jede und jeder Einzel­ne ist eine oder einer zu viel. Das alles ist nicht neu und dennoch macht mich das Ausmass und die Grau­sam­keit sprach­los. Die Täter haben ihren kirch­li­chen Auftrag miss­braucht und Abhän­gig­kei­ten ausge­nutzt. Undurch­schau­ba­re Struk­tu­ren und irre­ge­lei­te­te Rück­sicht auf den Ruf der Kirche mach­ten es möglich, die Verbre­chen zu vertu­schen, das Leid der Opfer zu verdrän­gen und damit noch zu vergrössern.

Deshalb drücke ich es ganz deut­lich aus: Nicht die Aufklä­rung verletzt die Menschen und spal­tet die Kirche, sondern die Verbre­chen der sexu­el­len Gewalt und ihre Vertu­schung. Meine Anteil­nah­me und mein Gebet gilt in erster Linie allen, die an Leib und Seele geschä­digt und verletzt wurden.

Wenn Menschen in dieser Situa­ti­on ihr Vertrau­en in die Kirche verlie­ren und sie verlas­sen, muss ich das akzep­tie­ren. In den letz­ten Mona­ten wird mir in Gesprä­chen und Begeg­nun­gen aber auch immer klarer, wie viele die tiefe Beschä­mung und Erschüt­te­rung mit mir teilen, weil sie die Kirche lieben und in ihr Heimat gefun­den haben. Sie möch­ten die Kirche nicht verlas­sen, sondern alles tun, um sie zu einer Gemein­schaft zu machen, in der Menschen Nähe und Zunei­gung erle­ben, wo sie Gehör finden und mit ande­ren im Glau­ben unter­wegs sind.

Mein Mitge­fühl rich­tet sich deshalb auch an alle jene, die selber zwar unschul­dig, als Mitglie­der unse­rer Kirche aber mit betrof­fen sind und unter den notwen­di­gen und trotz­dem leid­vol­len Veröf­fent­li­chun­gen leiden. Mein Dank gilt ihnen für ihre Treue und ihren weite­ren Einsatz.

Mir ist sehr bewusst, dass der Scha­den, der ange­rich­tet wurde, durch finan­zi­el­le Genug­tu­ung und ande­re Hilfen für die Opfer nur in klei­nem Umfang aufge­fan­gen werden kann. Trotz­dem ist es mir wich­tig, deut­li­che Akzen­te zu setzen und alles zu tun, um künf­ti­ge Verbre­chen zu verhindern.

1. Aufklä­rung ist schmerz­haft, aber notwen­dig – für die Opfer und für die gesam­te Gemein­schaft der Glau­ben­den. Deshalb bin ich sehr froh, dass in unse­rem Bistum bereits seit 2002 das «Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe» einge­rich­tet ist und wert­vol­le Arbeit leis­tet. Die Ansprech­per­so­nen haben schon viele Gesprä­che geführt und teil­wei­se erschüt­tern­de Erleb­nis­se aufge­nom­men. Mir ist es ein Anlie­gen, dass alle Menschen in unse­rem Bistum wissen, an wen sie sich in akuter Not oder mit Fragen und Anlie­gen wenden können. (www.bistum-stgallen.ch/schutz)

2. Der viel­fach geäus­ser­ten Forde­rung nach einem «Perspek­ti­ven­wech­sel» schlies­se ich mich aus tiefer Über­zeu­gung an. Nicht die Sorge um den guten Ruf der Kirche und den Schutz der Täter darf an erster Stel­le stehen. Die Perspek­ti­ve der Opfer und der Blick auf ihr Leiden samt Aufar­bei­tung und Genug­tu­ung muss unser erstes Anlie­gen sein.

3. Dazu gehört für mich auch die Bereit­schaft, über die struk­tu­rel­len Voraus­set­zun­gen dafür zu spre­chen, dass gera­de in der Kirche Täter so lang geschützt und verbor­gen werden konn­ten und Opfer nicht gehört wurden.  Der Miss­brauch spiri­tu­el­ler Macht und die Möglich­keit der Verheim­li­chung wegen fehlen­der Kontroll­me­cha­nis­men müssen thema­ti­siert und ange­gan­gen werden.

4. Schliess­lich müssen wir endlich unse­ren Umgang mit der Sexua­li­tät auf den Prüf­stand stel­len. Viel zu lange haben wir sie nicht wie ein Gottes­ge­schenk, sondern wie eine Geis­sel der Mensch­heit behan­delt. Unter­drü­ckung und Miss­brauch liegen da ganz eng beiein­an­der. Deshalb sehe ich gera­de in der Ausbil­dung und in der Weiter­bil­dung kirch­li­cher Beru­fe gros­sen Handlungsbedarf.

Liebe Schwes­tern und Brüder, weni­ge Worte zu einem gros­sen, schwie­ri­gen und leid­vol­len Thema. Ihrer Gren­zen bin ich mir sehr bewusst. Umso mehr vertraue ich darauf, dass Gott uns den Weg weisen wird, wenn wir bereit sind, auf ihn zu hören.

Im Gebet verbun­den grüs­se ich Sie herzlich

Autor: Bischof Markus Büchel

Veröf­fent­lich: April 2019

«Ein wichtiges Signal»

Fran­zis­ka Gschwend leite­te Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe im Bistum St.Gallen von 2014–2020.

«Mich beein­druckt, mit welcher Ernst­haf­tig­keit sich das Bistum mit dem Thema ausein­an­der­setzt», sagt Fran­zis­ka Gschwend. Die Juris­tin leitet seit drei Jahren das Fach- gremi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe im Bis- tum St.Gallen. Es sei oft ein gros­ser Schritt, bis sich ein Opfer an das Fach­gre­mi­um wendet. Meist liegen die Fälle viele Jahre zurück. «Die Betrof­fe­nen, die mit uns Kontakt aufneh­men, haben den Miss- brauch oft jahr­zehn­te­lang mit sich rumge­tra­gen», sagt Fran­zis­ka Gschwend. Die Medi­en­be­rich­te über die Miss­brauchs­fäl­le hätten dazu beigetra­gen, dass das Thema entta­bui­siert wurde. «Vielen Betrof­fe­nen ist bewusst gewor­den, dass sie nicht die einzi­gen sind. Sie wurden ermu­tigt, ihren Fall auch endlich zur Spra­che zu brin­gen.» Fran­zis­ka Gschwend möch­te keine expli­zi­te Anzahl der Perso­nen, die sich jedes Jahr beim Gremi­um melden, nennen: «Zahlen allein sagen nichts aus und erwe­cken schnell einen falschen Eindruck. Und gera­de weil es stark von der media­len Bericht­erstat­tung abhängt, sind es in einem Jahr plötz­lich viel mehr Fälle als in ande­ren Jahren. Nur so viel: Es sind verein­zel­te.» Nach dem Erst­ge­spräch klärt das Fach­gre­mi­um ab, wie dem Opfer gehol­fen werden kann und welche Schrit­te sinn­voll sind. «In vielen Fällen sind die Täter bereits verstorben.»

Entschä­di­gung oft zweitrangig

In den vergan­ge­nen Jahren hat sich die Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz ( SBK ) inten­siv mit der Aufar­bei­tung der Miss­brauchs­fäl­le beschäf­tigt. 2016 rich­te­te sie einen Fonds ein, aus dem Genug­tu­ungs­bei­trä­ge an Opfer von verjähr­ten sexu­el­len Über­grif­fen im kirch­li­chen Umfeld ausge­rich­tet werden können. «Für mich persön­lich war das zunächst ein zwie­späl­ti­ges Signal», gibt Fran­zis­ka Gschwend zu, «unser Gremi­um erlebt, dass der finan­zi­el­le Aspekt für die Opfer oft gar nicht so wich­tig ist. Entschei­den­der ist für sie, endlich gehört zu werden und mittei­len zu können, was sie erlebt haben.» Die Gesprä­che der Betrof­fe­nen mit den Vertre­tern des Fach­gre­mi­ums werden proto­kol­liert – allein das bezeich­nen viele Betrof­fe­ne als einen wich­ti­gen Teil der Aufar­bei­tung. Es dürfe nicht passie­ren, dass mit dem Fonds die Aufar­bei­tung von Miss­brauchs­fäl­len ausschliess­lich auf eine finan­zi­el­le Ebene komme. Dem Fach­gre­mi­um ist es weiter­hin wich­tig, dass mit den Opfern ein persön­li­cher Kontakt herge­stellt werden kann. «Inzwi­schen sehe ich den Fonds aber als ein wich­ti­ges Zeichen: Einer­seits wird gegen­über den Opfern ein klares Signal gesetzt, dass ihr Leiden aner­kannt wird. Ande­rer­seits bleibt das Thema da- mit im Gespräch und die Kirche zeigt, dass es ihr wirk­lich ernst ist.» Künf­tig kann das Fach­gre­mi­um für Opfer eine finan­zi­el­le Genug­tu­ung bean­tra­gen. Noch gebe es keine Erfah­run­gen, was der Fonds auslöst. Das Fach­gre­mi­um des Bistums St.Gallen könne erst seit kurzem Anträ­ge einrei­chen, weil die Kontakt­da­ten erst seit Anfang 2017 bekannt sind.

Rück­bin­dung an Bistum notwen­dig

Fran­zis­ka Gschwend, die als Juris­tin beim Bil- dungs­de­par­te­ment des Kantons St.Gallen tätig ist, schätzt es, dass das Fach­gre­mi­um interdis- zipli­när arbei­tet und Fach­per­so­nen aus ver- schie­de­nen Berei­chen mitwir­ken. Mit Peter Lampart ist auch ein Mitglied der Bistumslei- tung im Gremi­um. – Ist damit nicht die Neut- rali­tät des Gremi­ums gefähr­det? «Wir arbei­ten im Auftrag des Bischofs, das lässt sich nicht von der Hand weisen», räumt Gschwend ein, «aber ich erle­be, dass alle Betei­lig­ten sehr pro- fessio­nell arbei­ten und die verschie­de­nen Rol- len ausein­an­der­ge­hal­ten werden. Wir sind an- gewie­sen auf die Rück­bin­dung an das Bistum, da es oft auch um kirch­li­che Fragen geht und letzt­lich der Bischof über konkre­te Massnah- men zu entschei­den hat. Ich nehme von den Verant­wort­li­chen ein ehrli­ches Inter­es­se wahr, den Opfern zu helfen und gesche­he­nes Leid aufzu­ar­bei­ten.» Hätte sie das Gefühl, nur eine «Alibi-Rolle» wahr­neh­men zu können, hätte sie ihr Enga­ge­ment schnell wieder been­det. Auch wenn sie mit viel Leid konfron­tiert wer- de, sei es eine befrie­di­gen­de Aufga­be: «Ich kann einen klei­nen Beitrag zur Versöh­nung leis­ten.» Seel­sor­ger sensi­bi­li­sie­ren Der Auftrag des Fach­gre­mi­ums beschränkt sich nicht nur auf die Aufar­bei­tung von Gesche­he­nem, sondern beinhal­tet auch Sensi­bi­li­sie­rung für Grenz­ver­let­zun­gen. So werden alle neuen Mitar­bei­ten­den des Bistums bei der Einfüh­rung in den kirch­li­chen Dienst vom Fach­gre­mi­um über dessen Arbeit infor­miert. Dieses Jahr wird zudem bei den Deka­nats­wei­ter­bil­dun­gen das neue Schutz­kon­zept (siehe Kasten) sowie die Arbeit des Fach­gre­mi­ums vorgestellt.

Text: Stephan Sigg

Veröf­fent­licht: Mai 2017

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