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Halbwissen schafft Konflikte

Das Thea­ter St. Gallen bringt zwei Stücke zum Thema Tod auf die Bühne. Bei beiden spielt die Schau­spie­le­rin Diana Deng­ler eine tragen­de Rolle. Die Proben verlang­ten ihr eini­ges ab.

Diana Deng­ler kommt mit dem Velo. Sie wirkt ange­spannt, hat nur kurz Zeit. «Ich komme direkt von der Probe. Es sind inten­si­ve Tage», sagt sie. Ab Novem­ber spielt die in St. Gallen wohn­haf­te Schau­spie­le­rin die Haupt­rol­le im Stück «Die Ärztin» am Thea­ter St. Gallen. Ab Dezem­ber über­nimmt sie zudem eine Rolle in «Gott» nach dem Erfolgs­au­tor Ferdi­nand von Schi­rach. Beide Stücke brin­gen das Thema Tod und Selbst­be­stim­mung auf die Bühne. Themen, die Diana Deng­ler wich­tig sind, die ihr aber auch eini­ges abver­lan­gen: «Die Proben sind anders als sonst. Sie kosten mehr Kraft.» Man befas­se sich acht Stun­den am Tag mit der Thema­tik. «Das muss man aushal­ten können.» Deng­ler spielt mit einem Ensem­ble von zehn bezie­hungs­wei­se neun Perso­nen jegli­chen Alters. Die Ältes­ten sind an die 90 Jahre alt, die Jüngs­ten knapp voll­jäh­rig. «Bei allen löst die Thema­tik etwas aus.»

Gemein­sam erfahren

In den Stücken geht es um Fragen wie: Darf man seinem Leben ein Ende setzen, wenn man dessen über­drüs­sig ist? Wer entschei­det, wann ich ster­ben darf und wie der Tod auszu­se­hen hat? Oder: Wo sind die Gren­zen meiner Selbst­be­stim­mung? Die Themen sind Deng­ler nicht fremd. Sie hat selber bereits zwei Menschen beim Ster­be­pro­zess beglei­tet. «Ich habe Respekt vor diesen Themen. Aber es sind Themen, die unwei­ger­lich zum Leben gehö­ren», sagt sie. 

Die St. Galler Schau­spie­le­rin Diana Deng­ler befasst sich ­dieser Tage viel mit den ­Themen Tod und Selbstbestimmung.

Trotz der Schwe­re der Kost: Für die 55-Jährige haben die beiden Thea­ter­stü­cke auch etwas Befrei­en­des. «Man wird nicht allei­ne gelas­sen mit den Themen, hat einen gemein­sa­men Rahmen. Einen geteil­ten Raum. Es ist wie bei einem Gottes­dienst in der Kirche. Es ist ein gemein­sa­mes Erfah­ren. Man teilt Freud und Leid miteinander.»

Verste­hen lernen

Diana Deng­ler hofft und wünscht sich, dass die beiden Thea­ter­stü­cke nach­hal­tig wirken. «Dass sie eine Diskus­si­on in der Bevöl­ke­rung auslö­sen.» In den Stücken werden immer mehre­re Posi­tio­nen und Meinun­gen vertre­ten. «Alle Posi­tio­nen werden respekt­voll behan­delt und es gibt kein Schwarz und Weiss. Die verschie­de­nen Meinun­gen haben Platz. Es geht also darum, sich Gedan­ken zu machen und sich selbst zu reflek­tie­ren.» In den beiden Stücken geht es auch um den Zwie­spalt zwischen beruf­li­chen Verpflich­tun­gen und persön­li­chen Ansich­ten. Um Meinungs­ver­schie­den­hei­ten. Darum, das Gegen­über zu akzep­tie­ren. Dass es im Leben unter­schied­li­che Ansich­ten gibt, ist Diana Deng­ler klar. Man müsse lernen, das Gegen­über zu verste­hen und diesem zuzu­hö­ren. «Alles ist im Wandel. So auch die Kirche oder der Tod. Wissen macht es einfa­cher zu verste­hen. Halb­wis­sen schafft eine aggres­si­ve Haltung.» Um die Zuschaue­rin­nen und Zuschau­er auch nach dem Thea­ter­be­such nicht mit dem Thema allei­ne zu lassen, sind Gesprächs­rei­hen mit Exper­tin­nen und Exper­ten geplant. Denn: Egal wie man zum Tod steht und welche Meinung man über Ster­be­hil­fe hat: Das Wich­ti­ge ist, darüber zu reden. Die Themen betref­fen uns alle.

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Regi­na Kühne
Veröf­fent­li­chung: 5. Novem­ber 2023

Das Risiko gut abwägen

Die Bischö­fe mit der Blocka­de der Kirchen­steu­ern unter Druck setzen? Auf mehr ­Mitspra­che­recht beim St. Galler Bischofs­wahl­recht pochen? Rapha­el Kühne, Admi­nis­tra­ti­ons­rats­prä­si­dent des ­Katho­li­schen Konfes­si­ons­teils, will bei der Miss­brauchs­auf­ar­bei­tung lieber auf ande­re Wege setzen.

Eine Kirch­ge­mein­de aus dem Kanton Luzern will den Teil der Kirchen­steu­ern, die sie an das Bistum Basel weiter­lei­ten müss­te, blockie­ren und fordert damit vom Bistum grund­le­gen­de Mass­nah­men bei der Aufar­bei­tung der Miss­bräu­che und einen Struk­tur­wan­del. Dieses Beispiel scheint auch Kirch­ge­mein­den im Bistum St. Gallen auf den Plan geru­fen zu haben. Ende Septem­ber hat der Admi­nis­tra­ti­ons­rat des Katho­li­schen Konfes­si­ons­teils des Kantons St. Gallen alle Kirch­ge­mein­den aufge­ru­fen, auf solche Mass­nah­men zu verzich­ten. «Aus unse­rer Sicht macht es den Bischö­fen mehr Eindruck, wenn eine Insti­tu­ti­on wie der Konfes­si­ons­teil aktiv wird, als wenn eine einzel­ne Kirch­ge­mein­de Druck ausübt», sagt Rapha­el Kühne, Präsi­dent des Admi­nis­tra­ti­ons­ra­tes im Inter­view mit dem Pfar­rei­fo­rum. Doch: Kirchen­steu­er­gel­der an den Bischof zu blockie­ren, das ist für die katho­li­sche Kanto­nal­kir­che momen­tan kein Thema.

Gemein­sam mit RKZ

«Wir fordern gemein­sam mit der RKZ, dem Zusam­men­schluss aller Kanto­nal­kir­chen, bei den Bischö­fen struk­tu­rel­le Verän­de­run­gen ein. Aus meiner Sicht sind sich die Bischö­fe durch­aus bewusst, welche Stär­ke wir haben. Druck mit den Kirchen­steu­ern auszu­üben, wäre wirk­lich das letz­te Mittel.» Die gröss­ten Mitglie­der der RKZ – die Kanto­nal­kir­chen des Kantons Zürich, Luzern, Aargau und St. Gallen – ziehen laut Kühne am glei­chen Strang und gera­de deshalb müsse die Kraft dieser Zusam­men­ar­beit genutzt werden. Das nächs­te RKZ-Treffen finde im Novem­ber statt, das Thema sei traktandiert.

Einzig­ar­ti­ges Bischofswahlrecht

Gera­de was die Situa­ti­on im Bistum St. Gallen betrifft, rät Rapha­el Kühne zur Vorsicht: Das St. Galler Bischofs­wahl­recht ist welt­weit einzig­ar­tig. In St. Gallen wählt das Domka­pi­tel den Bischof, das Kolle­gi­um (das Parla­ment der Katho­li­kin­nen und Katho­li­ken) hat Mitspra­che­mög­lich­kei­ten. Grund­la­ge dafür ist die päpst­li­che Bulle von 1847. «Wenn dem Bischof Kirchen­steu­ern gekürzt oder vorent­hal­ten werden, besteht das Risi­ko, dass der Vati­kan dies als Verlet­zung der Bestim­mun­gen der Bulle in Frage stellt und daraus verlan­gen könn­te, dass die Bischofs­wahl wie in ande­ren Bistü­mern abläuft, und also der Papst den Bischof ohne Betei­li­gung der staats­kir­chen­recht­li­chen Seite wählt», so Rapha­el Kühne. Aus seiner Sicht sei deshalb das Risi­ko grös­ser als ein mögli­cher Zuge­winn der demo­kra­ti­schen Mittel und Trans­pa­renz, wie sie aktu­ell die St. Galler Bewe­gung «So nicht!» (zum Beitrag) einfor­dert.

Keine Kampa­gne geplant

Während der Konfes­si­ons­teil in den vergan­ge­nen Jahren mit verschie­de­nen Initia­ti­ven die Bevöl­ke­rung über die Verwen­dung der Kirchen­steu­ern infor­miert wie beispiels­wei­se mit der gros­sen Image­kam­pan­ge «Den Kirchen­steu­ern sei dank», ist es momen­tan merk­wür­dig still. Müss­te die Kanto­nal­kir­che in dieser Krisen­zeit den Kirch­ge­mein­den nicht mehr Rücken­de­ckung geben? «Die Öffent­lich­keit darüber zu infor­mie­ren, was die Kirchen­steu­ern vor Ort bewir­ken, ist für uns ein wich­ti­ges Anlie­gen», betont Rapha­el Kühne. Mit einem Austritt bestra­fe man nämlich nicht den Papst, sondern die Insti­tu­tio­nen und das viel­fäl­ti­ge Enga­ge­ment vor Ort – von den Kirchen­steu­ern flies­se kein einzi­ger Fran­ken nach Rom. «Deshalb haben wir vor einem Jahr die Kommu­ni­ka­ti­on­s­tel­le ausge­baut. Unser Kommu­ni­ka­ti­ons­be­auf­trag­te hat gera­de in den letz­ten Wochen in Medi­en­mit­tei­lun­gen an verschie­de­nen Beispie­len sicht­bar gemacht, welche wich­ti­gen Aufga­ben die Kirchen­steu­ern ermög­li­chen: sozia­le Aufga­ben, Kultur und Bildung.» Er sieht die Wich­tig­keit von Kampa­gnen, doch müsse dafür auch der rich­ti­ge Zeit­punkt gefun­den werden. «Im falschen Moment kann so eine Kampa­gne auch das Gegen­teil vom Gewünsch­ten auslösen.»

Text: Stephan Sigg

Bild: Roger Fuchs

Veröf­fent­licht: 27.10.2023

Verzicht auf Wiederwahl

Der Flawi­ler Rapha­el Kühne verzich­tet auf eine Wieder­wahl im Admi­nis­tra­ti­ons­rat für die Legis­la­tur­pe­ri­ode 2024 bis 2027. Ende des Jahres, dann im 68. Alters­jahr stehend, wird der Jurist auf 9,5 Jahre im Admi­nis­tra­ti­ons­rat zurück­bli­cken können. Seit 2020 amtet er als Präsi­dent, zuvor oblag ihm als Mitglied das Ressort «Kirch­ge­mein­den und Aufsicht». Rapha­el Kühne: «Nach über vier­zig Jahren Berufs­le­ben als Rechts­an­walt und dabei auch stets im Diens­te der Öffent­lich­keit wirkend – 16 Jahre als Präsi­dent im Kirchen­ver­wal­tungs­rat Flawil und als Kolle­gi­en­rat, 14 Jahre im Kantons­rat und 9,5 Jahre im Admi­nis­tra­ti­ons­rat – ist es Zeit, jünge­ren Enga­gier­ten Platz zu machen.» Das Parla­ment des Katho­li­schen Konfes­si­ons­teils wird bei seiner Sitzung am 21. Novem­ber 2023 seine Nach­fol­ge­rin, seinen Nach­fol­ger wählen.

Rapha­el Kühne, Präsi­dent des Admi­nis­tra­ti­ons­ra­tes, ruft dazu auf, die Kräf­te zu bündeln – anstatt auf Einzel­ak­tio­nen gegen die Bischö­fe zu setzen.

«Zu viel Konsum kollidiert mit der Totenruhe»

Der Fried­hof als Gedenk­ort für Verstor­be­ne verliert an Bedeu­tung. Das stellt Dani­el Klin­gen­berg, refor­mier­ter Pfar­rer im Toggen­burg, fest. Was bedeu­tet das für unse­re Gesell­schaft und den Umgang mit dem Tod und der Trauer?

Dani­el Klin­gen­berg (61) zeigt in seinem Beitrag «Die Aufer­ste­hung der Fried­hö­fe als multi­funk­tio­na­ler Raum», der im Neujahrs­blatt 2023 des Histo­ri­schen Vereins des Kantons St. Gallen erschie­nen ist, die Nutzungs­ver­än­de­rung von Fried­hö­fen an Beispie­len aus den Städ­ten St. Gallen und Bern auf. Sein Befund ist eindeu­tig: Immer weni­ger Erdbe­stat­tun­gen, immer mehr Krema­tio­nen. Urnen­be­stat­tun­gen brau­chen weni­ger Platz, wodurch die frei werden­den Grün­flä­chen auf den Fried­hö­fen zuneh­men. Mit dem zahlen­mäs­si­gen Rück­gang kirch­li­cher Bestat­tungs­ri­tua­le kommt ein neuer Trend dazu: Immer mehr Menschen wünschen eine indi­vi­du­el­le Bestat­tung ohne kirch­li­che Liturgie. 

Dani­el Klin­gen­berg, Sie spre­chen von drei gesell­schaft­li­chen «Mega­trends» im Wandel der Fried­hö­fe. Können Sie diese kurz umschreiben?

Dani­el Klin­gen­berg: Es geht gene­rell um einen reli­gi­ons­so­zio­lo­gi­schen Befund. Das ist erstens die Indi­vi­dua­li­sie­rung unse­rer Gesell­schaft, die auch im Glau­bens­be­reich wirk­sam ange­kom­men ist. Dazu gehö­ren weiter der Werte­wan­del sowie die reli­giö­se Plura­li­sie­rung. Damit hat sich auch der Umgang mit dem Lebens­en­de verän­dert. Das kirch­li­che Stan­dard­ri­tu­al wird immer öfter durch selbst­ge­wähl­te Abschieds­for­men ersetzt.

Die Feuer­be­stat­tung hat in den letz­ten Jahren sehr stark zuge­nom­men. Wie erklä­ren Sie sich diese Entwicklung?

Dani­el Klin­gen­berg: Das kann man mit dem Werte­wan­del sehr schön aufzei­gen. Dass die Erdbe­stat­tung Voraus­set­zung ist für die christ­li­che Vorstel­lung von der Aufer­ste­hung des Leibes, und dass diese wich­tig sei, scheint heute unwich­tig. Seit dem Jahr 1963 ist die Feuer­be­stat­tung von der katho­li­schen Kirche auch lehr­mäs­sig akzep­tiert. Hinzu kommen prak­ti­sche Grün­de: Eine Krema­ti­on ist viel «platz­spa­ren­der» und bei der Urnen­bei­set­zung fallen oft ein indi­vi­du­el­ler Grab­stein sowie die Grab­pfle­ge weg.

Durch diesen dras­ti­schen Rück­gang der Erdbe­stat­tun­gen ist der Platz­be­darf auf den Fried­hö­fen entspre­chend geschrumpft und es gibt verschie­de­ne Ideen zur Umnut­zung dieser Grün­flä­chen. Was geht aus Ihrer Sicht gar nicht auf einem Friedhofsareal?

Dani­el Klin­gen­berg: Ich sehe vor allem bei Frei­zeit­nut­zun­gen ein Konflikt­po­ten­zi­al. Alles, was zu konsum­ori­en­tiert ist, kolli­diert meiner Meinung nach mit dem Phäno­men Tod. Ich kann mir ein Konzert auf einem Fried­hof vorstel­len, vorausgesetzt, die Örtlich­kei­ten werden in der Veran­stal­tung sinn­voll einge­bun­den. Es kommt also stark auf den Rahmen an. Grund­sätz­lich glau­be ich, dass auf einem Fried­hofs­are­al vieles möglich ist.

Was wäre aus Ihrer Sicht eine sinn­vol­le Umnutzung?

Dani­el Klin­gen­berg: Wich­tig scheint mir, dass die Grün­flä­chen beibe­hal­ten werden und öffent­lich zugäng­lich sind. Dabei soll­te auf lärmi­ge und tempo­rei­che Akti­vi­tä­ten verzich­tet werden. Ich stel­le mir grüne Oasen vor, ohne inten­si­ve Nutzung und ohne Zweckbestimmung. 

Im 19. Jahr­hun­dert wurde die Fried­hofs­zu­stän­dig­keit von einer kirch­li­chen zu einer staat­li­chen Aufga­be. Sie schrei­ben in einer Schluss­fol­ge­rung «im Bereich der Neuge­stal­tung frei werden­der Fried­hofs­flä­chen als Orte der Ruhe hätten Kirchen spiri­tu­el­le Kompe­ten­zen einzu­brin­gen.» Finden Sie, die Kirche enga­giert sich dies­be­züg­lich zu wenig? 

Dani­el Klin­gen­berg: Tod und die Trau­er sind eigent­lich spiri­tu­el­le Themen, der Umgang damit gehört zur Kern­kom­pe­tenz der Kirche. Bei der Verän­de­rung der Fried­hofs­nut­zung wäre es daher nahe­lie­gend, dieses Wissen einzu­brin­gen. Die Poli­tik hat kaum Inter­es­se daran, was man mit der Lang­sam­keit des Umnut­zungs­pro­zes­ses erklä­ren kann. Das Thema geht quasi vergessen.

Immer häufi­ger wenden sich Menschen von kirch­li­chen Bestat­tun­gen ab und wollen eine Natur­be­stat­tung. Dabei wird die Asche in der frei­en Natur, etwa an einem persön­li­chen Kraft­ort des Verstor­be­nen oder in Bestat­tungs­wäl­dern verstreut. Was halten Sie davon? 

Dani­el Klin­gen­berg: Das geht mit einem Verlust einher. Ich empfin­de eine öffent­li­che Trau­er­fei­er als sehr wich­tig im ganzen Trau­er­pro­zess. Aus der Trau­er­for­schung ist bekannt, dass das gemein­sa­me Abschied­neh­men für Ange­hö­ri­ge sehr trös­tend sein kann. Durch die indi­vi­du­el­len Abschieds­fei­ern im priva­ten Rahmen verschwin­det dieses kollek­ti­ve Ritu­al. Zudem gibt es keinen öffent­lich zugäng­li­chen Gedenk­ort für die verstor­be­ne Person.

Was denken Sie, wie sehen unse­re Fried­hö­fe in 50 Jahren aus?

Dani­el Klin­gen­berg: Ich denke nicht, dass sich so schnell etwas ändern wird. Die Verän­de­rung der Fried­hö­fe ist ein sehr lang­sa­mer Prozess. Es ist wich­tig zu wissen, was die Bevöl­ke­rung denkt. Dabei ist eine verant­wor­tungs­be­wuss­te Planung entschei­dend. Weil das Thema mit vielen unter­schied­li­chen Meinun­gen, Emotio­nen und örtli­chen Gege­ben­hei­ten verknüpft ist, gibt es auch viel­fäl­ti­ge Vari­an­ten der Umnut­zung. Ich vermu­te, dass man die Grün­flä­chen als Oasen behal­ten wird. In einzel­nen Fällen wird es in urba­nen Räumen aufgrund des Sied­lungs­dru­ckes Umnut­zun­gen geben. 

Dani­el Klin­gen­berg ist Pfar­rer in der Evangelisch-reformierten Kirch­ge­mein­de Mitt­le­res Toggen­burg und Publizist.

Text: Katja Hongler

Bild: Regi­na Kühne / zVg.

Veröf­fent­licht: 23. Okto­ber 2023

«Ich komme ­gerne auf den Friedhof»

Der Fried­hof hat für Mari­an­ne Diet­rich aus Gossau eine ­gros­se Bedeu­tung. Er half ihr, den Verlust ihres Mannes besser zu ertra­gen. Für die 82-Jährige ist er aber mehr als nur Ort der Trau­er und der Erin­ne­run­gen. Am Grab lässt sie auch fröh­li­che Momen­te zu.

Der Herbst hat Einzug gehal­ten. Die Blät­ter an den Bäumen erstrah­len in bunten Farben und die Bise weht steif. Mari­an­ne Diet­rich schrei­tet lang­sam, aber ziel­ge­rich­tet den brei­ten Weg entlang. Es ist ein Weg, den sie gut kennt. Sie ist ihn schon unzäh­li­ge Male gegan­gen. Mari­an­ne Diet­rich hat vor fünf Jahren ihren Mann verlo­ren. René Diet­rich war 77 Jahre alt, als er einen Hirn­schlag erlitt. Es folg­ten Spital­auf­ent­hal­te und Thera­pien. Zuletzt wohn­te René Diet­rich im Pfle­ge­heim Vita Tertia in Gossau. Seit seinem Tod besucht Mari­an­ne Diet­rich das Grab ihres gelieb­ten Mannes regel­mäs­sig. «Ich komme gerne hier­her», sagt die 82-Jährige. «Es tut mir gut.» Man merkt: Der Fried­hof­be­such bedeu­tet Mari­an­ne Diet­rich viel. «Hier tref­fe ich immer Menschen und kann einen Schwatz halten.» Das Wissen, dass es ande­ren ähnlich gehe, könne in der Trau­er helfen. «Plötz­lich merkt man, dass man nicht allei­ne ist.»

Mari­an­ne Diet­rich (rechts) ist auf dem Fried­hof selten allei­ne. Beim Besuch Ende Septem­ber beglei­tet sie Jacque­line Boll­hal­der vom Trauercafé.

Den rich­ti­gen Platz gefunden

Mari­an­ne Diet­rich grüsst Bekann­te hier und winkt Freun­den dort. Immer wieder bleibt sie kurz stehen und schaut auf Grab­stei­ne. Und immer wieder sieht sie darauf ihr bekann­te Namen. Mit fort­schrei­ten­dem Alter werden es immer mehr. Ein Umstand, den Mari­an­ne Diet­rich akzep­tie­ren muss. Ihr Ehemann hat seine letz­te Ruhe­stät­te im Gemein­schafts­grab auf dem Fried­hof Hofegg in Gossau gefun­den. Auf dem gros­sen, acht­tei­li­gen Monu­ment sind auf goldig-schimmernden Plaket­ten die Namen der Verstor­be­nen vermerkt. Mari­an­ne Diet­rich läuft um den Grab­stein herum. An der Rück­sei­te – ganz oben – steht der Name ihres verstor­be­nen Mannes. Sie tritt an den Stein heran und schaut hoch. Der Grab­stein liegt an diesem Nach­mit­tag halb im Schat­ten. «Hier hat er den rich­ti­gen Platz gefun­den. Er moch­te Schat­ten sehr gerne. Ich mag lieber Sonnen­schein», sagt Mari­an­ne Diet­rich mit einem Lächeln im Gesicht. Die Erin­ne­run­gen an ihren Mann sind allge­gen­wär­tig. Und auch wenn man ihr die Trau­er bei jedem Wort ansieht, kann sie mitt­ler­wei­le wieder fröh­li­che Momen­te zulas­sen. «An einem Grab darf man auch lachen», sagt sie. 

Mari­an­ne Diet­rich ist sehr wich­tig, dass der Name ­ihres verstor­be­nen Mannes irgend­wo vermerkt ist.

Mari­an­ne Diet­rich erin­nert sich gerne an die 54 gemein­sa­men Jahre zurück. «Wir hatten es gut mitein­an­der und ein so schö­nes Leben.» Dass sie noch den golde­nen Hoch­zeits­tag feiern konn­ten, bedeu­tet ihr sehr viel. Sie spricht über die Kinder, über die Hobbys ihres Mannes, über gemein­sa­me Ausflü­ge – und der Ort, an dem Mari­an­ne Diet­rich noch kurz zuvor fröh­lich war, wird plötz­lich zum Ort, an dem Tränen ihre Wangen herun­ter­kul­lern. Der Abschied wiegt noch immer schwer. «Ich vermis­se ihn jeden Tag.»

Trau­er­ca­fé als Fixpunkt

Auf dem Fried­hofs­be­such wird Mari­an­ne Diet­rich oft von zwei Freun­din­nen beglei­tet. Wenn Toch­ter Karin zu Besuch ist, gehört auch für sie der Gang ans Grab des Vaters zur Pflicht. An diesem sonni­gen Tag Ende Septem­ber ist Mari­an­ne Diet­rich mit Jacque­line Boll­hal­der, katho­li­sche Seel­sor­ge­rin in Gossau und Leite­rin des ökume­ni­schen Trau­er­ca­fés, auf dem Fried­hof. Die beiden kennen sich gut. Seit dem Tod des Mannes ist das monat­li­che Tref­fen ein Fixpunkt in Diet­richs Agen­da. Einmal wöchent­lich nimmt sie am Mittag­essen im Fried­egg teil und einmal im Monat besucht sie den Senio­ren­nach­mit­tag der Pfar­rei. «Das tut mir gut», sagt Mari­an­ne Diet­rich. «Ich kann hier mit Mitmen­schen spre­chen. Wir alle haben das Glei­che erlebt. Und es sind alles liebe Menschen.» 

Nach dem Tod ihres Mannes half das Trau­er­ca­fé der katho­li­schen und refor­mier­ten Kirche Mari­an­ne Diet­rich aus dem Tief. Noch heute ist das monat­li­che Tref­fen mit ande­ren Betrof­fe­nen und Seel­sor­ge­rin Jacque­line Boll­hal­der für sie ein Fixpunkt.

Auch Jacque­line Boll­hal­der schätzt Mari­an­ne Diet­rich. «Sie sorgt sich sehr um die ande­ren im Trau­er­ca­fé, spielt Fahre­rin und ist ein Sonnen­schein», so Boll­hal­der. Die beiden Frau­en verbin­det mitt­ler­wei­le mehr als nur eine Zweck­ge­mein­schaft. Man inter­es­siert sich fürein­an­der und sorgt sich umein­an­der. Jacque­line Boll­hal­der weiss aus Erfah­rung, wie wich­tig für Betrof­fe­ne der Fried­hof als Ort der Trau­er und Erin­ne­rung ist. «Viele Betrof­fe­ne besu­chen die Gräber nach einem Verlust jeden Tag. Das gibt ihnen eine Struk­tur», sagt Boll­hal­der. «Auf dem Fried­hof muss man mit nieman­dem reden und weiss gleich­zei­tig, dass alle dort das Glei­che erlebt haben. Das Wissen, dass ande­re diese Situa­ti­on auch durch­ma­chen, hilft vielen. Zudem wollen sie die Erin­ne­rung an diese Perso­nen erhalten.»

Begeg­nun­gen wichtig

Am Grab setzt sich Mari­an­ne Diet­rich gerne auf die bereit­ge­stell­ten Stüh­le. Oft spricht sie zu ihrem Mann, erzählt ihm, was sie erlebt hat oder was sie beschäf­tigt. Schlimm seien am Anfang vor allem die Wochen­en­den gewe­sen. Dann, wenn nicht viel läuft und sie Zeit hatte, ihren Gedan­ken frei­en Lauf zu lassen. «Ich hatte sehr viele Krisen», sagt Diet­rich. «Gera­de die Mona­te nach dem Tod waren der Fried­hof und die Begeg­nun­gen dort für mich sehr wich­tig.» Der Verlust eines gelieb­ten Menschen lasse einen in ein Loch fallen. «Nichts ist mehr, wie es war.» Sie habe sich anstren­gen müssen, wieder am Leben teil­zu­neh­men, nach draus­sen zu gehen, nicht zu vereinsamen. 

Mari­an­ne Diet­rich setzt sich gerne an das Grab ihres verstor­be­nen Mannes und spricht mit ihm.

Der Fried­hof und die Gesprä­che dort halfen ihr dabei. Irgend­wann begann sie wieder mehr, unter die Leute zu gehen. «Ich woll­te nicht versau­ern.» Mari­an­ne Diet­rich ist dank­bar, dass sie noch so rüstig ist, ein gutes Umfeld und viele nette Freun­din­nen und Freun­de hat. Aber es gibt auch immer wieder schwie­ri­ge Zeiten. Etwa, als sie sich vor zwei Mona­ten operie­ren lassen muss­te. «In solchen Zeiten vermis­se ich meinen Mann noch mehr.»

Räumung war «schreck­lich»

Gerne würde sie beim Grab öfter das bereit­ge­stell­te Weih­was­ser nutzen und die Plaket­te damit bepin­seln – «damit er auch merkt, dass ich da war.» Die Plaket­te hängt aller­dings zu hoch. Mari­an­ne Diet­rich kann sie nicht errei­chen. Heute über­nimmt das ihre Beglei­te­rin Jacque­line Boll­hal­der. «Ich bepins­le dann halt statt­des­sen manch­mal Plaket­ten von Freun­den», sagt Diet­rich. Früher habe sie jeweils noch eine Kerze ans Grab mitge­nom­men. «Aber das habe ich aufge­ge­ben. Wegen des Windes erlö­schen die immer wieder.» 

Mit dem Weih­was­ser bepin­selt Mari­an­ne Diet­rich oft ­Plaket­ten von verstor­be­nen Freun­den oder Bekannten.

Dann wird Mari­an­ne Diet­richs Stim­me leiser. Sie wirkt nach­denk­lich. Man habe sie einmal gefragt, ob sie an die Aufer­ste­hung glau­be. «Ich bin sicher, dass er es schön hat im Himmel», sagt sie. Mari­an­ne Diet­rich muss­te bereits einmal einen schwe­ren Schick­sals­schlag verkraf­ten. 1990 verstarb ihr Sohn im Alter von 22 Jahren. Seine Ruhe­stät­te fand er eben­falls auf dem Fried­hof Hofegg. Auch damals waren die Fried­hof­be­su­che ein Trost für Mari­an­ne Diet­rich und sie kann sich noch gut an den Tag erin­nern, als das Grab nach 25 Jahren geräumt wurde. «Das war schreck­lich für mich.»

Grab­pfle­ge ausschlaggebend

Die Entschei­dung für das Gemein­schafts­grab hat Mari­an­ne Diet­rich mit ihrem Mann gefällt. Ein Einzel­grab kam für sie nicht in Frage. «Wer soll­te denn für das Grab schau­en, wenn auch ich nicht mehr da bin?», fragt sie rheto­risch. Die Toch­ter wohne leider zu weit weg. So müsse sich niemand um das Grab kümmern und die Ruhe­stät­te sehe immer schön aus. «Wich­tig ist für mich einfach, dass sein Name dasteht und ich einen Ort habe, an den ich kommen kann, um ihm nahe zu sein.» 

Blumen beim Gemein­schafts­grab auf dem Fried­hof Hofegg in Gossau.

Auch sie selbst wird dereinst im Gemein­schafts­grab auf dem Fried­hof Hofegg beer­digt werden. Sie schaut aber­mals hoch zur Plaket­te ihres Mannes. Links und rechts dane­ben sind viele weite­re Namen vermerkt. Jacque­line Boll­hal­der spricht den Umstand an, dass heute eini­ge Menschen die Asche verstreu­en. Sie selbst sehe das eher schwie­rig, aber man dürfe nicht urtei­len. «Die Trau­er­ar­beit ist so indi­vi­du­ell und persön­lich. Jeder muss das selbst für sich wissen.»

Erin­ne­run­gen bleiben

Die Besu­che von Mari­an­ne Diet­rich auf dem Fried­hof wurden im Laufe der Jahre weni­ger. Früher war sie noch täglich am Grab ihres Mannes. Heute geht sie einmal wöchent­lich. Die Erin­ne­run­gen an ihre Liebs­ten und die Trau­er sind geblie­ben. Zuhau­se hat Mari­an­ne Diet­rich einen klei­nen Altar errich­tet. Darauf eine Schüs­sel mit frischen Blumen und die Namen des Sohnes und des Ehemanns auf hand­ge­schrie­be­nen Zetteln. Jeden Abend zündet Mari­an­ne Diet­rich im Geden­ken an sie eine Kerze an.

Text: Ales­sia Paga­ni
Bilder: Regi­na Kühne
Veröf­fent­li­chung: 22. Okto­ber 2023

Die Engel in Niederglatt entdecken

Mit dem Pfar­rei­gre­mi­um Nieder­glatt hat der 38-jährige Dani­el Inau­en den «Engel­zau­ber» initi­iert – eine Schnit­zel­jagd in und um das Dorf. An wen sie sich rich­tet und warum sich der Finanz­con­trol­ler in der Kirche engagiert.

«Jeder kann ein Engel sein, ein Schutz­en­gel zum Beispiel», sagt Dani­el Inau­en. Der 38-Jährige steht in der Kirche Nieder­glatt, ein für die Grös­se des Dorfes – es zählt rund 300 Einwoh­ne­rin­nen und Einwoh­ner – statt­li­cher Bau. Die Frage nach dem typi­schen Ausse­hen eines Himmels­bo­ten lässt ihn ein wenig grübeln – und schliess­lich ratlos zurück. Statt­des­sen zeigt Inau­en an die Decke. Auf einem bunten Gemäl­de sind zwei Engel­fi­gu­ren abge­bil­det. «Sie sind über­all, man muss nur mit offe­nen Augen umher­ge­hen und bewusst darauf achten.» Inau­en lädt uns ein, auf die Empo­re zu gehen, «dort­hin, wo sonst selten jemand hingeht», und das Bild aus der Nähe zu betrach­ten. Und schon sind wir Teil des «Engel­zau­bers», einer inter­ak­ti­ven Schnit­zel­jagd in und um das Dörf­chen Niederglatt.

Wohn­ort neu kennenlernen

An über zehn Statio­nen erfah­ren die Schnit­zel­jä­ge­rin­nen und ‑jäger Wissens­wer­tes über Engel und müssen an eini­gen Posten Aufga­ben lösen, um die weite­re Route zu erfah­ren. Die Schnit­zel­jagd rich­tet sich an alle Alters­grup­pen. «Die Fragen sind leicht zu beant­wor­ten und der Weg nicht allzu lang», so Inau­en. «Der Weg soll vor allem auch Junge und Fami­li­en anspre­chen.» Einzi­ge Bedin­gung zur Teil­nah­me ist ein Handy mit ausrei­chend Akku und Inter­net­ver­bin­dung. Den QR-Code an der Kirchen­tü­re gescannt und schon geht’s los. «Der Weg ist nicht zu kirch­lich geprägt und nicht beleh­rend», sagt Inau­en und fügt hinzu: «Durch die Vorbe­rei­tun­gen auf das Projekt habe ich die Umge­bung meines Wohn­or­tes noch­mals ganz neu kennen­ge­lernt. Besten­falls geht es ande­ren Nieder­glätt­lern auch so.» Die Posten stehen etwa bei der ehema­li­gen Schu­le, beim Fried­hof, bei einer Grot­te, am Ufer der Glatt. «Es ist erstaun­lich und inter­es­sant, wo Engel über­all präsent sind.»

Der «Engel­zau­ber» führt an der ehema­li­gen Schu­le in Nieder­glatt vorbei.

Aus Mangel an Angeboten

Den Anstoss für die Schnit­zel­jagd, die in diesem Jahr zum ersten Mal statt­fin­det, gab das fünf­köp­fi­ge Pfar­rei­gre­mi­um von Nieder­glatt. Die Pfar­rei Nieder­glatt wieder­um ist seit vier Jahren Teil der Seel­sor­ge­ein­heit Magden­au. Dort wurde im vergan­ge­nen Jahr eine Schnit­zel­jagd orga­ni­siert. Die Idee ist also nicht neu. Wie Inau­en erklärt, ist der «Engel­zau­ber» als Teil der Chil­bi in Nieder­glatt geplant worden. «Die Chil­bi ist neben dem Suppen­tag und eini­gen weni­gen Anläs­sen in der Weih­nachts­zeit meist der einzi­ge Event im Dorf. Ansons­ten läuft hier nicht viel», erklärt Inau­en. Der «Engel­zau­ber» soll­te auch den jungen Gene­ra­tio­nen etwas bieten. Der Weg ist noch bis 15. Novem­ber begeh­bar. Ob das Projekt im kommen­den Jahr fort­ge­setzt werde, sei noch offen. «Leider haben während der Chil­bi nicht so viele mitge­macht wie erhofft.»

Mitwir­kung durch Kirche

Dani­el Inau­en enga­giert sich seit vier Jahren im Pfar­rei­gre­mi­um. Dane­ben arbei­tet der zwei­fa­che Fami­li­en­va­ter in der Finanz­kon­trol­le der Stadt St. Gallen. Über seine Moti­va­ti­on für das frei­wil­li­ge Enga­ge­ment sagt der gebür­ti­ge Inner­r­höd­ler: «Ich woll­te mitwir­ken und mich inte­grie­ren.» Da Nieder­glatt kein viel­fäl­ti­ges Vereins­le­ben oder ein akti­ves Dorf­le­ben habe, sei die Kirche für ihn eine gute Möglich­keit gewe­sen, in der Gemein­schaft mitzu­wir­ken. «Zudem bin ich in Appen­zell katho­lisch aufge­wach­sen und die Verbun­den­heit zur Kirche war bereits da. Aber fromm war ich nie.» Inau­en spricht auch den Stel­len­wert der Kirche für die Gemein­schaft an. «Nieder­glatt ist sehr verstreut, die Einwoh­ner wohnen oft weit vonein­an­der entfernt, und seit die Schu­le nicht mehr da ist, ist die Kirche noch sinn­stif­ten­der und verbindender.»

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Ana Kontou­lis
Veröf­fent­li­chung: 20. Okto­ber 2023

«Es braucht den Mut der Bischöfe und den Druck von der Basis»

Über 2500 Perso­nen aus dem ganzen Bistum St.Gallen haben bereits die Erklä­rung “So nicht!» der Katho­li­schen Kirche in der Stadt St.Gallen unter­zeich­net. Ange­sichts der Miss­brauchs­fäl­le fordert die Bewe­gung einen ­Kultur- und Struk­tur­wan­del in der Kirche.

2514 Perso­nen haben auf reformenjetzt.ch die Akti­on «So nicht» unter­zeich­net (Stand Redak­ti­ons­schluss 13. Okto­ber). Darun­ter Menschen aus urba­nen Pfar­rei­en wie Rappers­wil oder Wil, aber auch aus länd­li­chen Regio­nen wie dem Walen­see oder Sargan­ser­land. «In der Erklä­rung nennen wir mehre­re Punk­te, die zu einem Kultur­wan­del in der Katho­li­schen Kirche führen sollen», sagt Ann-Katrin Gäss­lein, eine der Initia­tin­nen. “Wir stel­len die Macht­fra­ge, die Sexu­al­mo­ral, das Pries­ter­bild, die Rolle der Frau und die Ausbildungs- und Perso­nal­po­li­tik in Frage, weil wir wissen, dass Kirche auch anders sein kann.» Ann-Katrin Gäss­lein ist katho­li­sche Theo­lo­gin und Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­le­rin. Sie arbei­tet für das Ressort «Kultur und Bildung» der Katho­li­schen Kirche im Lebens­raum St. Gallen. Anfangs rich­te­te sich die Bewe­gung an Gläu­bi­ge, frei­wil­lig Enga­gier­te und kirch­li­che Mitar­bei­ten­de in der Stadt St. Gallen. Das Echo war gross, deshalb wurde sie für Menschen im ganzen Bistum geöffnet.

Nicht gegen Kirchenrecht

Eines fällt beim Blick in die Reform­vor­stös­se gleich auf: Ganz heis­se Eisen wie das Pflicht­zö­li­bat oder die Zulas­sung der Frau­en zum Pries­ter­amt kommen nicht vor. «Das Pflicht­zö­li­bat wird oft als erstes genannt”, räumt Ann-Katrin Gäss­lein ein, “diese Entschei­dung liegt jedoch beim Papst. Unab­hän­gig davon, ob solche Anlie­gen berech­tigt sind, man kann es sich damit auch einfach machen: Man dele­giert es an “die da oben”. Wir setzen auf einen ande­ren Stil: Wir werden als Basis aktiv.” Sie persön­lich sei skep­tisch, ob die Abschaf­fung des Pflicht­zö­li­bats das drin­gends­te Anlie­gen sei. “Viel drän­gen­der sind Themen wie die Gleich­stel­lung von Mann und Frau, Trans­pa­renz und Mitspra­che­mög­lich­kei­ten der Gläu­bi­gen, unse­rer katho­li­schen Basis.”

Teil der Lösung sein

Die St. Galler Reform­ak­ti­on ist nicht der erste Versuch: Initia­ti­ven wie «Kirche mit* den Frau­en», das schweiz­wei­te “Gebet am Donners­tag” für die Gleich­stel­lung, die deut­sche Akti­on “Maria 2.0”, die auch in der Schweiz Sympathisant*innen mobi­li­sier­te, oder die “Alli­anz gleich­wür­dig katho­lisch” haben schon vor Jahren versucht, Bischö­fe und den Papst zum Umden­ken zu brin­gen. Konkre­tes ist wenig passiert. Ist bei «So nicht!» der Frust nicht vorpro­gram­miert? “Diese Initia­ti­ven waren und sind wich­tig”, so Ann-Katrin Gäss­lein, “Unse­re Reform­vor­stös­se fokus­sie­ren auf Anlie­gen, die nach aktu­el­len kirchen­recht­li­chen Vorga­ben auch realis­tisch sind. Um sie umzu­set­zen, braucht es nur Mut vonsei­ten der Bischö­fe und der verant­wort­li­chen Gremi­en – sowie den Druck von der Basis, weder ein neues Konzil noch einen neuen Papst.» Ann-Katrin Gäss­lein hält fest: “Wir wollen nicht gegen den Bischof agie­ren. Wir über­le­gen uns schon im Vorfeld, was im Bistum konkret umsetz­bar ist. Wir wollen Teil der Lösung sein.” Darüber hinaus pocht sie auf die Verant­wor­tung der Leitungs­ebe­ne: „Wir erwar­ten, dass unse­re Schwei­zer Bischö­fe in Rom Spiel­raum für die Gestal­tung neuer Struk­tu­ren in der Orts­kir­che hart­nä­ckig einfordern.“

Feier in der Kathedrale

Anfang Okto­ber wurden die ersten Vorstös­se bei Bischof Markus Büchel, aber auch ande­ren Verant­wor­tungs­trä­gern wie dem Domde­kan oder dem Katho­li­schen Admi­nis­tra­ti­ons­rat einge­reicht. “Wir machen das öffent­lich und erwar­ten auch eine öffent­li­che Antwort”, sagt Ann-Katrin Gäss­lein. Unab­hän­gig davon seien in den nächs­ten Mona­ten verschie­de­ne Aktio­nen geplant. Und die Bewe­gung ist spiri­tu­ell veran­kert: Am Sonn­tag, 10. Dezem­ber 2023, um 16 Uhr findet eine Feier in der Kathe­dra­le St. Gallen statt. Gelei­tet wird sie von den beiden Theo­lo­gin­nen Hilde­gard Aepli und Stefa­nia Fenner sowie Dompfar­rer Beat Grög­li. Im Reform­pro­zess geht es laut den Verant­wort­li­chen auch darum, zusam­men zu stehen, sich zu stär­ken und zu verbin­den. Alle Mitfei­ern­den sind einge­la­den, eine Kerze mitzu­brin­gen. Aktu­ell werden laut Ann-Katrin Gäss­lein bereits weite­re Reform­vor­stös­se ausge­ar­bei­tet – unter ande­rem zum Thema Privat­le­ben: “Das Bistum soll künf­tig die part­ner­schaft­li­chen Bezie­hun­gen der Gläu­bi­gen und der Seel­sor­gen­den respek­tie­ren. Konkret: Bei den Gesprä­chen und Formu­la­ren, mit denen Seel­sor­gen­de bei der Berufs­ein­füh­rung im Bistum St.Gallen konfron­tiert werden, sollen die part­ner­schafl­ti­chen Bezie­hung kein Krite­ri­um für die Zulas­sung mehr sein.” So schnell wird es also nicht ruhig um die St.Galler Bewe­gung “So nicht!”.

Text: Stephan Sigg

Bild: zVg.

Veröf­fent­licht: 13. Okto­ber 2023

Zeitungs­in­se­rat, Trau­er­fei­er und Online-Petition

Der Miss­brauchs­skan­dal und das Verhal­ten der St.Galler Bischö­fe Markus Büchel und Ivo Fürer hat Betrof­fen­heit und Wut ausge­löst. Die Katho­li­sche Kirche St. Gallen setz­te neben der Online-Petition «So nicht!» auch mit einer Trau­er­fei­er und einem Zeitungs­in­se­rat ein Zeichen: Rund 500 Gläu­bi­ge trafen sich am 18. Septem­ber zu einer Art Trau­er­fei­er in der Kathe­dra­le St. Gallen und teil­ten Enttäu­schung und Wut, aber auch Hoff­nung. Im St. Galler Tagblatt forder­ten kirch­li­che Mitar­bei­ten­de in einem ganz­sei­ti­gen Inse­rat einen Struk­tur­wan­del – das Inse­rat wurde darauf auf Face­book und Insta­gram in der ganzen Deutsch­schweiz geteilt. Eini­ge Pfar­rei­en aus dem Bistum St. Gallen veröf­fent­lich­ten das Plakat in ihren Social-Media-Kanälen und auf ihren Websites.

Soll man Bettelnden etwas geben?

Viele kennen die Situa­ti­on nur allzu gut: Man läuft durch die Stadt und trifft auf Menschen, die einen nach Geld fragen. Etwas geben oder nicht? Die Entschei­dung ist nicht einfach – und hängt von ­unter­schied­li­chen Fakto­ren ab. Ich ­persön­lich gebe ­meis­tens den Betteln­den ­etwas: Manch­mal Geld, aber nicht immer.

Gute Erfah­rung habe ich gemacht, indem ich Menschen auch Essen kaufe, nach dem sie verlan­gen. Dies bot ich zum Beispiel einem jungen Mann am Bahn­hof an, der mich nach Geld frag­te. Er nahm das Ange­bot dankend an und es mach­te mir auch Freu­de, ihm etwas zu schen­ken, von dem ich wuss­te, dass es ihm wirk­lich dient. Ich denke, das ist meis­tens das Problem bei Bettel-Anfragen: Man ist sich nicht sicher, wofür die betteln­den Menschen das verlang­te Geld ausge­ben. Man möch­te sicher sein, dass es wirk­lich für die Befrie­di­gung von Grund­be­dürf­nis­sen ausge­ge­ben und nicht einfach als Taschen­geld benutzt wird. Einem betteln­den Menschen Natu­ra­li­en oder einen konkre­ten Einkauf anzu­bie­ten, erach­te ich als einen guten Kompromiss.

Das Erleb­nis mit dem jungen Mann am Bahn­hof hat in mir ein paar Über­le­gun­gen ausge­löst: Was sagt es über unse­re Gesell­schaft aus, wenn man gros­se Beden­ken hat, jeman­dem Geld zu geben, damit er sich etwas kaufen kann? Wir sind gegen­über Menschen, die betteln, kritisch einge­stellt. Oft vertrau­en wir ihnen nicht und haben ihnen gegen­über viele Vorur­tei­le. Das ist ganz normal und mensch­lich. Aber wieso soll man nicht gera­de die Vorur­tei­le über­win­den und etwas geben? Gera­de uns Chris­ten kann in diesem Zusam­men­hang das Gebot der Golde­nen Regel ein Leit­ge­dan­ke sein: Alles nun, was Ihr wollt, dass Euch die Menschen tun, das tut auch Ihr ihnen eben­so (Matthä­us 7,12).

Das Gebot fordert uns auf und lehrt uns, jeman­den so zu behan­deln, wie wir selbst gerne behan­delt werden wollen. In solchen Situa­tio­nen soll­ten wir uns immer wieder fragen: Wie sollen die Menschen uns behan­deln, wenn wir in Not sind? Wenn wir selber im Alltag in irgend­ei­ner Weise Hilfe benö­ti­gen, sind wir eben­falls froh, wenn uns gehol­fen wird, ohne gross zu fragen oder von uns etwas zu verlan­gen. Bei manchen sind sie offen­sicht­li­cher (wie zum Beispiel bei betteln­den Menschen) und bei manchen verbor­ge­ner. Warum also soll­ten wir nicht auch helfen, wenn ande­re in Not sind?

Und Hand aufs Herz: Die meis­ten von uns haben genug Geld, dass ein oder zwei Fran­ken wirk­lich entbehr­lich sind und man diese den betteln­den Menschen gut geben kann. Letzt­lich bleibt es aber natür­lich die freie Entschei­dung jeder einzel­nen Person, wie er oder sie in solchen Momen­ten reagiert.

Pascal Graf
Jugend­seel­sor­ger St. Gallen

Leser­fra­gen an info@pfarreiforum.ch

Veröf­fent­li­chung: 11. Okto­ber 2023

Sind religiöse Menschen engagierter?

Eine neue Studie unter­sucht den Zusam­men­hang zwischen Reli­gio­si­tät und Enga­ge­ment und kommt zum Schluss, dass reli­gi­ös prak­ti­zie­ren­de Menschen stär­ker frei­wil­lig tätig sind.

«Frei­wil­li­ge gesucht», «Haben Sie Zeit und wollen sich einbrin­gen?», «Wollen Sie sich ehren­amt­lich enga­gie­ren?» Wer im Inter­net über Orga­ni­sa­tio­nen oder Verei­ne recher­chiert, stösst oft auf solche Aussa­gen. Nicht zuletzt die Orga­ni­sa­to­ren von kirch­li­chen Veran­stal­tun­gen, wie etwa den Rorate-Frühstücken (im Bild: Altstät­ten), sind auf die Hilfe von Frei­wil­li­gen ange­wie­sen. Die Bereit­schaft ist in der Bevöl­ke­rung vorhan­den. Doch wer ist eigent­lich bereit, sich für die Gemein­schaft zu enga­gie­ren? Dieser Frage geht der Luzer­ner Reli­gi­ons­so­zio­lo­ge Anas­tas Oder­matt in einer Studie nach. Unter dem Titel «Reli­gi­on und Sozi­al­ka­pi­tal in der Schweiz. Zum eigen­wil­li­gen Zusam­men­hang zwischen Reli­gio­si­tät, Enga­ge­ment und Vertrau­en» unter­sucht der gebür­ti­ge St. Galler unter ande­rem, inwie­weit das sozia­le Enga­ge­ment von der Reli­gio­si­tät beein­flusst wird. Oder­matt kommt zum Schluss: Reli­gio­si­tät und frei­wil­li­ges Enga­ge­ment sind posi­tiv korre­liert. Vor allem die reli­giö­se Praxis, insbe­son­de­re der Gottes­dienst­be­such, verstärkt das frei­wil­li­ge Enga­ge­ment. Zudem zeigt die Studie, dass reli­gi­ös prak­ti­zie­ren­de Menschen sowohl im reli­giö­sen als auch im säku­la­ren Bereich stär­ker frei­wil­lig tätig sind.

Teil einer Grup­pe sein

Doch ist es wirk­lich so einfach? Enga­gie­ren sich gläu­bi­ge Menschen mehr? «Ja», sagt Jürg Wüst, Pfar­rei­be­auf­trag­ter aus Gommis­wald, auf Nach­fra­ge. «Die Bereit­schaft für frei­wil­li­ges Enga­ge­ment ist in den Pfar­rei­en grund­sätz­lich gross. Das spüren wir schon.» Kirch­gän­ger oder Menschen, die sich in Pfar­rei­en enga­gie­ren, such­ten die Inter­ak­ti­on mit der Gemein­schaft. «Sie suchen den Kontakt und wollen Teil einer Grup­pe sein, in die sie sich einbrin­gen können», so Wüst. Nach den Gottes­diens­ten biete sich dafür eine gute Gele­gen­heit. Ähnli­che Erfah­run­gen hat Susan­ne Baum­gart­ner von der ökume­ni­schen Gemein­de St. Gallen-Halden gemacht. Im Nähca­fé stel­len frei­wil­li­ge Helfe­rin­nen Inter­es­sier­ten ihre Zeit zur Verfü­gung. «Tenden­zi­ell enga­gie­ren sich bei uns mehr die Menschen mit reli­giö­sem Hinter­grund frei­wil­lig. Das hat auch mit der Kern­aus­sa­ge des Chris­ten­tums zu tun, dass wir unse­re Mitmen­schen lieben sollen  wie uns selbst», sagt Baum­gart­ner. Das Wir-Gefühl sei davon unab­hän­gig, auch durch den ökume­ni­schen Gedan­ken, in den vergan­ge­nen Jahr­zehn­ten in der Pfar­rei stark gewach­sen. «Bei uns im Quar­tier herrscht ein gros­ses Gemein­schafts­ge­fühl. Die Bereit­schaft zur Unter­stüt­zung ist extrem gross. Unab­hän­gig davon, ob die Menschen gläu­big sind oder nicht.» Auf die Mithil­fe von Frei­wil­li­gen ist auch Niklaus Fürer ange­wie­sen. Fürer orga­ni­siert in der Pfar­rei Abtwil-St. Jose­fen die Senio­ren­treffs mit Kaffee­stu­be. Diese wird von Frei­wil­li­gen betreut. «Es sind alles religiös-engagierte Frau­en. Auf ihre Unter­stüt­zung kann ich immer zählen», sagt Fürer. Er selber orga­ni­siert ehren­amt­lich das Programm des Senio­ren­treffs, unter ande­rem Vorträ­ge, Ausflü­ge und ande­re Zusam­men­künf­te. «Für mich ist es eine Befrie­di­gung, wenn ich älte­ren Menschen inter­es­san­te Themen und ein gemüt­li­ches Beisam­men­sein anbie­ten kann.»

Bereit­schaft gross

Bene­vol, die Fach­stel­le für frei­wil­li­ges Enga­ge­ment, regis­triert laut Projekt­ma­na­ger Ueli Ricken­bach pro Monat rund 100 neue Frei­wil­li­ge auf benevol-jobs.ch. «Die Bereit­schaft, sich ehren­amt­lich zu enga­gie­ren, ist nach wie vor gross», sagt Ricken­bach. Entschei­dend seien dabei die Stoss­rich­tun­gen der einzel­nen Grup­pie­run­gen, welche Anrei­ze diese setz­ten und wie die Zusam­men­ar­beit funk­tio­nie­re. «Die Verbun­den­heit mit einer Orga­ni­sa­ti­on, das Teilen dersel­ben Werte und das gemein­sa­me Bewe­gen sind Förder­fak­to­ren. Diese sind sicher­lich auch in der Kirche anzu­tref­fen», sagt Ricken­bach und ergänzt: «Beliebt sind Aufga­ben, die zeit­lich flexi­bel sind. ‹Lebens­lan­ge› Jobs sind weni­ger gefragt.» Entspre­chend würden die Orga­ni­sa­tio­nen heute auch mehr auf Projekt­ba­sis arbei­ten. Auch Jürg Wüst sagt: «Für Einzel­ein­sät­ze finden wir schnel­ler Frei­wil­li­ge. Bei länge­ren Einsät­zen oder Dauer­ein­sät­zen ist es schwie­ri­ger. Anschei­nend wollen sich die Leute heute nicht mehr allzu lang binden.»

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Pfar­rei Altstät­ten, R. Hang­art­ner
Veröf­fent­li­chung: 4. Okto­ber 2023

Neues Leben in Afrika

David Rütti­mann steht vor einem­ ­gros­sen Aben­teu­er. Während drei­er Jahre wird der St. Galler mit seiner Fami­lie in Kenia leben und bei der ­Ausbil­dung von Fach­kräf­ten helfen.

Ende August 2023: David Rütti­mann sitzt in seiner Werk­statt im Keller, den Lötkol­ben in der Hand. Es ist einer der weni­gen Räume im Haus, die noch voll einge­rich­tet sind. Die Zimmer haben sich in den vergan­ge­nen Wochen nach und nach geleert. Der Haus­rat wurde einge­la­gert. «Wir lassen alles auf uns zukom­men und nehmen eines nach dem ande­ren», sagt Rütti­mann und strahlt eine Ruhe und Gelas­sen­heit aus, die erstaunt. Denn: Sein Leben wird sich bald grund­le­gend ändern. David Rütti­mann wird für die kommen­den drei Jahre in Kenia leben und vor Ort sein Wissen als Elek­tro­tech­ni­ker weiter­ge­ben. «An der Basis. Dort, wo es auch wirk­lich gebraucht wird», sagt er. Als Entwick­lungs­hel­fer für das Schwei­zer Hilfs­werk Comun­do – entstan­den aus der Beth­le­hem Missi­on Immensee – wird der 54-Jährige am North Coast Medi­cal Trai­ning College Lehr­kräf­te in Faci­li­ty Manage­ment und Medi­zi­nal­tech­nik ausbil­den und unter ande­rem den Aufbau von Werk­stät­ten beglei­ten. Der Grund: In Kenia fehlen Fach­kräf­te für die Wartung und Repa­ra­tur von medi­zi­ni­schen Gerä­ten. «Die Gesund­heits­ein­rich­tun­gen sind zwar gut ausge­rüs­tet, aber die Hand­ha­bung und Repa­ra­tur der Appa­ra­tu­ren stellt die Mitar­bei­ten­den immer wieder vor Proble­me», sagt Rütti­mann. «Nicht nur, dass die Appa­ra­te dann nicht mehr zur Verfü­gung stehen, auch entste­hen so Unmen­gen an Abfall.»

Leben mit den Einheimischen

Auf seinem Einsatz wird David Rütti­mann von seiner Ehefrau und den beiden Kindern Anna, 15 Jahre, und Bram, 13 Jahre, beglei­tet. Physio­the­ra­peu­tin Will­emi­jn Rütti­mann wird zu 50 Prozent am College bei der medi­zi­ni­schen Ausbil­dung mitwir­ken. Die Reise führt die Fami­lie ins circa 80 Kilo­me­ter nörd­lich der Millio­nen­stadt Momba­sa gele­ge­ne Kili­fi – eine Stadt am Indi­schen Ozean mit rund 31000 Einwoh­ne­rin­nen und Einwoh­nern. Der künf­ti­ge Wohn­ort wurde bei einem Besuch im Febru­ar sorg­fäl­tig ausge­wählt, befin­det sich unweit des künf­ti­gen Arbeits­plat­zes und nahe einer inter­na­tio­na­len Schu­le. «Wir woll­ten mit unse­ren Kindern nicht in die Gross­stadt und auch nicht in einem Quar­tier wohnen, wo nur Auslän­der oder Menschen mit weis­ser Haut­far­be leben.» Die Fami­lie freut sich auf den Kontakt mit den «Locals». David Rütti­mann lernt seit einem halben Jahr die Landes­spra­che Swahi­li. «Die Spra­che ist immer auch ein Türöff­ner.» Und für Rütti­mann noch wich­ti­ger: «Die Menschen in der Landes­spra­che anzu­spre­chen, hat für mich viel mit Respekt zu tun.»

Extre­me Höhen und Tiefen

Zwei Koffer darf jedes Fami­li­en­mit­glied auf die Reise ins neue Leben mitneh­men. David Rütti­mann hat zusätz­lich noch Gerä­te und Werk­zeu­ge aus der Schweiz im Gepäck. «Es gibt zwar alles in Kenia. Die Quali­tät ist aller­dings nicht mit jener bei uns vergleich­bar.» David Rütti­mann und seine Frau wissen, dass der Umzug für die Kinder im Teen­ager­al­ter nicht einfach ist. Sie spre­chen die unter­schied­li­che Kultur an, die unbe­kann­te Spra­che, das unge­wohn­te Essen, die fehlen­den Freun­de. Diese Erfah­run­gen hat die Fami­lie bereits einmal gemacht. Von 2014 bis 2016 waren die Rüttimanns in Simbab­we im Einsatz. «Wir wissen, dass es nicht immer einfach werden wird. Die Inten­si­tät der Gefüh­le wird sehr viel grös­ser sein. Es wird unheim­lich viele Höhen und eben­so viele Tiefen geben.» Aber die vielen Erfah­run­gen würden alles wett­ma­chen: „Es ist keine Einbahn­stras­se. Wir werden viel aus dieser Zeit mitneh­men und von den Menschen dort lernen. Wir sehen es als Privi­leg, so tief in eine ande­re Kultur einzutauchen.»

Mitt­ler­wei­le wurden auch die letz­ten an den Wänden verblie­be­nen Bilder im Einfa­mi­li­en­haus in St. Gallen abge­hängt. Am 11. Septem­ber hiess es für die Rütti­manns: ab ins Flug­zeug und hinein ins neue Leben.

Infos: www.comundo.org/kenia

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Ana Kontou­lis
Veröf­fent­li­chung: 28. Septem­ber 2023

Selbstbewusstsein weht durch die alten Gassen

Lich­ten­steig hat den Wakker­preis 2023 des Schwei­zer Heimat­schut­zes erhal­ten. Was ist so beson­ders am Städt­chen im Toggen­burg? Auf Spuren­su­che vor Ort.

Es ist ein wunder­schö­ner Sommer­tag Ende August. Die Sonnen­strah­len wärmen die Haut schon in den frühen Morgen­stun­den. Im Städt­chen Lich­ten­steig am Fusse der Wasser­fl­uh hat der Tag längst begon­nen. Passan­tin­nen und Passan­ten queren auf leisen Sohlen die Stras­se, Laden­be­sit­zer wischen ihre Vorplät­ze, auf den Balko­nen der Wohn­häu­ser werden die Pflan­zen gegos­sen. Über den verwin­kel­ten Gäss­lein der Altstadt liegt an diesem Morgen eine idyl­li­sche Ruhe. Einzig ein Auto durch­bricht dann und wann die Stil­le. Reger Betrieb herrscht derweil bereits im Café Huber am Orts­ein­gang. Die Plät­ze auf der Terras­se sind rest­los belegt, die Ange­stell­ten haben alle Hände voll zu tun. Das Städt­li – wie Lich­ten­steig liebe­voll genannt wird – ist ein belieb­tes Ausflugs­ziel. Und es war in den vergan­ge­nen Wochen vermehrt im Gespräch. Denn: Lich­ten­steig hat den Wakker­preis 2023 erhal­ten. Der Heimat­schutz Schweiz hat das Städt­chen für seinen «Mut zur inno­va­ti­ven Bele­bung von leer­ste­hen­den Räumen» geehrt. Dadurch habe es zu einem «neu beleb­ten Selbst­be­wusst­sein» gefun­den. Beson­ders gewür­digt werden dabei der Einbe­zug der Bevöl­ke­rung sowie die viel­fäl­ti­gen Umnut­zun­gen von histo­ri­schen Gebäuden.

Verwal­tung macht Kultur Platz

Bei einem Spazier­gang durch die Altstadt – im Inven­tar schüt­zens­wer­ter Orts­bil­der der Schweiz enthal­ten – fallen den Besu­che­rin­nen und Besu­chern diese schö­nen und meist liebe­voll sanier­ten Altbau­ten direkt ins Auge. Arka­den und Bogen­gän­ge lassen einen in längst verges­se­ne Zeiten eintau­chen. Viele klei­ne Hand­wer­ker­be­trie­be und Verkaufs­lä­de­li bieten ihre Waren und Dienst­leis­tun­gen an. Das Ange­bot ist gross und viel­fäl­tig. Auch die Regio­na­li­tät fehlt nicht. Darauf, so scheint es, wird ein gros­ses Augen­merk gelegt. Der Schwei­zer Heimat­schutz nennt als posi­ti­ves Beispiel für die Stadt­ent­wick­lung die UBS-Filiale und das Rathaus. Das Rathaus aus dem 17. Jahr­hun­dert dien­te dereinst der Stadt als Sitz der Verwal­tung. Um allen Menschen den Zugang zu ermög­li­chen, wurde vor eini­gen Jahren ein Lift­einbau evalu­iert. Aufgrund der Kosten und des star­ken Eingriffs in die histo­ri­sche Substanz entschied sich die Stadt aller­dings dafür, nicht in die Reno­va­ti­on, sondern in den Erwerb des benach­bar­ten UBS-Gebäudes zu inves­tie­ren. 2018/2019 bezog die Stadt­ver­wal­tung die neuen Räume, das bishe­ri­ge Rathaus wurde zum «Rathaus für Kultur». Dieses bietet seit­her Platz für Krea­tiv­wirt­schaft und beher­bergt verschie­de­ne Ausstel­lun­gen. Als weite­res Beispiel hebt der Heimat­schutz die Umnut­zung des ehema­li­gen Post­ge­bäu­des hervor. Nach dem Auszug der Post 2016 wurde aus dem statt­li­chen Gebäu­de das Mach­er­zen­trum Toggen­burg. In den Räumen werden heute Coworking-Plätze ange­bo­ten. Ein Ange­bot, das den heuti­gen Arbeits­an­for­de­run­gen entspricht.

Die Verwal­tung hat neue Räume im ehema­li­gen Bank­ge­bäu­de bezo­gen, das Rathaus wurde zum «Rathaus für Kultur».

Neue Menschen anziehen

Mit seiner akti­ven Poli­tik nutze Lich­ten­steig die Möglich­keit, auf die bauli­che Entwick­lung Einfluss zu nehmen und die Nutzung in eine zukunfts­fä­hi­ge Rich­tung zu lenken, so der Heimat­schutz. Es gelin­ge, neue Menschen anzu­zie­hen, Einge­ses­se­ne zu halten, Kultur zu ermög­li­chen und so den Charak­ter eines urba­nen Zentrums auf dem Land wieder zu stär­ken. Mit der Stra­te­gie «Mini.Stadt 2025» stützt sich Lich­ten­steig gemäss eige­ner Aussa­ge für seine zukünf­ti­ge Entwick­lung auf ihre vorhan­de­nen Poten­zia­le. Augen­merk wird dabei auf die «einma­li­ge Archi­tek­tur, das kultu­rel­le Ange­bot, das Unter­neh­mer­tum sowie auf die muti­gen und inno­va­ti­ven Bürge­rin­nen und Bürger» gelegt. Und diese lassen sich immer wieder etwas einfal­len. Etwa einen Pop-up-Manufakturladen mit verschie­dens­ten Produk­ten von Schwei­zer Herstel­le­rin­nen und Herstel­lern und regio­na­len Produzenten.

Preis als Wertschätzung

Die Stadt Lich­ten­steig geht selbst­be­wusst mit dem Wakker­preis um. Auf der Website wird in gros­sen Lettern und an promi­nen­ter Stel­le darauf verwie­sen. Und das Bewusst­sein ist auch in der Bevöl­ke­rung vorhan­den. «Natür­lich wissen wir Lich­ten­stei­ge­rin­nen und Lich­ten­stei­ger, dass wir den Wakker­preis erhal­ten haben. Es freut uns sehr», sagt eine Passan­tin. Die Ehrung des Heimat­schut­zes sei eine Wert­schät­zung für sie und mache sich auch an den Besu­cher­zah­len bemerk­bar. «Wir hatten schon immer viele auswär­ti­ge Besu­che­rin­nen und Besu­cher. In diesem Jahr aber noch mehr. Das spüren wir schon. Aber wir Lich­ten­stei­ge­rin­nen und Lich­ten­stei­ger waren schon immer sehr inno­va­tiv» ruft die Frau noch zu, bevor sie in einem Haus­ein­gang verschwindet.

Text: Ales­sia Paga­ni
Bilder: Ana Kontou­lis
Veröf­fent­li­chung: 25. Septem­ber 2023

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