«Den anderen nicht besiegen»

Was tun, wenn sich ein Kind weigert, in die Schu­le zu gehen? Und wie soll man mit ­respekt­lo­sem Verhal­ten umge­hen? Schul­ex­per­te Stefan Gander spricht im Inter­view darüber, wie Erwach­se­ne und Lehr­per­so­nen in solchen Situa­tio­nen reagie­ren können.

Erzie­hen war nie schwie­ri­ger als heute: Stimmt das und ­wieso entsteht dieser Eindruck?

Stefan Gander: Mit solchen pauscha­len Aussa­gen habe ich Mühe. Jede Gene­ra­ti­on hat ande­re und neue Heraus­for­de­run­gen. Wir befin­den uns derzeit in einer unbe­stän­di­gen Zeit. Alles ist unsi­cher und von der steten Verfüg­bar­keit geprägt. Die Jugend­li­chen haben durch die sozia­len Medi­en immer das Gefühl, etwas verpas­sen zu können. Ein weite­rer Punkt ist, dass wir heute stark geprägt sind vom Wort «sofort». Warten fällt uns schwer. Gera­de Jugend­li­che wollen dort sein, wo etwas passiert. Sich darauf einlas­sen, ist aber schwie­rig, weil an einem ande­ren Ort ja gleich­zei­tig auch etwas passiert.

Führt das dazu, dass wir keine Gren­zen mehr kennen? Und die Lehr­per­so­nen können dann ausba­den, was zuhau­se in der Erzie­hung versäumt wurde?

Stefan Gander: Das kann ich so nicht bestä­ti­gen. Es gibt nicht einfach Die Jugend­li­chen, Die Eltern oder Die Lehr­per­so­nen. Es gibt ganz viele gelin­gen­de und posi­ti­ve Beispie­le, Fami­li­en, Bezie­hun­gen und so weiter. Als Eltern wie auch als Lehr­per­so­nen kann man aber in Situa­tio­nen gera­ten, in denen man nicht mehr weiter weiss und sich ohnmäch­tig fühlt. Dieses Gefühl der Ohnmacht könn­te man viel­leicht mit dem Vorwurf gleich­set­zen, dass Kinder und Jugend­li­che heute keine Gren­zen mehr kennen würden.

Hier setzt die Metho­de der Neuen Auto­ri­tät an, nach der Sie an Ihren Schu­len arbei­ten. Worum handelt es sich dabei?

Stefan Gander: Die Neue Auto­ri­tät des israe­li­schen Psycho­lo­gen Haim Omer ist in den 1990er-Jahren dadurch entstan­den, dass er die Hilf­lo­sig­keit von Eltern im Gaza­strei­fen wahr­nahm. Es handelt sich dabei um eine Extrem­si­tua­ti­on ohne Zukunfts­per­spek­ti­ven oder Hoff­nung für die Jugend­li­chen. Drogen und Banden wurden unter den Jugend­li­chen ein gros­ses Thema. Allen Eltern war gemein­sam, dass sie eben in diese Ohnmacht gerie­ten. Die Neue Auto­ri­tät ist darauf ein Stück weit eine Antwort. Ich verwen­de heute lieber den Begriff der Verbin­den­den Auto­ri­tät nach Elia­ne Wieben­ga, da er zeit­ge­mäs­ser und meiner Meinung nach zutref­fen­der ist.

Lehr­per­so­nen sind für Stefan Gander, Bereichs­lei­ter Förder­an­ge­bo­te Verein tipi­ti, wie gute Gast­ge­ber. Ein Gast­ge­ber dürfe verlan­gen, dass man die ­Füsse nicht auf den Tisch lege. Ein Gast­geber sei aber auch als erster vor Ort.

Wann fingen Sie an, nach ­diesem Ansatz zu arbeiten?

Stefan Gander: 1996 grün­de­te ich mit der SBW Haus des Lernens Heris­au meine erste Privat­schu­le mit. 2005 entdeck­te ich die Metho­de von Haim Omer und merk­te, dass er syste­ma­tisch fest­ge­hal­ten hatte, was wir in den Jahren zuvor schon umge­setzt hatten. Durch Haim Omer hatten wir eine tref­fen­de Spra­che für unse­re Haltung gefun­den. Ziel ist es, als Lehr­per­son in fest­ge­fah­re­nen Situa­tio­nen wieder hand­lungs­fä­hig zu werden. Ich verglei­che Lehr­per­so­nen oft mit einem guten Gast­ge­ber. Ein Gast­ge­ber darf verlan­gen, dass man die Füsse nicht auf den Tisch legt. Ein guter Gast­ge­ber ist aber beispiels­wei­se auch immer als erster vor Ort. Man kann seine Klas­se nicht ins Schul­zim­mer rennen lassen, selbst erst fünf Minu­ten später hinzu­kom­men und erwar­ten, dass das funk­tio­niert. Dann ist die Präsenz nicht da, eine der wich­tigs­ten Grund­la­gen der Verbin­den­den Autorität.

Haben Sie ein weite­res ­Beispiel, wie man Konflik­te mit Kindern und Jugend­li­chen löst?

Stefan Gander: Nehmen wir das Beispiel eines Kindes, das sich weigert, in die Schu­le zu gehen. Das ist ein Problem, das nicht selten vorkommt. In erster Linie bestär­ken wir die Eltern dann darin, eine klare Haltung einzu­neh­men und sich selbst zu kontrol­lie­ren. Das sind eben­falls Elemen­te der Verbin­den­den Auto­ri­tät. In einem zwei­ten Schritt geht es darum, das Netz­werk zu akti­vie­ren. Dazu können beispiels­wei­se die Gross­el­tern, Freun­de oder Lehr­per­so­nen gehö­ren. Einmal mach­ten wir in einem solchen Fall einen Plan, wer an welchem Tag morgens das Kind abholt und dabei klar und liebe­voll beharrt, dass es mitkommt. Zehn Tage funk­tio­nier­te das nicht. Am elften Tag ging das Kind mit dem Gross­va­ter mit zur Schule.

Es geht also darum, bei einer klaren Haltung zu blei­ben und die Last auf verschie­de­nen Schul­tern zu tragen?

Stefan Gander: Ja. Es ist aber immer wich­tig, zwischen dem Verhal­ten und dem Kind als Person zu unter­schei­den: «Dich als Toch­ter lieben wir. Dein Verhal­ten können wir aber nicht akzep­tie­ren.» Das trifft gera­de auch bei respekt­lo­sem Verhal­ten zu. Hilf­reich ist, sich zunächst auf einen einzi­gen Punkt zu konzen­trie­ren, den man ändern möch­te und dass man dabei beharr­lich bei seinem Stand­punkt bleibt. Verhal­tens­än­de­run­gen brau­chen Zeit. Es nützt nichts, wenn man sagt, wenn du jetzt nicht das oder das machst, darfst du nicht in den Ausgang. Und man muss immer in der Bezie­hung zum Kind blei­ben. Als Erwach­se­ne sind wir dafür verant­wort­lich, immer wieder Bezie­hungs­an­ge­bo­te zu machen. Darin liegt die Kunst: Man muss in der Bezie­hung zum Kind blei­ben und Präsenz zeigen, gleich­zei­tig aber das stören­de Verhal­ten klar benen­nen. Indem man als Erwach­se­ner in seiner Haltung deut­li­cher wird, verän­dert sich das Verhal­ten eines Kindes.

Ist das Bewusst­sein für diese Erzie­hungs­me­tho­de nicht schon längst Alltag?

Stefan Gander: Das Bewusst­sein für diese Metho­de ist defi­ni­tiv vorhan­den. Manch­mal fehlen einem aber Hand­lungs­in­stru­men­te. Ich werde häufig von unter­schied­lichs­ten Schu­len ange­fragt, Refe­ra­te zu halten oder Weiter­bil­dun­gen zu geben. Eini­ge Schu­len beglei­te ich mit einem Team während eines ganzen Jahres, um den Ansatz der Verbin­den­den Auto­ri­tät umzu­set­zen. Im Zentrum steht immer die Frage, wie ich meine Haltung aufzei­gen kann, ohne den ande­ren zu besie­gen. Eines der wich­tigs­ten Bücher von Haim Omer heisst «Stär­ke statt Macht». Das trifft, worum es geht.

Vortrag an flade

Am 15. Novem­ber sind alle Inter­es­sier­ten zu einem Vortrags­abend der flade, der ­katho­li­schen Kantons­se­kun­dar­schu­le St. Gallen, einge­la­den. An dem tradi­tio­nel­len Bildungs­an­lass mit anschlies­sen­dem Apéro spricht Stefan Gander, ­Bereichs­lei­ter Förder­an­ge­bo­te Verein ­tipi­ti, zum Thema «Verbin­den­de Auto­ri­tät – durch Präsenz und Bezie­hung». Im Fokus steht, wie Eltern und Lehr­personen regel­mäs­sig mit unge­wöhn­li­chen oder destruk­ti­ven Verhal­tens­wei­sen von ­Jugend­li­chen konfron­tiert sind und welche Art von Auto­ri­tät dies erfor­dert.

→ 15. Novem­ber, 19 Uhr, Schutzengel­kapelle, Klos­ter­hof 2, St. Gallen

Text: Nina Rudnicki

Bilder: zVg.

Veröf­fen­li­chung: 7. Novem­ber 2022

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