Das Theater St. Gallen bringt zwei Stücke zum Thema Tod auf die Bühne. Bei beiden spielt die Schauspielerin Diana Dengler eine tragende Rolle. Die Proben verlangten ihr einiges ab.
Diana Dengler kommt mit dem Velo. Sie wirkt angespannt, hat nur kurz Zeit. «Ich komme direkt von der Probe. Es sind intensive Tage», sagt sie. Ab November spielt die in St. Gallen wohnhafte Schauspielerin die Hauptrolle im Stück «Die Ärztin» am Theater St. Gallen. Ab Dezember übernimmt sie zudem eine Rolle in «Gott» nach dem Erfolgsautor Ferdinand von Schirach. Beide Stücke bringen das Thema Tod und Selbstbestimmung auf die Bühne. Themen, die Diana Dengler wichtig sind, die ihr aber auch einiges abverlangen: «Die Proben sind anders als sonst. Sie kosten mehr Kraft.» Man befasse sich acht Stunden am Tag mit der Thematik. «Das muss man aushalten können.» Dengler spielt mit einem Ensemble von zehn beziehungsweise neun Personen jeglichen Alters. Die Ältesten sind an die 90 Jahre alt, die Jüngsten knapp volljährig. «Bei allen löst die Thematik etwas aus.»
Gemeinsam erfahren
In den Stücken geht es um Fragen wie: Darf man seinem Leben ein Ende setzen, wenn man dessen überdrüssig ist? Wer entscheidet, wann ich sterben darf und wie der Tod auszusehen hat? Oder: Wo sind die Grenzen meiner Selbstbestimmung? Die Themen sind Dengler nicht fremd. Sie hat selber bereits zwei Menschen beim Sterbeprozess begleitet. «Ich habe Respekt vor diesen Themen. Aber es sind Themen, die unweigerlich zum Leben gehören», sagt sie.
Die St. Galler Schauspielerin Diana Dengler befasst sich dieser Tage viel mit den Themen Tod und Selbstbestimmung.
Trotz der Schwere der Kost: Für die 55-Jährige haben die beiden Theaterstücke auch etwas Befreiendes. «Man wird nicht alleine gelassen mit den Themen, hat einen gemeinsamen Rahmen. Einen geteilten Raum. Es ist wie bei einem Gottesdienst in der Kirche. Es ist ein gemeinsames Erfahren. Man teilt Freud und Leid miteinander.»
Verstehen lernen
Diana Dengler hofft und wünscht sich, dass die beiden Theaterstücke nachhaltig wirken. «Dass sie eine Diskussion in der Bevölkerung auslösen.» In den Stücken werden immer mehrere Positionen und Meinungen vertreten. «Alle Positionen werden respektvoll behandelt und es gibt kein Schwarz und Weiss. Die verschiedenen Meinungen haben Platz. Es geht also darum, sich Gedanken zu machen und sich selbst zu reflektieren.» In den beiden Stücken geht es auch um den Zwiespalt zwischen beruflichen Verpflichtungen und persönlichen Ansichten. Um Meinungsverschiedenheiten. Darum, das Gegenüber zu akzeptieren. Dass es im Leben unterschiedliche Ansichten gibt, ist Diana Dengler klar. Man müsse lernen, das Gegenüber zu verstehen und diesem zuzuhören. «Alles ist im Wandel. So auch die Kirche oder der Tod. Wissen macht es einfacher zu verstehen. Halbwissen schafft eine aggressive Haltung.» Um die Zuschauerinnen und Zuschauer auch nach dem Theaterbesuch nicht mit dem Thema alleine zu lassen, sind Gesprächsreihen mit Expertinnen und Experten geplant. Denn: Egal wie man zum Tod steht und welche Meinung man über Sterbehilfe hat: Das Wichtige ist, darüber zu reden. Die Themen betreffen uns alle.
Die Bischöfe mit der Blockade der Kirchensteuern unter Druck setzen? Auf mehr Mitspracherecht beim St. Galler Bischofswahlrecht pochen? Raphael Kühne, Administrationsratspräsident des Katholischen Konfessionsteils, will bei der Missbrauchsaufarbeitung lieber auf andere Wege setzen.
Eine Kirchgemeinde aus dem Kanton Luzern will den Teil der Kirchensteuern, die sie an das Bistum Basel weiterleiten müsste, blockieren und fordert damit vom Bistum grundlegende Massnahmen bei der Aufarbeitung der Missbräuche und einen Strukturwandel. Dieses Beispiel scheint auch Kirchgemeinden im Bistum St. Gallen auf den Plan gerufen zu haben. Ende September hat der Administrationsrat des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen alle Kirchgemeinden aufgerufen, auf solche Massnahmen zu verzichten. «Aus unserer Sicht macht es den Bischöfen mehr Eindruck, wenn eine Institution wie der Konfessionsteil aktiv wird, als wenn eine einzelne Kirchgemeinde Druck ausübt», sagt Raphael Kühne, Präsident des Administrationsrates im Interview mit dem Pfarreiforum. Doch: Kirchensteuergelder an den Bischof zu blockieren, das ist für die katholische Kantonalkirche momentan kein Thema.
Gemeinsam mit RKZ
«Wir fordern gemeinsam mit der RKZ, dem Zusammenschluss aller Kantonalkirchen, bei den Bischöfen strukturelle Veränderungen ein. Aus meiner Sicht sind sich die Bischöfe durchaus bewusst, welche Stärke wir haben. Druck mit den Kirchensteuern auszuüben, wäre wirklich das letzte Mittel.» Die grössten Mitglieder der RKZ – die Kantonalkirchen des Kantons Zürich, Luzern, Aargau und St. Gallen – ziehen laut Kühne am gleichen Strang und gerade deshalb müsse die Kraft dieser Zusammenarbeit genutzt werden. Das nächste RKZ-Treffen finde im November statt, das Thema sei traktandiert.
Einzigartiges Bischofswahlrecht
Gerade was die Situation im Bistum St. Gallen betrifft, rät Raphael Kühne zur Vorsicht: Das St. Galler Bischofswahlrecht ist weltweit einzigartig. In St. Gallen wählt das Domkapitel den Bischof, das Kollegium (das Parlament der Katholikinnen und Katholiken) hat Mitsprachemöglichkeiten. Grundlage dafür ist die päpstliche Bulle von 1847. «Wenn dem Bischof Kirchensteuern gekürzt oder vorenthalten werden, besteht das Risiko, dass der Vatikan dies als Verletzung der Bestimmungen der Bulle in Frage stellt und daraus verlangen könnte, dass die Bischofswahl wie in anderen Bistümern abläuft, und also der Papst den Bischof ohne Beteiligung der staatskirchenrechtlichen Seite wählt», so Raphael Kühne. Aus seiner Sicht sei deshalb das Risiko grösser als ein möglicher Zugewinn der demokratischen Mittel und Transparenz, wie sie aktuell die St. Galler Bewegung «So nicht!» (zum Beitrag) einfordert.
Keine Kampagne geplant
Während der Konfessionsteil in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Initiativen die Bevölkerung über die Verwendung der Kirchensteuern informiert wie beispielsweise mit der grossen Imagekampange «Den Kirchensteuern sei dank», ist es momentan merkwürdig still. Müsste die Kantonalkirche in dieser Krisenzeit den Kirchgemeinden nicht mehr Rückendeckung geben? «Die Öffentlichkeit darüber zu informieren, was die Kirchensteuern vor Ort bewirken, ist für uns ein wichtiges Anliegen», betont Raphael Kühne. Mit einem Austritt bestrafe man nämlich nicht den Papst, sondern die Institutionen und das vielfältige Engagement vor Ort – von den Kirchensteuern fliesse kein einziger Franken nach Rom. «Deshalb haben wir vor einem Jahr die Kommunikationstelle ausgebaut. Unser Kommunikationsbeauftragte hat gerade in den letzten Wochen in Medienmitteilungen an verschiedenen Beispielen sichtbar gemacht, welche wichtigen Aufgaben die Kirchensteuern ermöglichen: soziale Aufgaben, Kultur und Bildung.» Er sieht die Wichtigkeit von Kampagnen, doch müsse dafür auch der richtige Zeitpunkt gefunden werden. «Im falschen Moment kann so eine Kampagne auch das Gegenteil vom Gewünschten auslösen.»
Text: Stephan Sigg
Bild: Roger Fuchs
Veröffentlicht: 27.10.2023
Verzicht auf Wiederwahl
Der Flawiler Raphael Kühne verzichtet auf eine Wiederwahl im Administrationsrat für die Legislaturperiode 2024 bis 2027. Ende des Jahres, dann im 68. Altersjahr stehend, wird der Jurist auf 9,5 Jahre im Administrationsrat zurückblicken können. Seit 2020 amtet er als Präsident, zuvor oblag ihm als Mitglied das Ressort «Kirchgemeinden und Aufsicht». Raphael Kühne: «Nach über vierzig Jahren Berufsleben als Rechtsanwalt und dabei auch stets im Dienste der Öffentlichkeit wirkend – 16 Jahre als Präsident im Kirchenverwaltungsrat Flawil und als Kollegienrat, 14 Jahre im Kantonsrat und 9,5 Jahre im Administrationsrat – ist es Zeit, jüngeren Engagierten Platz zu machen.» Das Parlament des Katholischen Konfessionsteils wird bei seiner Sitzung am 21. November 2023 seine Nachfolgerin, seinen Nachfolger wählen.
Raphael Kühne, Präsident des Administrationsrates, ruft dazu auf, die Kräfte zu bündeln – anstatt auf Einzelaktionen gegen die Bischöfe zu setzen.
Der Friedhof als Gedenkort für Verstorbene verliert an Bedeutung. Das stellt Daniel Klingenberg, reformierter Pfarrer im Toggenburg, fest. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft und den Umgang mit dem Tod und der Trauer?
Daniel Klingenberg (61) zeigt in seinem Beitrag «Die Auferstehung der Friedhöfe als multifunktionaler Raum», der im Neujahrsblatt 2023 des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen erschienen ist, die Nutzungsveränderung von Friedhöfen an Beispielen aus den Städten St. Gallen und Bern auf. Sein Befund ist eindeutig: Immer weniger Erdbestattungen, immer mehr Kremationen. Urnenbestattungen brauchen weniger Platz, wodurch die frei werdenden Grünflächen auf den Friedhöfen zunehmen. Mit dem zahlenmässigen Rückgang kirchlicher Bestattungsrituale kommt ein neuer Trend dazu: Immer mehr Menschen wünschen eine individuelle Bestattung ohne kirchliche Liturgie.
Daniel Klingenberg, Sie sprechen von drei gesellschaftlichen «Megatrends» im Wandel der Friedhöfe. Können Sie diese kurz umschreiben?
Daniel Klingenberg: Es geht generell um einen religionssoziologischen Befund. Das ist erstens die Individualisierung unserer Gesellschaft, die auch im Glaubensbereich wirksam angekommen ist. Dazu gehören weiter der Wertewandel sowie die religiöse Pluralisierung. Damit hat sich auch der Umgang mit dem Lebensende verändert. Das kirchliche Standardritual wird immer öfter durch selbstgewählte Abschiedsformen ersetzt.
Die Feuerbestattung hat in den letzten Jahren sehr stark zugenommen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Daniel Klingenberg: Das kann man mit dem Wertewandel sehr schön aufzeigen. Dass die Erdbestattung Voraussetzung ist für die christliche Vorstellung von der Auferstehung des Leibes, und dass diese wichtig sei, scheint heute unwichtig. Seit dem Jahr 1963 ist die Feuerbestattung von der katholischen Kirche auch lehrmässig akzeptiert. Hinzu kommen praktische Gründe: Eine Kremation ist viel «platzsparender» und bei der Urnenbeisetzung fallen oft ein individueller Grabstein sowie die Grabpflege weg.
Durch diesen drastischen Rückgang der Erdbestattungen ist der Platzbedarf auf den Friedhöfen entsprechend geschrumpft und es gibt verschiedene Ideen zur Umnutzung dieser Grünflächen. Was geht aus Ihrer Sicht gar nicht auf einem Friedhofsareal?
Daniel Klingenberg: Ich sehe vor allem bei Freizeitnutzungen ein Konfliktpotenzial. Alles, was zu konsumorientiert ist, kollidiert meiner Meinung nach mit dem Phänomen Tod. Ich kann mir ein Konzert auf einem Friedhof vorstellen, vorausgesetzt, die Örtlichkeiten werden in der Veranstaltung sinnvoll eingebunden. Es kommt also stark auf den Rahmen an. Grundsätzlich glaube ich, dass auf einem Friedhofsareal vieles möglich ist.
Was wäre aus Ihrer Sicht eine sinnvolle Umnutzung?
Daniel Klingenberg: Wichtig scheint mir, dass die Grünflächen beibehalten werden und öffentlich zugänglich sind. Dabei sollte auf lärmige und temporeiche Aktivitäten verzichtet werden. Ich stelle mir grüne Oasen vor, ohne intensive Nutzung und ohne Zweckbestimmung.
Im 19. Jahrhundert wurde die Friedhofszuständigkeit von einer kirchlichen zu einer staatlichen Aufgabe. Sie schreiben in einer Schlussfolgerung «im Bereich der Neugestaltung frei werdender Friedhofsflächen als Orte der Ruhe hätten Kirchen spirituelle Kompetenzen einzubringen.» Finden Sie, die Kirche engagiert sich diesbezüglich zu wenig?
Daniel Klingenberg: Tod und die Trauer sind eigentlich spirituelle Themen, der Umgang damit gehört zur Kernkompetenz der Kirche. Bei der Veränderung der Friedhofsnutzung wäre es daher naheliegend, dieses Wissen einzubringen. Die Politik hat kaum Interesse daran, was man mit der Langsamkeit des Umnutzungsprozesses erklären kann. Das Thema geht quasi vergessen.
Immer häufiger wenden sich Menschen von kirchlichen Bestattungen ab und wollen eine Naturbestattung. Dabei wird die Asche in der freien Natur, etwa an einem persönlichen Kraftort des Verstorbenen oder in Bestattungswäldern verstreut. Was halten Sie davon?
Daniel Klingenberg: Das geht mit einem Verlust einher. Ich empfinde eine öffentliche Trauerfeier als sehr wichtig im ganzen Trauerprozess. Aus der Trauerforschung ist bekannt, dass das gemeinsame Abschiednehmen für Angehörige sehr tröstend sein kann. Durch die individuellen Abschiedsfeiern im privaten Rahmen verschwindet dieses kollektive Ritual. Zudem gibt es keinen öffentlich zugänglichen Gedenkort für die verstorbene Person.
Was denken Sie, wie sehen unsere Friedhöfe in 50 Jahren aus?
Daniel Klingenberg: Ich denke nicht, dass sich so schnell etwas ändern wird. Die Veränderung der Friedhöfe ist ein sehr langsamer Prozess. Es ist wichtig zu wissen, was die Bevölkerung denkt. Dabei ist eine verantwortungsbewusste Planung entscheidend. Weil das Thema mit vielen unterschiedlichen Meinungen, Emotionen und örtlichen Gegebenheiten verknüpft ist, gibt es auch vielfältige Varianten der Umnutzung. Ich vermute, dass man die Grünflächen als Oasen behalten wird. In einzelnen Fällen wird es in urbanen Räumen aufgrund des Siedlungsdruckes Umnutzungen geben.
Daniel Klingenberg ist Pfarrer in der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Mittleres Toggenburg und Publizist.
Der Friedhof hat für Marianne Dietrich aus Gossau eine grosse Bedeutung. Er half ihr, den Verlust ihres Mannes besser zu ertragen. Für die 82-Jährige ist er aber mehr als nur Ort der Trauer und der Erinnerungen. Am Grab lässt sie auch fröhliche Momente zu.
Der Herbst hat Einzug gehalten. Die Blätter an den Bäumen erstrahlen in bunten Farben und die Bise weht steif. Marianne Dietrich schreitet langsam, aber zielgerichtet den breiten Weg entlang. Es ist ein Weg, den sie gut kennt. Sie ist ihn schon unzählige Male gegangen. Marianne Dietrich hat vor fünf Jahren ihren Mann verloren. René Dietrich war 77 Jahre alt, als er einen Hirnschlag erlitt. Es folgten Spitalaufenthalte und Therapien. Zuletzt wohnte René Dietrich im Pflegeheim Vita Tertia in Gossau. Seit seinem Tod besucht Marianne Dietrich das Grab ihres geliebten Mannes regelmässig. «Ich komme gerne hierher», sagt die 82-Jährige. «Es tut mir gut.» Man merkt: Der Friedhofbesuch bedeutet Marianne Dietrich viel. «Hier treffe ich immer Menschen und kann einen Schwatz halten.» Das Wissen, dass es anderen ähnlich gehe, könne in der Trauer helfen. «Plötzlich merkt man, dass man nicht alleine ist.»
Marianne Dietrich (rechts) ist auf dem Friedhof selten alleine. Beim Besuch Ende September begleitet sie Jacqueline Bollhalder vom Trauercafé.
Den richtigen Platz gefunden
Marianne Dietrich grüsst Bekannte hier und winkt Freunden dort. Immer wieder bleibt sie kurz stehen und schaut auf Grabsteine. Und immer wieder sieht sie darauf ihr bekannte Namen. Mit fortschreitendem Alter werden es immer mehr. Ein Umstand, den Marianne Dietrich akzeptieren muss. Ihr Ehemann hat seine letzte Ruhestätte im Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof Hofegg in Gossau gefunden. Auf dem grossen, achtteiligen Monument sind auf goldig-schimmernden Plaketten die Namen der Verstorbenen vermerkt. Marianne Dietrich läuft um den Grabstein herum. An der Rückseite – ganz oben – steht der Name ihres verstorbenen Mannes. Sie tritt an den Stein heran und schaut hoch. Der Grabstein liegt an diesem Nachmittag halb im Schatten. «Hier hat er den richtigen Platz gefunden. Er mochte Schatten sehr gerne. Ich mag lieber Sonnenschein», sagt Marianne Dietrich mit einem Lächeln im Gesicht. Die Erinnerungen an ihren Mann sind allgegenwärtig. Und auch wenn man ihr die Trauer bei jedem Wort ansieht, kann sie mittlerweile wieder fröhliche Momente zulassen. «An einem Grab darf man auch lachen», sagt sie.
Marianne Dietrich ist sehr wichtig, dass der Name ihres verstorbenen Mannes irgendwo vermerkt ist.
Marianne Dietrich erinnert sich gerne an die 54 gemeinsamen Jahre zurück. «Wir hatten es gut miteinander und ein so schönes Leben.» Dass sie noch den goldenen Hochzeitstag feiern konnten, bedeutet ihr sehr viel. Sie spricht über die Kinder, über die Hobbys ihres Mannes, über gemeinsame Ausflüge – und der Ort, an dem Marianne Dietrich noch kurz zuvor fröhlich war, wird plötzlich zum Ort, an dem Tränen ihre Wangen herunterkullern. Der Abschied wiegt noch immer schwer. «Ich vermisse ihn jeden Tag.»
Trauercafé als Fixpunkt
Auf dem Friedhofsbesuch wird Marianne Dietrich oft von zwei Freundinnen begleitet. Wenn Tochter Karin zu Besuch ist, gehört auch für sie der Gang ans Grab des Vaters zur Pflicht. An diesem sonnigen Tag Ende September ist Marianne Dietrich mit Jacqueline Bollhalder, katholische Seelsorgerin in Gossau und Leiterin des ökumenischen Trauercafés, auf dem Friedhof. Die beiden kennen sich gut. Seit dem Tod des Mannes ist das monatliche Treffen ein Fixpunkt in Dietrichs Agenda. Einmal wöchentlich nimmt sie am Mittagessen im Friedegg teil und einmal im Monat besucht sie den Seniorennachmittag der Pfarrei. «Das tut mir gut», sagt Marianne Dietrich. «Ich kann hier mit Mitmenschen sprechen. Wir alle haben das Gleiche erlebt. Und es sind alles liebe Menschen.»
Nach dem Tod ihres Mannes half das Trauercafé der katholischen und reformierten Kirche Marianne Dietrich aus dem Tief. Noch heute ist das monatliche Treffen mit anderen Betroffenen und Seelsorgerin Jacqueline Bollhalder für sie ein Fixpunkt.
Auch Jacqueline Bollhalder schätzt Marianne Dietrich. «Sie sorgt sich sehr um die anderen im Trauercafé, spielt Fahrerin und ist ein Sonnenschein», so Bollhalder. Die beiden Frauen verbindet mittlerweile mehr als nur eine Zweckgemeinschaft. Man interessiert sich füreinander und sorgt sich umeinander. Jacqueline Bollhalder weiss aus Erfahrung, wie wichtig für Betroffene der Friedhof als Ort der Trauer und Erinnerung ist. «Viele Betroffene besuchen die Gräber nach einem Verlust jeden Tag. Das gibt ihnen eine Struktur», sagt Bollhalder. «Auf dem Friedhof muss man mit niemandem reden und weiss gleichzeitig, dass alle dort das Gleiche erlebt haben. Das Wissen, dass andere diese Situation auch durchmachen, hilft vielen. Zudem wollen sie die Erinnerung an diese Personen erhalten.»
Begegnungen wichtig
Am Grab setzt sich Marianne Dietrich gerne auf die bereitgestellten Stühle. Oft spricht sie zu ihrem Mann, erzählt ihm, was sie erlebt hat oder was sie beschäftigt. Schlimm seien am Anfang vor allem die Wochenenden gewesen. Dann, wenn nicht viel läuft und sie Zeit hatte, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. «Ich hatte sehr viele Krisen», sagt Dietrich. «Gerade die Monate nach dem Tod waren der Friedhof und die Begegnungen dort für mich sehr wichtig.» Der Verlust eines geliebten Menschen lasse einen in ein Loch fallen. «Nichts ist mehr, wie es war.» Sie habe sich anstrengen müssen, wieder am Leben teilzunehmen, nach draussen zu gehen, nicht zu vereinsamen.
Marianne Dietrich setzt sich gerne an das Grab ihres verstorbenen Mannes und spricht mit ihm.
Der Friedhof und die Gespräche dort halfen ihr dabei. Irgendwann begann sie wieder mehr, unter die Leute zu gehen. «Ich wollte nicht versauern.» Marianne Dietrich ist dankbar, dass sie noch so rüstig ist, ein gutes Umfeld und viele nette Freundinnen und Freunde hat. Aber es gibt auch immer wieder schwierige Zeiten. Etwa, als sie sich vor zwei Monaten operieren lassen musste. «In solchen Zeiten vermisse ich meinen Mann noch mehr.»
Räumung war «schrecklich»
Gerne würde sie beim Grab öfter das bereitgestellte Weihwasser nutzen und die Plakette damit bepinseln – «damit er auch merkt, dass ich da war.» Die Plakette hängt allerdings zu hoch. Marianne Dietrich kann sie nicht erreichen. Heute übernimmt das ihre Begleiterin Jacqueline Bollhalder. «Ich bepinsle dann halt stattdessen manchmal Plaketten von Freunden», sagt Dietrich. Früher habe sie jeweils noch eine Kerze ans Grab mitgenommen. «Aber das habe ich aufgegeben. Wegen des Windes erlöschen die immer wieder.»
Mit dem Weihwasser bepinselt Marianne Dietrich oft Plaketten von verstorbenen Freunden oder Bekannten.
Dann wird Marianne Dietrichs Stimme leiser. Sie wirkt nachdenklich. Man habe sie einmal gefragt, ob sie an die Auferstehung glaube. «Ich bin sicher, dass er es schön hat im Himmel», sagt sie. Marianne Dietrich musste bereits einmal einen schweren Schicksalsschlag verkraften. 1990 verstarb ihr Sohn im Alter von 22 Jahren. Seine Ruhestätte fand er ebenfalls auf dem Friedhof Hofegg. Auch damals waren die Friedhofbesuche ein Trost für Marianne Dietrich und sie kann sich noch gut an den Tag erinnern, als das Grab nach 25 Jahren geräumt wurde. «Das war schrecklich für mich.»
Grabpflege ausschlaggebend
Die Entscheidung für das Gemeinschaftsgrab hat Marianne Dietrich mit ihrem Mann gefällt. Ein Einzelgrab kam für sie nicht in Frage. «Wer sollte denn für das Grab schauen, wenn auch ich nicht mehr da bin?», fragt sie rhetorisch. Die Tochter wohne leider zu weit weg. So müsse sich niemand um das Grab kümmern und die Ruhestätte sehe immer schön aus. «Wichtig ist für mich einfach, dass sein Name dasteht und ich einen Ort habe, an den ich kommen kann, um ihm nahe zu sein.»
Blumen beim Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof Hofegg in Gossau.
Auch sie selbst wird dereinst im Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof Hofegg beerdigt werden. Sie schaut abermals hoch zur Plakette ihres Mannes. Links und rechts daneben sind viele weitere Namen vermerkt. Jacqueline Bollhalder spricht den Umstand an, dass heute einige Menschen die Asche verstreuen. Sie selbst sehe das eher schwierig, aber man dürfe nicht urteilen. «Die Trauerarbeit ist so individuell und persönlich. Jeder muss das selbst für sich wissen.»
Erinnerungen bleiben
Die Besuche von Marianne Dietrich auf dem Friedhof wurden im Laufe der Jahre weniger. Früher war sie noch täglich am Grab ihres Mannes. Heute geht sie einmal wöchentlich. Die Erinnerungen an ihre Liebsten und die Trauer sind geblieben. Zuhause hat Marianne Dietrich einen kleinen Altar errichtet. Darauf eine Schüssel mit frischen Blumen und die Namen des Sohnes und des Ehemanns auf handgeschriebenen Zetteln. Jeden Abend zündet Marianne Dietrich im Gedenken an sie eine Kerze an.
Mit dem Pfarreigremium Niederglatt hat der 38-jährige Daniel Inauen den «Engelzauber» initiiert – eine Schnitzeljagd in und um das Dorf. An wen sie sich richtet und warum sich der Finanzcontroller in der Kirche engagiert.
«Jeder kann ein Engel sein, ein Schutzengel zum Beispiel», sagt Daniel Inauen. Der 38-Jährige steht in der Kirche Niederglatt, ein für die Grösse des Dorfes – es zählt rund 300 Einwohnerinnen und Einwohner – stattlicher Bau. Die Frage nach dem typischen Aussehen eines Himmelsboten lässt ihn ein wenig grübeln – und schliesslich ratlos zurück. Stattdessen zeigt Inauen an die Decke. Auf einem bunten Gemälde sind zwei Engelfiguren abgebildet. «Sie sind überall, man muss nur mit offenen Augen umhergehen und bewusst darauf achten.» Inauen lädt uns ein, auf die Empore zu gehen, «dorthin, wo sonst selten jemand hingeht», und das Bild aus der Nähe zu betrachten. Und schon sind wir Teil des «Engelzaubers», einer interaktiven Schnitzeljagd in und um das Dörfchen Niederglatt.
Wohnort neu kennenlernen
An über zehn Stationen erfahren die Schnitzeljägerinnen und ‑jäger Wissenswertes über Engel und müssen an einigen Posten Aufgaben lösen, um die weitere Route zu erfahren. Die Schnitzeljagd richtet sich an alle Altersgruppen. «Die Fragen sind leicht zu beantworten und der Weg nicht allzu lang», so Inauen. «Der Weg soll vor allem auch Junge und Familien ansprechen.» Einzige Bedingung zur Teilnahme ist ein Handy mit ausreichend Akku und Internetverbindung. Den QR-Code an der Kirchentüre gescannt und schon geht’s los. «Der Weg ist nicht zu kirchlich geprägt und nicht belehrend», sagt Inauen und fügt hinzu: «Durch die Vorbereitungen auf das Projekt habe ich die Umgebung meines Wohnortes nochmals ganz neu kennengelernt. Bestenfalls geht es anderen Niederglättlern auch so.» Die Posten stehen etwa bei der ehemaligen Schule, beim Friedhof, bei einer Grotte, am Ufer der Glatt. «Es ist erstaunlich und interessant, wo Engel überall präsent sind.»
Der «Engelzauber» führt an der ehemaligen Schule in Niederglatt vorbei.
Aus Mangel an Angeboten
Den Anstoss für die Schnitzeljagd, die in diesem Jahr zum ersten Mal stattfindet, gab das fünfköpfige Pfarreigremium von Niederglatt. Die Pfarrei Niederglatt wiederum ist seit vier Jahren Teil der Seelsorgeeinheit Magdenau. Dort wurde im vergangenen Jahr eine Schnitzeljagd organisiert. Die Idee ist also nicht neu. Wie Inauen erklärt, ist der «Engelzauber» als Teil der Chilbi in Niederglatt geplant worden. «Die Chilbi ist neben dem Suppentag und einigen wenigen Anlässen in der Weihnachtszeit meist der einzige Event im Dorf. Ansonsten läuft hier nicht viel», erklärt Inauen. Der «Engelzauber» sollte auch den jungen Generationen etwas bieten. Der Weg ist noch bis 15. November begehbar. Ob das Projekt im kommenden Jahr fortgesetzt werde, sei noch offen. «Leider haben während der Chilbi nicht so viele mitgemacht wie erhofft.»
Mitwirkung durch Kirche
Daniel Inauen engagiert sich seit vier Jahren im Pfarreigremium. Daneben arbeitet der zweifache Familienvater in der Finanzkontrolle der Stadt St. Gallen. Über seine Motivation für das freiwillige Engagement sagt der gebürtige Innerrhödler: «Ich wollte mitwirken und mich integrieren.» Da Niederglatt kein vielfältiges Vereinsleben oder ein aktives Dorfleben habe, sei die Kirche für ihn eine gute Möglichkeit gewesen, in der Gemeinschaft mitzuwirken. «Zudem bin ich in Appenzell katholisch aufgewachsen und die Verbundenheit zur Kirche war bereits da. Aber fromm war ich nie.» Inauen spricht auch den Stellenwert der Kirche für die Gemeinschaft an. «Niederglatt ist sehr verstreut, die Einwohner wohnen oft weit voneinander entfernt, und seit die Schule nicht mehr da ist, ist die Kirche noch sinnstiftender und verbindender.»
Text: Alessia Pagani Bild: Ana Kontoulis Veröffentlichung: 20. Oktober 2023
Über 2500 Personen aus dem ganzen Bistum St.Gallen haben bereits die Erklärung “So nicht!» der Katholischen Kirche in der Stadt St.Gallen unterzeichnet. Angesichts der Missbrauchsfälle fordert die Bewegung einen Kultur- und Strukturwandel in der Kirche.
2514 Personen haben auf reformenjetzt.ch die Aktion «So nicht» unterzeichnet (Stand Redaktionsschluss 13. Oktober). Darunter Menschen aus urbanen Pfarreien wie Rapperswil oder Wil, aber auch aus ländlichen Regionen wie dem Walensee oder Sarganserland. «In der Erklärung nennen wir mehrere Punkte, die zu einem Kulturwandel in der Katholischen Kirche führen sollen», sagt Ann-Katrin Gässlein, eine der Initiatinnen. “Wir stellen die Machtfrage, die Sexualmoral, das Priesterbild, die Rolle der Frau und die Ausbildungs- und Personalpolitik in Frage, weil wir wissen, dass Kirche auch anders sein kann.» Ann-Katrin Gässlein ist katholische Theologin und Religionswissenschaftlerin. Sie arbeitet für das Ressort «Kultur und Bildung» der Katholischen Kirche im Lebensraum St. Gallen. Anfangs richtete sich die Bewegung an Gläubige, freiwillig Engagierte und kirchliche Mitarbeitende in der Stadt St. Gallen. Das Echo war gross, deshalb wurde sie für Menschen im ganzen Bistum geöffnet.
Nicht gegen Kirchenrecht
Eines fällt beim Blick in die Reformvorstösse gleich auf: Ganz heisse Eisen wie das Pflichtzölibat oder die Zulassung der Frauen zum Priesteramt kommen nicht vor. «Das Pflichtzölibat wird oft als erstes genannt”, räumt Ann-Katrin Gässlein ein, “diese Entscheidung liegt jedoch beim Papst. Unabhängig davon, ob solche Anliegen berechtigt sind, man kann es sich damit auch einfach machen: Man delegiert es an “die da oben”. Wir setzen auf einen anderen Stil: Wir werden als Basis aktiv.” Sie persönlich sei skeptisch, ob die Abschaffung des Pflichtzölibats das dringendste Anliegen sei. “Viel drängender sind Themen wie die Gleichstellung von Mann und Frau, Transparenz und Mitsprachemöglichkeiten der Gläubigen, unserer katholischen Basis.”
Teil der Lösung sein
Die St. Galler Reformaktion ist nicht der erste Versuch: Initiativen wie «Kirche mit* den Frauen», das schweizweite “Gebet am Donnerstag” für die Gleichstellung, die deutsche Aktion “Maria 2.0”, die auch in der Schweiz Sympathisant*innen mobilisierte, oder die “Allianz gleichwürdig katholisch” haben schon vor Jahren versucht, Bischöfe und den Papst zum Umdenken zu bringen. Konkretes ist wenig passiert. Ist bei «So nicht!» der Frust nicht vorprogrammiert? “Diese Initiativen waren und sind wichtig”, so Ann-Katrin Gässlein, “Unsere Reformvorstösse fokussieren auf Anliegen, die nach aktuellen kirchenrechtlichen Vorgaben auch realistisch sind. Um sie umzusetzen, braucht es nur Mut vonseiten der Bischöfe und der verantwortlichen Gremien – sowie den Druck von der Basis, weder ein neues Konzil noch einen neuen Papst.» Ann-Katrin Gässlein hält fest: “Wir wollen nicht gegen den Bischof agieren. Wir überlegen uns schon im Vorfeld, was im Bistum konkret umsetzbar ist. Wir wollen Teil der Lösung sein.” Darüber hinaus pocht sie auf die Verantwortung der Leitungsebene: „Wir erwarten, dass unsere Schweizer Bischöfe in Rom Spielraum für die Gestaltung neuer Strukturen in der Ortskirche hartnäckig einfordern.“
Feier in der Kathedrale
Anfang Oktober wurden die ersten Vorstösse bei Bischof Markus Büchel, aber auch anderen Verantwortungsträgern wie dem Domdekan oder dem Katholischen Administrationsrat eingereicht. “Wir machen das öffentlich und erwarten auch eine öffentliche Antwort”, sagt Ann-Katrin Gässlein. Unabhängig davon seien in den nächsten Monaten verschiedene Aktionen geplant. Und die Bewegung ist spirituell verankert: Am Sonntag, 10. Dezember 2023, um 16 Uhr findet eine Feier in der Kathedrale St. Gallen statt. Geleitet wird sie von den beiden Theologinnen Hildegard Aepli und Stefania Fenner sowie Dompfarrer Beat Grögli. Im Reformprozess geht es laut den Verantwortlichen auch darum, zusammen zu stehen, sich zu stärken und zu verbinden. Alle Mitfeiernden sind eingeladen, eine Kerze mitzubringen. Aktuell werden laut Ann-Katrin Gässlein bereits weitere Reformvorstösse ausgearbeitet – unter anderem zum Thema Privatleben: “Das Bistum soll künftig die partnerschaftlichen Beziehungen der Gläubigen und der Seelsorgenden respektieren. Konkret: Bei den Gesprächen und Formularen, mit denen Seelsorgende bei der Berufseinführung im Bistum St.Gallen konfrontiert werden, sollen die partnerschafltichen Beziehung kein Kriterium für die Zulassung mehr sein.” So schnell wird es also nicht ruhig um die St.Galler Bewegung “So nicht!”.
Text: Stephan Sigg
Bild: zVg.
Veröffentlicht: 13. Oktober 2023
Zeitungsinserat, Trauerfeier und Online-Petition
Der Missbrauchsskandal und das Verhalten der St.Galler Bischöfe Markus Büchel und Ivo Fürer hat Betroffenheit und Wut ausgelöst. Die Katholische Kirche St. Gallen setzte neben der Online-Petition «So nicht!» auch mit einer Trauerfeier und einem Zeitungsinserat ein Zeichen: Rund 500 Gläubige trafen sich am 18. September zu einer Art Trauerfeier in der Kathedrale St. Gallen und teilten Enttäuschung und Wut, aber auch Hoffnung. Im St. Galler Tagblatt forderten kirchliche Mitarbeitende in einem ganzseitigen Inserat einen Strukturwandel – das Inserat wurde darauf auf Facebook und Instagram in der ganzen Deutschschweiz geteilt. Einige Pfarreien aus dem Bistum St. Gallen veröffentlichten das Plakat in ihren Social-Media-Kanälen und auf ihren Websites.
Viele kennen die Situation nur allzu gut: Man läuft durch die Stadt und trifft auf Menschen, die einen nach Geld fragen. Etwas geben oder nicht? Die Entscheidung ist nicht einfach – und hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Ich persönlich gebe meistens den Bettelnden etwas: Manchmal Geld, aber nicht immer.
Gute Erfahrung habe ich gemacht, indem ich Menschen auch Essen kaufe, nach dem sie verlangen. Dies bot ich zum Beispiel einem jungen Mann am Bahnhof an, der mich nach Geld fragte. Er nahm das Angebot dankend an und es machte mir auch Freude, ihm etwas zu schenken, von dem ich wusste, dass es ihm wirklich dient. Ich denke, das ist meistens das Problem bei Bettel-Anfragen: Man ist sich nicht sicher, wofür die bettelnden Menschen das verlangte Geld ausgeben. Man möchte sicher sein, dass es wirklich für die Befriedigung von Grundbedürfnissen ausgegeben und nicht einfach als Taschengeld benutzt wird. Einem bettelnden Menschen Naturalien oder einen konkreten Einkauf anzubieten, erachte ich als einen guten Kompromiss.
Das Erlebnis mit dem jungen Mann am Bahnhof hat in mir ein paar Überlegungen ausgelöst: Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn man grosse Bedenken hat, jemandem Geld zu geben, damit er sich etwas kaufen kann? Wir sind gegenüber Menschen, die betteln, kritisch eingestellt. Oft vertrauen wir ihnen nicht und haben ihnen gegenüber viele Vorurteile. Das ist ganz normal und menschlich. Aber wieso soll man nicht gerade die Vorurteile überwinden und etwas geben? Gerade uns Christen kann in diesem Zusammenhang das Gebot der Goldenen Regel ein Leitgedanke sein: Alles nun, was Ihr wollt, dass Euch die Menschen tun, das tut auch Ihr ihnen ebenso (Matthäus 7,12).
Das Gebot fordert uns auf und lehrt uns, jemanden so zu behandeln, wie wir selbst gerne behandelt werden wollen. In solchen Situationen sollten wir uns immer wieder fragen: Wie sollen die Menschen uns behandeln, wenn wir in Not sind? Wenn wir selber im Alltag in irgendeiner Weise Hilfe benötigen, sind wir ebenfalls froh, wenn uns geholfen wird, ohne gross zu fragen oder von uns etwas zu verlangen. Bei manchen sind sie offensichtlicher (wie zum Beispiel bei bettelnden Menschen) und bei manchen verborgener. Warum also sollten wir nicht auch helfen, wenn andere in Not sind?
Und Hand aufs Herz: Die meisten von uns haben genug Geld, dass ein oder zwei Franken wirklich entbehrlich sind und man diese den bettelnden Menschen gut geben kann. Letztlich bleibt es aber natürlich die freie Entscheidung jeder einzelnen Person, wie er oder sie in solchen Momenten reagiert.
Eine neue Studie untersucht den Zusammenhang zwischen Religiosität und Engagement und kommt zum Schluss, dass religiös praktizierende Menschen stärker freiwillig tätig sind.
«Freiwillige gesucht», «Haben Sie Zeit und wollen sich einbringen?», «Wollen Sie sich ehrenamtlich engagieren?» Wer im Internet über Organisationen oder Vereine recherchiert, stösst oft auf solche Aussagen. Nicht zuletzt die Organisatoren von kirchlichen Veranstaltungen, wie etwa den Rorate-Frühstücken (im Bild: Altstätten), sind auf die Hilfe von Freiwilligen angewiesen. Die Bereitschaft ist in der Bevölkerung vorhanden. Doch wer ist eigentlich bereit, sich für die Gemeinschaft zu engagieren? Dieser Frage geht der Luzerner Religionssoziologe Anastas Odermatt in einer Studie nach. Unter dem Titel «Religion und Sozialkapital in der Schweiz. Zum eigenwilligen Zusammenhang zwischen Religiosität, Engagement und Vertrauen» untersucht der gebürtige St. Galler unter anderem, inwieweit das soziale Engagement von der Religiosität beeinflusst wird. Odermatt kommt zum Schluss: Religiosität und freiwilliges Engagement sind positiv korreliert. Vor allem die religiöse Praxis, insbesondere der Gottesdienstbesuch, verstärkt das freiwillige Engagement. Zudem zeigt die Studie, dass religiös praktizierende Menschen sowohl im religiösen als auch im säkularen Bereich stärker freiwillig tätig sind.
Teil einer Gruppe sein
Doch ist es wirklich so einfach? Engagieren sich gläubige Menschen mehr? «Ja», sagt Jürg Wüst, Pfarreibeauftragter aus Gommiswald, auf Nachfrage. «Die Bereitschaft für freiwilliges Engagement ist in den Pfarreien grundsätzlich gross. Das spüren wir schon.» Kirchgänger oder Menschen, die sich in Pfarreien engagieren, suchten die Interaktion mit der Gemeinschaft. «Sie suchen den Kontakt und wollen Teil einer Gruppe sein, in die sie sich einbringen können», so Wüst. Nach den Gottesdiensten biete sich dafür eine gute Gelegenheit. Ähnliche Erfahrungen hat Susanne Baumgartner von der ökumenischen Gemeinde St. Gallen-Halden gemacht. Im Nähcafé stellen freiwillige Helferinnen Interessierten ihre Zeit zur Verfügung. «Tendenziell engagieren sich bei uns mehr die Menschen mit religiösem Hintergrund freiwillig. Das hat auch mit der Kernaussage des Christentums zu tun, dass wir unsere Mitmenschen lieben sollen wie uns selbst», sagt Baumgartner. Das Wir-Gefühl sei davon unabhängig, auch durch den ökumenischen Gedanken, in den vergangenen Jahrzehnten in der Pfarrei stark gewachsen. «Bei uns im Quartier herrscht ein grosses Gemeinschaftsgefühl. Die Bereitschaft zur Unterstützung ist extrem gross. Unabhängig davon, ob die Menschen gläubig sind oder nicht.» Auf die Mithilfe von Freiwilligen ist auch Niklaus Fürer angewiesen. Fürer organisiert in der Pfarrei Abtwil-St. Josefen die Seniorentreffs mit Kaffeestube. Diese wird von Freiwilligen betreut. «Es sind alles religiös-engagierte Frauen. Auf ihre Unterstützung kann ich immer zählen», sagt Fürer. Er selber organisiert ehrenamtlich das Programm des Seniorentreffs, unter anderem Vorträge, Ausflüge und andere Zusammenkünfte. «Für mich ist es eine Befriedigung, wenn ich älteren Menschen interessante Themen und ein gemütliches Beisammensein anbieten kann.»
Bereitschaft gross
Benevol, die Fachstelle für freiwilliges Engagement, registriert laut Projektmanager Ueli Rickenbach pro Monat rund 100 neue Freiwillige auf benevol-jobs.ch. «Die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, ist nach wie vor gross», sagt Rickenbach. Entscheidend seien dabei die Stossrichtungen der einzelnen Gruppierungen, welche Anreize diese setzten und wie die Zusammenarbeit funktioniere. «Die Verbundenheit mit einer Organisation, das Teilen derselben Werte und das gemeinsame Bewegen sind Förderfaktoren. Diese sind sicherlich auch in der Kirche anzutreffen», sagt Rickenbach und ergänzt: «Beliebt sind Aufgaben, die zeitlich flexibel sind. ‹Lebenslange› Jobs sind weniger gefragt.» Entsprechend würden die Organisationen heute auch mehr auf Projektbasis arbeiten. Auch Jürg Wüst sagt: «Für Einzeleinsätze finden wir schneller Freiwillige. Bei längeren Einsätzen oder Dauereinsätzen ist es schwieriger. Anscheinend wollen sich die Leute heute nicht mehr allzu lang binden.»
David Rüttimann steht vor einem grossen Abenteuer. Während dreier Jahre wird der St. Galler mit seiner Familie in Kenia leben und bei der Ausbildung von Fachkräften helfen.
Ende August 2023: David Rüttimann sitzt in seiner Werkstatt im Keller, den Lötkolben in der Hand. Es ist einer der wenigen Räume im Haus, die noch voll eingerichtet sind. Die Zimmer haben sich in den vergangenen Wochen nach und nach geleert. Der Hausrat wurde eingelagert. «Wir lassen alles auf uns zukommen und nehmen eines nach dem anderen», sagt Rüttimann und strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, die erstaunt. Denn: Sein Leben wird sich bald grundlegend ändern. David Rüttimann wird für die kommenden drei Jahre in Kenia leben und vor Ort sein Wissen als Elektrotechniker weitergeben. «An der Basis. Dort, wo es auch wirklich gebraucht wird», sagt er. Als Entwicklungshelfer für das Schweizer Hilfswerk Comundo – entstanden aus der Bethlehem Mission Immensee – wird der 54-Jährige am North Coast Medical Training College Lehrkräfte in Facility Management und Medizinaltechnik ausbilden und unter anderem den Aufbau von Werkstätten begleiten. Der Grund: In Kenia fehlen Fachkräfte für die Wartung und Reparatur von medizinischen Geräten. «Die Gesundheitseinrichtungen sind zwar gut ausgerüstet, aber die Handhabung und Reparatur der Apparaturen stellt die Mitarbeitenden immer wieder vor Probleme», sagt Rüttimann. «Nicht nur, dass die Apparate dann nicht mehr zur Verfügung stehen, auch entstehen so Unmengen an Abfall.»
Leben mit den Einheimischen
Auf seinem Einsatz wird David Rüttimann von seiner Ehefrau und den beiden Kindern Anna, 15 Jahre, und Bram, 13 Jahre, begleitet. Physiotherapeutin Willemijn Rüttimann wird zu 50 Prozent am College bei der medizinischen Ausbildung mitwirken. Die Reise führt die Familie ins circa 80 Kilometer nördlich der Millionenstadt Mombasa gelegene Kilifi – eine Stadt am Indischen Ozean mit rund 31000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Der künftige Wohnort wurde bei einem Besuch im Februar sorgfältig ausgewählt, befindet sich unweit des künftigen Arbeitsplatzes und nahe einer internationalen Schule. «Wir wollten mit unseren Kindern nicht in die Grossstadt und auch nicht in einem Quartier wohnen, wo nur Ausländer oder Menschen mit weisser Hautfarbe leben.» Die Familie freut sich auf den Kontakt mit den «Locals». David Rüttimann lernt seit einem halben Jahr die Landessprache Swahili. «Die Sprache ist immer auch ein Türöffner.» Und für Rüttimann noch wichtiger: «Die Menschen in der Landessprache anzusprechen, hat für mich viel mit Respekt zu tun.»
Extreme Höhen und Tiefen
Zwei Koffer darf jedes Familienmitglied auf die Reise ins neue Leben mitnehmen. David Rüttimann hat zusätzlich noch Geräte und Werkzeuge aus der Schweiz im Gepäck. «Es gibt zwar alles in Kenia. Die Qualität ist allerdings nicht mit jener bei uns vergleichbar.» David Rüttimann und seine Frau wissen, dass der Umzug für die Kinder im Teenageralter nicht einfach ist. Sie sprechen die unterschiedliche Kultur an, die unbekannte Sprache, das ungewohnte Essen, die fehlenden Freunde. Diese Erfahrungen hat die Familie bereits einmal gemacht. Von 2014 bis 2016 waren die Rüttimanns in Simbabwe im Einsatz. «Wir wissen, dass es nicht immer einfach werden wird. Die Intensität der Gefühle wird sehr viel grösser sein. Es wird unheimlich viele Höhen und ebenso viele Tiefen geben.» Aber die vielen Erfahrungen würden alles wettmachen: „Es ist keine Einbahnstrasse. Wir werden viel aus dieser Zeit mitnehmen und von den Menschen dort lernen. Wir sehen es als Privileg, so tief in eine andere Kultur einzutauchen.»
Mittlerweile wurden auch die letzten an den Wänden verbliebenen Bilder im Einfamilienhaus in St. Gallen abgehängt. Am 11. September hiess es für die Rüttimanns: ab ins Flugzeug und hinein ins neue Leben.
Infos: www.comundo.org/kenia
Text: Alessia Pagani Bild: Ana Kontoulis Veröffentlichung: 28. September 2023
Lichtensteig hat den Wakkerpreis 2023 des Schweizer Heimatschutzes erhalten. Was ist so besonders am Städtchen im Toggenburg? Auf Spurensuche vor Ort.
Es ist ein wunderschöner Sommertag Ende August. Die Sonnenstrahlen wärmen die Haut schon in den frühen Morgenstunden. Im Städtchen Lichtensteig am Fusse der Wasserfluh hat der Tag längst begonnen. Passantinnen und Passanten queren auf leisen Sohlen die Strasse, Ladenbesitzer wischen ihre Vorplätze, auf den Balkonen der Wohnhäuser werden die Pflanzen gegossen. Über den verwinkelten Gässlein der Altstadt liegt an diesem Morgen eine idyllische Ruhe. Einzig ein Auto durchbricht dann und wann die Stille. Reger Betrieb herrscht derweil bereits im Café Huber am Ortseingang. Die Plätze auf der Terrasse sind restlos belegt, die Angestellten haben alle Hände voll zu tun. Das Städtli – wie Lichtensteig liebevoll genannt wird – ist ein beliebtes Ausflugsziel. Und es war in den vergangenen Wochen vermehrt im Gespräch. Denn: Lichtensteig hat den Wakkerpreis 2023 erhalten. Der Heimatschutz Schweiz hat das Städtchen für seinen «Mut zur innovativen Belebung von leerstehenden Räumen» geehrt. Dadurch habe es zu einem «neu belebten Selbstbewusstsein» gefunden. Besonders gewürdigt werden dabei der Einbezug der Bevölkerung sowie die vielfältigen Umnutzungen von historischen Gebäuden.
Verwaltung macht Kultur Platz
Bei einem Spaziergang durch die Altstadt – im Inventar schützenswerter Ortsbilder der Schweiz enthalten – fallen den Besucherinnen und Besuchern diese schönen und meist liebevoll sanierten Altbauten direkt ins Auge. Arkaden und Bogengänge lassen einen in längst vergessene Zeiten eintauchen. Viele kleine Handwerkerbetriebe und Verkaufslädeli bieten ihre Waren und Dienstleistungen an. Das Angebot ist gross und vielfältig. Auch die Regionalität fehlt nicht. Darauf, so scheint es, wird ein grosses Augenmerk gelegt. Der Schweizer Heimatschutz nennt als positives Beispiel für die Stadtentwicklung die UBS-Filiale und das Rathaus. Das Rathaus aus dem 17. Jahrhundert diente dereinst der Stadt als Sitz der Verwaltung. Um allen Menschen den Zugang zu ermöglichen, wurde vor einigen Jahren ein Lifteinbau evaluiert. Aufgrund der Kosten und des starken Eingriffs in die historische Substanz entschied sich die Stadt allerdings dafür, nicht in die Renovation, sondern in den Erwerb des benachbarten UBS-Gebäudes zu investieren. 2018/2019 bezog die Stadtverwaltung die neuen Räume, das bisherige Rathaus wurde zum «Rathaus für Kultur». Dieses bietet seither Platz für Kreativwirtschaft und beherbergt verschiedene Ausstellungen. Als weiteres Beispiel hebt der Heimatschutz die Umnutzung des ehemaligen Postgebäudes hervor. Nach dem Auszug der Post 2016 wurde aus dem stattlichen Gebäude das Macherzentrum Toggenburg. In den Räumen werden heute Coworking-Plätze angeboten. Ein Angebot, das den heutigen Arbeitsanforderungen entspricht.
Die Verwaltung hat neue Räume im ehemaligen Bankgebäude bezogen, das Rathaus wurde zum «Rathaus für Kultur».
Neue Menschen anziehen
Mit seiner aktiven Politik nutze Lichtensteig die Möglichkeit, auf die bauliche Entwicklung Einfluss zu nehmen und die Nutzung in eine zukunftsfähige Richtung zu lenken, so der Heimatschutz. Es gelinge, neue Menschen anzuziehen, Eingesessene zu halten, Kultur zu ermöglichen und so den Charakter eines urbanen Zentrums auf dem Land wieder zu stärken. Mit der Strategie «Mini.Stadt 2025» stützt sich Lichtensteig gemäss eigener Aussage für seine zukünftige Entwicklung auf ihre vorhandenen Potenziale. Augenmerk wird dabei auf die «einmalige Architektur, das kulturelle Angebot, das Unternehmertum sowie auf die mutigen und innovativen Bürgerinnen und Bürger» gelegt. Und diese lassen sich immer wieder etwas einfallen. Etwa einen Pop-up-Manufakturladen mit verschiedensten Produkten von Schweizer Herstellerinnen und Herstellern und regionalen Produzenten.
Preis als Wertschätzung
Die Stadt Lichtensteig geht selbstbewusst mit dem Wakkerpreis um. Auf der Website wird in grossen Lettern und an prominenter Stelle darauf verwiesen. Und das Bewusstsein ist auch in der Bevölkerung vorhanden. «Natürlich wissen wir Lichtensteigerinnen und Lichtensteiger, dass wir den Wakkerpreis erhalten haben. Es freut uns sehr», sagt eine Passantin. Die Ehrung des Heimatschutzes sei eine Wertschätzung für sie und mache sich auch an den Besucherzahlen bemerkbar. «Wir hatten schon immer viele auswärtige Besucherinnen und Besucher. In diesem Jahr aber noch mehr. Das spüren wir schon. Aber wir Lichtensteigerinnen und Lichtensteiger waren schon immer sehr innovativ» ruft die Frau noch zu, bevor sie in einem Hauseingang verschwindet.
Text: Alessia Pagani Bilder: Ana Kontoulis Veröffentlichung: 25. September 2023
Pfarrblatt im Bistum St.Gallen Webergasse 9 9000 St.Gallen