«Natürlichkeit und Einfachheit ist die Hauptsache.» So fasste Sebastian Kneipp seine Naturheillehre zusammen. Der sogenannte Wasserpfarrer kam vor 200 Jahren am 17. Mai in Oberschwaben zur Welt und gilt als Vorreiter des ganzheitlichen Naturheilverfahrens. Pfarreiforum-Redaktorin Rosalie Manser hat unter fachkundiger Anleitung die Kneipp-Philosophie in einem Selbstversuch getestet.
Wenn ich Kneipp höre, denke ich an Menschen, die durch eiskaltes Bachwasser waten und an meinen Vater, der seit Jahrzehnten auf frühmorgendliche Wechselduschen schwört. Kneipp = Wasser – eine Gleichung, die wohl die meisten von uns machen. Dass Wassertherapie nur eine der insgesamt fünf Säulen ist, auf denen die Methoden des deutschen Seelsorgers beruhen, zeigen mir Rosmarie Schoch und Elisabeth Scheiwiller. Die beiden Gesundheitsberaterinnen engagieren sich im Vorstand des St.Galler Kneippvereins, der mit 125 Jahren nicht nur die älteste, sondern auch mit über 330 Mitgliedern die grösste Schweizer Kneipporganisation ist. Eigentlich wollte ich mich oberhalb von St.Gallen bei den Drei Weieren von den beiden Spezialistinnen in die Lehren von Sebastian Kneipp einweihen lassen. Aber weil dort gerade die Kneipp-Anlage saniert wird und das Wetter sich am Interviewtermin noch nicht von seiner frühlingshaften Seite zeigen will, verwandelt Rosmarie Schoch kurzerhand ihre Wohnung in Gais in eine kleine Kneipp-Oase. Die quirlige 79-Jährige schwört seit über zwanzig Jahren auf die Methoden des Wasserpfarrers. Sie freut sich, dass sie seit zwei Jahren sukzessive ihr Wissen an Elisabeth Scheiwiller aus Lenggenwil weitergeben kann. Beide sind diplomierte Kneipp-Gesundheitsberaterinnen und haben die Kräuterakademie in Salez absolviert.
«Lernt das Wasser richtig kennen, und es wird euch stets ein verlässlicher Freund sein.»
Sebastian Kneipp
Als Erstes heisst es für mich Ärmel hochkrempeln. Ein erfrischendes Armbad steht auf dem Programm. «Das fördert die Durchblutung von Herz, Bronchien und Lunge und weckt die Lebensgeister nach einem üppigen Essen mindestens so effektiv wie ein Espresso», erklärt Elisabeth Scheiwiller. Oberstes Gebot bei den Wasseranwendungen ist, dass die jeweiligen Körperteile warm sind. Wer vor der Behandlung schon fröstelt, schockt und überfordert den Organismus. «Elementar ist, dass man langsam mit den Abhärtungsübungen beginnt. Durch regelmässiges Training kann die Intensität allmählich gesteigert werden», so die Gesundheitsberaterin. Weiter sollte darauf geachtet werden, dass man stets jene Körperteile zuerst ins Wasser taucht, die am weitesten vom Herzen entfernt sind. Das heisst für mich, dass ich ausatmend und mit den Fingerspitzen voran zuerst den rechten Arm ins Becken tauche. Als ich die Arme leicht zu kreisen beginne, wird die Kälte noch intensiver spürbar. Nach ein paar Sekunden kribbelt es zünftig. Ich beende das Bad, indem ich das Wasser mit den
Händen von den Armen abstreife und anschliessend sofort wieder mit den Blusenärmeln bedecke. Bereits wenig später fühlen sich meine Arme wohlig warm an und ich spüre die vitalisierende Wirkung.

«Alt wollen sie werden, gesund wollen sie bleiben, aber etwas tun dafür wollen sie nicht.»
Sebastian Kneipp
Nach der Wasseranwendung kommen wir zur «Bewegung» – ein weiterer Pfeiler der ganzheitlichen Kneipp-Philosophie. Mit gestreckten Zeigefingern und Armen zeichne ich unter Anleitung von Elisabeth Scheiwiller lebensgrosse Zahlen in die Luft. Dass ausreichende Bewegung die Gesundheit fördern soll, stellte für viele Zeitgenossen Kneipps ein Novum dar. Wer es sich leisten konnte, war auf möglichst wenig Bewegung bedacht. Eine Entwicklung, die Kneipp wohlweislich kritisch bewertete.
«Untätigkeit schwächt, Übung stärkt, Überlastung schadet.» Getreu dem kneippschen Zitat «Unser Herrgott hat für jedes Leiden ein Kräutlein wachsen lassen», zeigt mir Elisabeth Scheiwiller auf, wie vielfältig die Apotheke vor unserer Haustüre sein kann. Oftmals als Unkraut verkannt, sind viele Pflanzen bezüglich Heilwirkung um einiges intensiver als beispielsweise Kopfsalat oder Radieschen. Elisabeth Scheiwiller selbst litt jahrelang aufgrund einer Autoimmunkrankheit unter Adipositas.
Infolgedessen begann sich die fünffache Mutter mit vollwertiger Ernährung auseinanderzusetzen. Mittlerweile stellt die 54-Jährige selber naturbelassene Kräutersalze, Tees, Salben und Tinkturen nach dem Vorbild von Kneipp her. Sie verfolgt bei der gesunden Ernährung aber keinen missionarischen Ansatz: «Ich betone in meinen Kursen oft, dass kleine Schritte hin zu einer gesünderen Lebensweise immer noch um ein vielfaches besser sind als kompletter Stillstand.»

«Vergesst mir die Seele nicht.»
Sebastian Kneipp
Eine der anspruchsvollsten Kneipp-Säulen ist die «Lebensordnung». «Unser Leben braucht Ordnung, einen vernünftigen Rhythmus zwischen aktiver Leistung und ausgleichenden Ruhezeiten. Wenn unsere Seele nicht im Lot ist, sind körperliche
Beschwerden meist nicht weit», weiss Rosmarie Schoch. Im sozialen Bereich fordert die Kneipp-Lehre Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe. Zudem hat Pfarrer Sebastian Kneipp die Religion als Lebenshilfe und Energiequelle in die Lebensordnung miteinbezogen. «Glücklich der Mensch, der es versteht und sich bemüht, das Notwendige, Nützliche und Heilsame mehr und mehr sich anzueignen.» Bei Johanniskrauttee und mit Wiesenkräutern garnierten Brötchen, sprechen Rosmarie Schoch
und Elisabeth Scheiwiller über ihr Engagement im Kneippverein St. Gallen: «Obwohl Kneipp mit seiner ganzheitlichen Philosophie voll und ganz dem Zeitgeist entspricht, kämpfen wir wie viele andere Kneippvereine auch mit sinkenden Mitgliederzahlen. Noch vor zehn Jahren zählten wir über 1000 Mitglieder, aktuell sind es noch 330», bedauert Rosmarie Schoch. Nichtsdestotrotz wird allein im deutschen Sprachraum in rund 210 000 Haushalten regelmässig gekneippt. Damit sind die Kneipp-Verbände laut WHO eine der grössten Gesundheitsorganisationen auf der Welt. «Neben Fixpunkten wie unseren Mittwochtreffen, Wanderungen sowie Wassergymnastik- und Aqua-Fit-Lektionen, organisieren wir vielseitige Kurse und Vorträge rund ums Thema Gesundheitsförderung», hält Rosmarie Schoch fest.

www.kneipp.ch/kneippverein-st.gallen
Rosalie Manser