Das Hörverhalten hat sich in den letzten Jahren massiv geändert: Menschen hören vermehrt «on demand», also digital, mobil und zeitunabhängig. Sie stellen sich ihr eigenes Radioprogramm zum Beispiel via Spotify zusammen – für den Weg ins Büro, beim Bügeln oder Joggen.
Weil Kirche da sein will, wo Menschen sind, hat sich der Verein Ökumenische Medienarbeit im Bistum St. Gallen dazu entschieden, einen Podcast zu produzieren – anstatt wie bisher einen klassischen eineinhalbminütigen Radiobeitrag am Sonntagmorgen.
Persönliche Gespräche
Eine «fadegrad»-Podcastfolge dauert rund eine halbe Stunde und kann jederzeit über die Website www.fadegrad-podcast.ch sowie über die Audioplattformen Spotify oder Apple Podcasts gehört werden. Mein Anspruch als Gastgeberin des Podcasts ist es, Themen differenziert zu behandeln und Gespräche mit Tiefgang zu führen – was umso wichtiger ist, je gespaltener eine Gesellschaft ist und je mehr Fake News und verkürzte Botschaften Schlagzeilen machen. «Fadegrad» kennt keine Tabus und fragt unverblümt nach, warum Menschen tun, was sie tun und wie sie geworden sind, wer sie sind. Wir wollen wissen, warum Menschen Sexarbeiter:innen werden, wie sie mit dem eigenen Sterben umgehen oder wie sie nach dem Suizid eines Angehörigen weiterleben. Die rund 4700 Hörer:innen im ersten Jahr konnten bei den teils sehr persönlichen Gesprächen «mitlauschen» und sich so inspirieren lassen.
Wo Kirche drinsteckt
Die Ökumenische Medienarbeit macht den Podcast auch um zu zeigen, «wo Kirche drinsteckt», wo man es vielleicht nicht erwartet. Denn Kirche begleitet Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen: beispielsweise im Hospiz, in der Paarberatung oder in der Abschiebehaft. Es gibt viele grossartige Kirchen-Podcasts da draussen. Meine persönlichen Favoriten aus dem deutschsprachigen Raum sind «Ausgeglaubt», «Unter Pfarrerstöchtern» sowie «Secta». «Fadegrad» ist übrigens mehr als nur ein Podcast: Auf Instagram @fadegrad_podcast erscheinen Stories, Reels und Umfragen zum jeweiligen Wochenthema. Mehr als die Hälfte unserer Follower:innen sind zwischen 18 und 35 Jahren alt, wöchentlich sehen mehr als 2000 Personen die Instagram-Beiträge. Neu gibt es uns auch auf YouTube. «Warum muss die Kirche jetzt auch noch Videos machen?» fragen Sie sich vielleicht jetzt. Das ist aber ein Thema für eine andere Leserfrage …
Ines Schaberger, Gastgeberin und Produzentin des fadegrad-Podcasts
Julia Pfister (25), Sozialpädagogin aus Kaltbrunn, und Valentin Kölbener (27), Student an der Uni St. Gallen, haben momentan in ihrer Freizeit viel zu tun: Sie sind Teil des OKs des Weltjugendtags, der Ende April bis zu 800 Jugendliche in die Gallusstadt locken soll.
Rabbiner Tovia Ben Chorin, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde St.Gallen, ist im Alter von 86 Jahren verstorben. Er hat den interreligiösen Dialog in der Ostschweiz geprägt, war geschätzt für sein grosses Wissen und seinen Humor.
Für tausende Geflüchtete aus der Ukraine muss innert kurzer Zeit Unterstützung organisiert werden. Philipp Holderegger, Geschäftsleiter der Caritas St.Gallen-Appenzell, erklärt, wie man diesen Menschen helfen kann. In absehbarer Zeit werde es etwa viele Freiwillige brauchen, die den Geflüchteten bei der Integration in den Alltag helfen.
Bild: zVg./ Caritas.ch
Täglich kommen hunderte aus der Ukraine geflüchtete Personen in der Schweiz an. Was bedeutet das für die Caritas St.Gallen-Appenzell?
Philipp Holderegger: Wir, die Hilfswerke auf dem Platz St. Gallen, sind sieben Tage die Woche mit fünf Personen im Asylzentrum Altstätten im Einsatz. Wir haben dort ein Büro bezogen und helfen, für die geflüchteten Personen passende Gastfamilien zu finden. Viele der Geflüchteten kommen direkt vom Bahnhof oder per Car von der Empfangsstelle am Zürcher Hauptbahnhof bei uns an. Sie sind per Bahn eingereist und durch die direkten Zugverbindungen in Zürich gelandet. Von dort aus werden sie dann in die weniger ausgelasteten Zentren wie eben in Altstätten gefahren.
Was brauchen die geflüchteten Personen?
Holderegger: Nebst der Klärung des Schutzstatus S steht schnell die Wohnsituation im Vordergrund, zum Beispiel durch die Vermittlung in Gastfamilien. Die Geflüchteten sollen dort zur Ruhe kommen können, sich sicher fühlen, und beispielsweise erst einmal wieder zwei, drei Nächte durchschlafen, um dann in eine Tagesstruktur zurückzufinden. Dann gibt es auch Personen, für die eine Gastfamilie nicht in Frage kommt, wie etwa allein reisende Kinder. Für sie stehen fachlich betreute Plätze bereit.
Auch viele Pfarreien organisieren Hilfsangebote. Wie läuft dabei die Zusammenarbeit mit der Caritas?
Holderegger: Es gibt Pfarreien, die derzeit ihre Pfarrheime bereitstellen respektive für die Unterbringungen geflüchteter Personen vorbereiten. Vereine, die dort ihren Treffpunkt haben, ziehen vorübergehend aus. So kann Platz für Schlafräume und sanitäre Anlagen geschaffen werden. Wertvoll ist das vor allem, wenn Platz für grössere Gruppen von 40 Personen benötigt wird. Wir sind überzeugt, dass die Kirchen zu einem späteren Zeitpunkt eine wichtige Rolle übernehmen können. Sei es als begleitete Treffpunkte, wo gemeinsam gekocht wird in den Pfarreizentren, als Beratungsorte oder Raum, wo Freizeit gestaltet wird.
Wie kann man als Privatperson am besten helfen?
Holderegger: Wer genügend Platz bei sich hat und ein Zimmer oder eine Wohnung anbieten möchte, kann sich auf www.fluechtlingshilfe.ch als Gastfamilie registrieren. Abgesehen davon helfen Geldspenden am meisten. Die können wir an die Caritas in Polen und Bulgarien überweisen und ermöglichen diesen so, handlungsfähig zu sein. Wir werden in absehbarer Zeit auch Freiwillige brauchen, die die Geflüchteten bei der Integration in den Alltag unterstützen. Personen, die helfen möchten, rate ich daher, Augen und Ohren offen zu halten. Wir werden die Aufrufe zur Unterstützung bei Bedarf publizieren. Nicht hilfreich sind hingegen Sachspenden.
Worauf bereitet sich die Caritas derzeit vor? Was sind die nächsten Herausforderungen und Aufgaben? Holderegger: Ein nächster Schritt wird sein, die Situation zuhause bei den Gastfamilien zu überprüfen und zu begleiten. Eine Gastfamilie verpflichtet sich für mindestens drei Monate. Die geflüchteten Personen werden derzeit rasch platziert, sodass die Nachbetreuung von Gastfamilien und Geflüchteten in einem zweiten Schritt umso wichtiger sein wird. Diese Nachbetreuung durch Fachpersonen organisieren die Kantone. Wir werden seitens der Caritas für diese Aufgabe unsere Unterstützung anbieten.
Welche Eindrücke nehmen Sie persönlich aus den vergangenen Tagen mit?
Holderegger: Mich beeindruckt die Solidarität. Um die Aufgabe im Asylzentrum Altstätten übernehmen zu können, müssen wir Angebote wie einzelne Firmgruppenbegleitungen um einige Monate verschieben. Für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist das selbstverständlich. Dann motivieren mich jene Geschichten, die trotz der aktuellen Situation Hoffnung mit sich bringen. Da ist etwa eine Familie, die nebst ihrer Muttersprache nur Italienisch spricht. Für sie konnte ein Platz in einem Tessiner Dorf gefunden werden. Noch bevor die Familie in Altstätten abreiste, war das Kind nach einem Telefongespräch mit der Schulleiterin praktisch schon eingeschult. Handeln zu können und den Betroffenen in alltäglichen Dingen zu helfen, empfinde ich in der aktuellen Situation als absolutes Privileg
Am Ostermontag setzen Menschen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich beim Internationalen Bodensee-Friedensweg ein Zeichen: «Für Frieden, die Schöpfungsverantwortung, aber auch für die Gemeinwohl-Ökonomie», sagt Pius Süess aus Wolfhalden AR, der dieses Jahr zum ersten Mal die Schweiz im OK vertritt.
Der Krieg in der Ukraine macht auch Pius Süess betroffen. «So etwas löst Ohnmachtsgefühle aus», sagt er beim Spaziergang zum Friedenstisch in Wolfhalden AR. Seit über vierzig Jahren engagiert sich der pensionierte Religionslehrer in der Friedensbewegung. Stellt man angesichts der momentanen Ereignisse dieses Engagement nicht komplett in Frage? Pius Süess schüttelt den Kopf: «Selbstverständlich drängt sich die Frage auf: Was kann ich schon bewirken? Gerade heute beim Frühstück haben meine Frau und ich uns darüber unterhalten», erzählt er. Doch sie beide seien nach wie vor überzeugt: «Wenn jeder einen kleinen Beitrag leistet, kann etwas Grosses entstehen. Auch wenn ich mich in meiner Familie oder in meinem Umfeld für Frieden einsetze, leiste ich Friedensarbeit.»
Pius Süess, pensionierter Religionslehrer, ist seit vielen Jahrzehnten in der Friedensarbeit engagiert.
Gemeinsam etwas erreichen
Am Anfang von seinem Engagement für Frieden und Versöhnung stand eine eigene Gewalterfahrung: In den 80er-Jahren verbrachte Pius Süess ein paar Jahre mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern in der Entwicklungszusammenarbeit in Kolumbien. Dort erlebte er hautnah mit, wie sich Krieg und Gewalt langfristig auf Land und Gesellschaft auswirken. «Diese Zeit hat mich geprägt und motiviert, mich in verschiedenen Projekten und Initiativen einzusetzen.» Im Appenzellerland war Pius Süess unter anderem Mitinitiant der Friedensstationen, einem Wanderweg von Walzenhausen nach Heiden, heute präsidiert er dessen Trägerverein. Kraft fand er immer wieder bei seinen Teilnahmen an Kundgebungen für Frieden und Gerechtigkeit. «Ähnliche Erfahrungen schildern mir Menschen, die in den letzten Tagen an Friedensdemonstrationen waren, man spürt: Ich bin nicht allein, wir können gemeinsam etwas erreichen.»
Folgen des Klimawandels
Beim Internationalen Bodensee-Friedensweg stand in den letzten Jahren die Klima-Verantwortung im Fokus. Das soll auch in diesem Jahr so sein. «Wir werden auf den Krieg in der Ukraine Bezug nehmen», erklärt Pius Süess, «aber gleichzeitig ist es uns wichtig, das Ganze im Blick zu haben.» Zum Einsatz für den Frieden gehören nicht nur das Aufstehen gegen Waffen und Gewalt. «Wir dürfen auch die Klimakatastrophe nicht vergessen.» Auch der Klimawandel sei ein Krieg, der Leid und Ungerechtigkeiten auslöse: «Die Dürre nimmt in vielen Regionen der Welt zu, immer mehr Menschen sind von Hungerkatastrophen betroffen.»
Kirchliche Friedensarbeit
Der Bodensee-Friedensweg ist eine nichtkonfessionelle Bewegung, doch im Vorstand engagieren sich zahlreiche Menschen mit kirchlichem Hintergrund. «Das Engagement für den Frieden ist in vielen Pfarreien und Kirchgemeinden verwurzelt – schon lange vor dem Ukraine-Krieg», weiss Pius Süess, «Die Kirchen rund um den Bodensee leisten einen wichtigen Beitrag für eine friedliche und gerechte Welt.» Manche mögen gegenwärtig zweifeln, ob das Friedensengagement etwas bewirkt, doch der Zeitpunkt des Bodensee-Friedenswegs hat eine klare Botschaft: Der Friedensweg findet am Ostermontag statt – und ist damit auch Ausdruck der christlichen Oster-Hoffnung: Das Leid und der Tod haben nicht das letzte Wort, es siegt das Leben.
Text: Stephan Sigg
Bilder: Ana Kontoulis
Bodensee-Friedensweg in Bregenz
Am 18. April sprechen Vertreterinnen und Vertreter der Fridays for Future-Bewegung und der Gemeinwohl-Ökonomie. Hauptrednerin ist Lea Suter, die nach dem Germanistik- und Russistikstudium ihren Master in interkulturellen Transferstudien in Freiburg (D) und in Moskau machte. Sie ist heute Präsidentin des «Forums für Friedenskultur» und Geschäftsleiterin der Gesellschaft Schweiz-UNO. Über hundert Organisationen und Gruppen aus der Friedens- und Umweltarbeit und dem kirchlichen Umfeld sind mitbeteiligt. Der Weg startet um 14 Uhr am Kornmarkt Bregenz.
Wie mit den Schreckensmeldungen aus der Ukraine umgehen? Was tun? Und wie beten? Der Kapuziner Niklaus Kuster aus dem Kloster Rapperswil SG über die Wirkung von kleinen Zeichen, Gebetshilfen und die Kraft der Gemeinschaft.
«Auge um Auge – Die Grenzen des präventiven Strafens» heisst das neue Buch von Susan Boos. Was mit Briefen adressiert an die St. Galler Journalistin begann, endet mit einer Reise durch die Strafsysteme verschiedener Länder. Wie hat das ihre Sicht verändert?
Susan Boos, Journalistin bei der Wochenzeitung WOZ in Zürich, taucht mit ihrem neusten Werk tief ein in das Schweizer Strafrecht mit dem besonderen Blick auf verwahrte Personen. «Viele der Verwahrten aus den Nullerjahren kommen nun in ein pflegebedürftiges Alter. Es braucht Orte und Institutionen für sie», gibt die 58-Jährige zu bedenken. Die Schweiz habe kein sehr gutes Modell. Und dabei spricht Boos nicht nur von den älter werdenden weggesperrten Personen, sondern auch von der Verwahrung im Allgemeinen. «Verwahrte Personen haben ihre eigentliche Strafe irgendwann einmal abgesessen. Danach ergibt es eigentlich keinen Sinn mehr, sie im normalen Strafvollzug zu lassen.»
Strafe als Wegbegleiterin
Bereits in jungen Jahren wurde Boos mit dem Strafgesetz konfrontiert. Nach einer ersten Station am Lehrerseminar in Rorschach stieg sie in den Journalismus ein. Daneben studierte die damals gut 20-Jährige auch kurze Zeit Jura. «Die Debatten zur Strafreform, die die 68er-Bewegung angestossen hatte, waren immer noch präsent.» Als Susan Boos mit gut 40 Jahren die Redaktionsleitung bei der WOZ übernahm, bekam sie etliche Briefe von verwahrten Personen aus dem Gefängnis. Es sollten nochmals ein paar Jahre ins Land ziehen, bis sie 2015 mit ihrer Reise – wie Susan Boos ihr Buchprojekt gerne selbst bezeichnet – startete. «Ich wollte mit Menschen sprechen, die in der Problematik drin sind», so Boos. Die Publizistin hat sich aus diesem Grund nicht nur mit Anwälten und Experten in Sachen Strafrecht getroffen, sondern auch Gespräche mit heute noch verwahrten Personen – oder auch solchen, die es mal waren – und deren Familien-angehörigen geführt. Entstanden ist eine eindrückliche Sammlung von verschiedenen Geschichten und Ansichten.
Besuch von Schulklassen
Ihre Reise führte Susan Boos auch ins Ausland. So besuchte sie unterschiedliche Orte und Stationen in den Niederlanden und Deutschland, um herauszufinden, wie dort mit verwahrten Personen umgegangen wird. Die Unterschiede könnten nicht grösser sein. Während es in Deutschland eigene Abteilungen für Verwahrte gibt, setzt Holland auf eine Art «eigenes Dorf». «Die Insassen heissen dort Bewohner und können ihr Leben selbstbestimmter gestalten», erzählt Boos. Teilweise kommen sogar Schulklassen zu Besuch. «Das ist ein völlig anderer Umgang mit Leuten, die nur noch weggesperrt sind, weil sie als gefährlich gelten und die Öffentlichkeit vor ihnen geschützt werden soll – und nicht, weil sie ihre Strafe zu verbüssen haben.» Im Vergleich: In der Schweiz bleiben verwahrte Personen je nachdem ein ganzes Leben im Strafvollzug. Das heisst so viel wie, es wird ihnen gesagt, wann sie aufstehen und zu Bett gehen sollen, wie viele Telefonate sie am Tag führen dürfen, wen sie als Besuch wöchentlich empfangen dürfen und wann es was zu essen gibt.
Das neue Buch von Susan Boos erscheint Mitte März 2022.
Es braucht eine Perspektive
Mit ihrem Buch möchte die amtierende Präsidentin des Schweizer Presserates weder die Gefängnisse noch die Strafen abschaffen. «Die Strafe braucht es für den gesellschaftlichen Frieden.» Aber dass Männer und Frauen im Gefängnis zu besseren Menschen werden, glaubt Susan Boos schon lange nicht mehr. «Vor allem für junge Personen – von 15 bis 25 Jahren – ist es enorm schwer, sich im Gefängnis zu sozialisieren.» Diese möchten alle irgendwann eine Familie, ein Haus und ein Auto. Sie haben somit eine Perspektive, eine Art Antriebskraft. Und diese braucht es aus Sicht der Autorin. «Präventive Strafen dürfen nicht sein.»
Wer gegen das Gesetz verstösst, muss bestraft werden. Darüber ist sich das Gros der Gesellschaft einig. Doch nützen die Strafen tatsächlich etwas oder geht es auch ohne? Hans Willi, Strafrichter und Vizepräsident beim Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland, findet eindeutig: Strafe muss sein.
Hans Willi, wie halten Sie es als Vater eines Teenagers mit dem Thema Strafen?
Hans Willi: Da bin ich weitaus weniger streng und konsequent. Es ist bei mir Zuhause wie so bei vielen anderen Familien: Ewiger Zankapfel zwischen den Eltern und dem 11-Jährigen ist der Konsum von digitalen Medien. Ähnlich wie bei Straftätern hilft die sanfte Ermahnung meist nicht. Als erzieherische Massnahme zeigt der unbedingte Entzug weit mehr Wirkung (lacht).
Und wie sehen Sie das als Strafrichter? Was ist Ihrer Meinung nach eine gerechte Strafe?
Pauschal lässt sich dies nur schwer beantworten. Wir beurteilen als Richter jeden Fall autonom. Meiner Ansicht nach ist eine Strafe dann gerecht, wenn sämtliche Parteien etwas unzufrieden mit dem Urteil sind. Wenn ich merke, dass alle Seiten das Strafmass zähneknirschend akzeptieren, habe ich als Richter die Gewähr, dass ich ziemlich genau die Mitte des Spielraums getroffen habe, den das Gesetz zulässt.
Ist eine Strafe der einzige Weg, um Delinquenten zur Räson zu bringen?
Es werden auch immer wieder andere Ansätze diskutiert, wie beispielsweise «Restorative Justice». Die Grundidee dabei ist, dass der Schädiger unmittelbare Verantwortung für seine Tat übernimmt und diese direkt beim Opfer versucht, wieder gutzumachen. Wie dies aber beispielsweise bei einem Mord geschehen soll, ist mir schleierhaft. Auch Fälle, wo gemeinnützige Arbeit ausgesprochen wurde, zeigten, dass die Rückfallquoten praktisch identisch sind mit Fällen, bei denen herkömmliche Strafen wie Bussen oder Freiheitsentzug verhängt wurden. Unser Rechtssystem ist nach meinem Empfinden sehr nahe am realisierbaren Optimum.
Sie sind also der Überzeugung, dass Strafe sein muss?
Ja. Ein Delikt braucht nach meinem Rechtsempfinden eine Art von Sühne. Ermahnung allein nützt nichts oder nur sehr wenig und würde im absoluten Chaos enden. Es muss schon weh tun, bis die Meisten aus ihren Fehlern lernen.
Die hohen Rückfallquoten bei Straftätern zeichnen aber ein anderes Bild …
Unbelehrbare gibt es immer und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Resozialisierung nach einer Haftstrafe nur bei einem sehr kleinen Teil gelingt. Die meisten Strafmasse, die wir aussprechen, münden aber nicht im unbedingten Strafvollzug, sondern sind Bussen oder bedingte Freiheits- oder Geldstrafen. Gerade bei Ersttätern erzielt man damit oft die gewünschte Wirkung und es bleibt bei einer einmaligen Verurteilung.
Hans Willi ist Strafrichter am Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland
Gibt es auch Baustellen in der Gesetzgebung?
Elementare Defizite könnte ich keine nennen. Unsere Gesetze werden laufend von der Politik nachjustiert und im Idealfall optimiert. Mein persönlicher Eindruck ist aber, dass sich in der Schweiz immer mehr eine Verbotskultur breitmacht.
Wie meinen Sie das?
Jedes Jahr werden noch mehr zusätzliche Gesetze eingeführt und die Menschen in ihrem Handeln zusehends eingeschränkt. Diese Entwicklung beobachte ich mit Besorgnis. In unserer Gesetzgebung ist bereits ein mannigfaltiges Spektrum an möglichen Tatbeständen geregelt. Da müssen wir nicht noch für 700 eventuelle Spezialfälle neue Artikel kreieren.
Und wie sieht es bezüglich der Strafrahmen aus?
Mit den vorgegebenen gesetzlichen Strafrahmen kann ich grundsätzlich sehr gut leben und arbeiten. Mühe bereitet mir unser Gesetz einzig dann, wenn wir als Urteilssprecher null Ermessenspielraum zur Verfügung haben. Dies ist beispielsweise beim sogenannten Rasergesetz der Fall. In solchen Fällen ist das Mindeststrafmass klar vor-gegeben: Wenn ich auf der Autobahn an einem verkehrsarmen Dienstagvormittag sechzig Stundenkilometer zu viel auf dem Tacho habe, kriege ich die selbe Strafe aufgebrummt, wie jemand, der an einem schönen Sonntagnachmittag innerorts auf einer beliebten Fahrradstrecke fünfzig Kilometer pro Stunde zu schnell fährt und damit grobfahrlässig Menschen in Gefahr bringt. Ich muss alle über den selben Kamm scheren, was meinen Grundsätzen als Richter widerstrebt.
Lassen Sie dort, wo Sie Ermessensspielraum haben, die persönlichen Umstände der Angeklagten in Ihre Beurteilung einfliessen?
Wenn wir die Möglichkeit haben: ja. Das sind wir den Angeklagten, aber auch den Klägern schuldig. Jeder Fall ist anders, hat eine andere Geschichte. Dem versuchen wir wenn irgendwie möglich Rechnung zu tragen, – natürlich immer innerhalb des gesetzlichen Rahmens.
Bei einer Gerichtsverhandlung legen alle Seiten ihre Sichtweise dar. Ist das ähnlich wie in der Schule: Wer eloquent und empathisch präsentiert, schneidet besser ab als der introvertierte, abweisend wirkende Stammler?
Wir Richter sind keine Übermenschen, weshalb auch wir manche Angeklagten sympathischer finden als andere. Diese weichen Faktoren müssen wir aber spätestens in der Phase der Urteilssprechung ausblenden und uns auf die harten Fakten fokussieren. Ein Urteil muss in erster Linie ein Kopfentscheid sein, mit einer wesentlich kleineren Portion Bauchgefühl.
Apropos persönliche Empfindungen: Zwei Tage nachdem wir dieses Interview führen, müssen Sie über einen Fall entscheiden, bei dem mitunter dem Angeklagten mehrfache sexuelle Handlungen mit einem Kind vorgeworfen werden. Wie schlafen Sie vor so einer Verhandlung?
Grundsätzlich immer gut. Klar, der beschriebene Fall blendet in die tiefsten Abgründe eines Menschen hinein und ich verabscheue die angeklagten Taten zutiefst. Aber dies alles muss und kann ich ausklammern. Mich treiben vor einer solchen Verhandlung viel mehr die rechtlichen Fragen und die Vorbereitungen um. Habe ich alle Eventualitäten berücksichtigt? Welche Artikel sind relevant?
«Wie fühlen Sie sich?», fragt Hans Willi jeweils die Angeklagten.
Wenn Sie und die übrigen Richter hauptsächlich anhand der Fakten entscheiden, wozu sind dann noch die persönlichen Anhörungen der Parteien nötig?
Bei einem Prozess sind die Akten das eine, der persönliche Eindruck das andere. Beim Gros der Straffälle gibt es nicht nur Schwarz und Weiss.
Aber Sie haben doch gerade betont, dass das Persönliche aussen vor bleiben sollte …
So absolut lässt sich das nicht sagen. Nehmen wir das Beispiel Sexualdelikt. Nur anhand der Strafakten zu entscheiden, ob eine Vergewaltigung vorliegt oder nicht, kann enorm schwierig sein. Die mündliche Verhandlung ist gerade in solchen Fällen elementar, damit sich jeder Richter, jede Richterin ihr persönliches Urteil bilden kann. Dann kommt der angesprochene Ermessensspielraum zum Tragen und wir entscheiden nach dem Mehrheitsprinzip, wem wir mehr Glauben schenken. Das macht unsere Arbeit so spannend und gleichzeitig anspruchsvoll.
Dann gehen Sie nie mit einer vorgefertigten Meinung in den Gerichtssaal?
Ich bilde mir mein abschliessendes Urteil immer erst nach den Anhörungen. Wenn wir alle schon mit unserer unwiderrufbaren Meinung in den Saal kämen, die wir uns anhand der Akten gebildet haben, könnten auch Algorithmen über Schuld oder Unschuld befinden. Die subjektive Einschätzung der Richter sollte unbedingt bei jedem Urteil, das einen gewissen Ermessensspielraum zulässt, mit einfliessen.
Was fragen Sie die Parteien während der Anhörung, was nicht in den Akten steht?
Meine erste Frage ist immer: «Wie fühlen Sie sich?» Die meisten Menschen auf der Anklagebank haben Angst vor der Verhandlung und dem Urteilsspruch und fühlen sich ausgesprochen unbehaglich. Danach folgen meist persönliche Fragen wie «Was ging in Ihnen während der vermeintlichen Tat vor?» oder «Würden Sie wieder so handeln?» Anhand der Antworten kann ich mir einen Eindruck verschaffen, ob der Angeklagte beispielsweise Reue empfindet oder ob er äusserst abgeklärt wirkt.
Hatten Sie nach einem Urteilsspruch auch schon das Gefühl, eine ungerechte Strafe ausgesprochen zu haben?
Bisher habe ich noch nie so empfunden. Ich stehe hinter den Entscheiden des Gerichts, selbst dann, wenn ich mit meinem Standpunkt im Richtergremium unterlegen bin.
Auf Ihrem Tisch landen mehrheitlich Akten von Straftaten. Wie kann man dabei optimistisch bleiben?
Indem man sich auf die Tatsache konzentriert, dass nur ein kleiner Teil unserer Mitmenschen im juristischen Sinn straffällig wird. Der viel grössere Rest verhält sich korrekt.
Der b‑treff in Bütschwil ist gefragt wie nie. Treff-Leiterin Sylvia Suter und dreissig Freiwillige versuchen Hoffnung zu schenken – manchmal mit einer Tasse Kaffee. Im April feiert der vielfältige Begegnungsort, gegründet durch eine kirchliche Initiative, den 10. Geburtstag.
Reformen bei der Rolle der Frau und beim Umgang mit LGBTQI+-Personen, Geschiedenen und Wiederverheirateten, aber auch eine stärkere Rückbesinnung auf traditionelle Werte und Normen – die Umfrageergebnisse machen sichtbar, wo Katholikinnen und Katholiken im Bistum St.Gallen Reformbedarf sehen. Am 11. Februar stellte gfs.Bern zusammen mit dem Bistum St.Gallen die Ergebnisse in Wil vor.
«Es gibt kein Zurück» — Was macht das Bistum St.Gallen jetzt mit den Ergebnissen?
Interview mit Dominik Michel-Loher (21. April 2022) Zum Interview
«Die Ergebnisse in den drei Bistümern ähneln sich sehr stark», sagte Cloé Jans vom Meinungs- und Marktforschungsinstitut gfs.Bern bei der Präsentation der Ergebnisse im katholischen Pfarreizentrum in Wil SG. Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus den Pfarreien, Kirchgemeinden und kirchlichen Organisationen hatten den Weg nach Wil gefunden. Im Rahmen der der Bischofssynode, die 2023 in Rom stattfindet, rief Papst Franziskus die Bistümer weltweit auf, sich an einer Umfrage zur Synodalität zu beteiligen. Die Bistümer St.Gallen, Basel und Chur lancierten im vergangenen Herbst eine gemeinsame Umfrage. Im Bistum St.Gallen nutzten 1000 Personen die Möglichkeit, am Dialogprozess der römisch-katholischen Kirche teilzunehmen.«Die Umfrage ist nicht repräsentativ, aber da es sich um eine Dialogsbefragung handelt, haben die Ergebnisse trotzdem eine grosse Aussagekraft und sind hochgradig interpretierbar», hielt Cloé Jans fest. «Es wird sichtbar, dass die christlichen Grundwerte und gemeinsamen Rituale eine starke Basis für das Leben vieler sind und einen wichtigen gemeinsamen Nenner darstellen.»
Cloé Jans von gfs.Bern gibt Einblicke in die Umfrageergebnisse.
«Der Dialogprozess sprach vor allem Leute an, die schon in der Kirche engagiert oder in irgendeiner Weise involviert sind.»
Cloé Jans, gfs.Bern
Das Berner Institut hat die Umfrage im Auftrag des Bistums durchgeführt und ausgewertet. Der Abschlussbericht umfasst 53 Seiten. «Die Beiträge aus den Dialoggruppen zeugen dabei in ihrer Gesamtheit von der zentralen Rolle, die der Glaube im Leben der Teilnehmer:innen spielt und der tiefen Verbundenheit mit und der Relevanz von Gott für jede Person einzeln», schreibt g.f.s in seiner Zusammenfassung. Neben Offenheit und Nächstenliebe als zentrale Werte werde immer wieder «der unvergleichlich grosse Stellenwert der Freiwilligkeit und freiwilligen Arbeit» betont. Für viele sei das soziale Engagement ein «Identifikationsanker» und eine «Quelle der Freude und Zufriedenheit».
«Sind das nicht Ergebnisse, die man so erwarten konnte? Gibt es etwas, das überraschte?»
Hans Hüppi, pensionierter Seelsorger, Ernetschwil
Gottesdienste verbinden
65 % der Teilnehmenden bezeichnen den gemeinsamen Glauben und den Gottesdienste als verbindende Elemente. Doch offensichtlich sehen hier einige Reformbedarf. Denn nur 35 % gaben an, dass «die Liturgie (Gebet) zeitgemäss gestaltet» wird. Obwohl die Umfrage das nicht so beabsichtigt habe, haben laut g.f.s die Teilnehmenden in ihren Voten konkrete Inputs, Forderungen und Wünsche formuliert. Es falle auf, «dass diese Inputs unabhängig von der eigentlichen Frage immer wieder sehr ähnlich sind. Dazu gehört insbesondere die Rolle der Frau in der Kirche, der Umgang mit Minderheiten oder Lebensformen, die nicht einer traditionellen Vorstellung entsprechen (LGBTQI+, Geschiedene, Wiederverheiratete), oder auch die Art und Weise, wie eine zeitgemässe Gestaltung von Riten und Feiern möglich ist. Auch Personen mit Beeinträchtigungen oder mit einem anderen kulturellen oder sprachlichen Hintergrund werden zu wenig miteinbezogen.»
«Die synodale Arbeit ist im Bistum verankert und wird weitergehen.»
Franz Kreissl, Leiter Pastoralamt des Bistums St.Gallen
Vom Bistum zu wenig gehört
Ein Umfragebereich beinhaltete auch den Dialog zwischen Bistumsleitung und Basis. Hier sehen die Katholikinnen und Katholiken im Bistum St.Gallen offensichtlich Optimierungsbedarf: 53 % gaben an «Führungspersonen im Bistum nehmen uns nicht wahr und verstehen uns nicht». Doch im Vergleich mit anderen Bistümern schneidet St.Gallen hier eindeutig besser ab:. Cloé Jans betont bei der Präsentation: «Die Dialoggruppen im Bistum St. Gallen, verglichen mit den Bistümern Basel und Chur, fühlen sich von den Führungspersonen im Bistum deutlich eher gehört und verstanden.»
Die Ergebnisse werden schweizweit gesammelt und im März nach Rom geschickt. Das Bistum St.Gallen will mit den Erkenntnissen aus der Umfrage arbeiten, wie Franz Kreissl (Leiter Pastoralamt des Bistums St.Gallen) betonte: «Die synodale Arbeit ist im Bistum verankert und wird weitergehen.»
Vetreterinnen und Vertreter der Pfarreien, Kirchgemeinden, kirchlichen Organisationen und Fachstellen waren bei der Präsentation in Wil dabei. Viele von ihnen hatten selber bei der Umfrage mitgemacht.
Pfarrblatt im Bistum St.Gallen Webergasse 9 9000 St.Gallen