Ein tödlicher Verkehrsunfall, ein plötzlicher Herzstillstand oder ein Suizid – und für die Angehörigen ist nichts wie es mal war. Gabi Ceric, Pfarreibeauftragte der Pfarrei Oberriet, ist eine von über 50 Freiwilligen des kantonalen Care-Teams, die in solchen Situationen bei den Hinterbliebenen psychologische erste Hilfe leisten.
Gabi Ceric, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Ihr Pager losgeht und Sie für einen Care-Team-Einsatz aufgeboten werden?
Es kann mitten in der Nacht sein. Der Alarm weckt mich. Ein Kadermitglied teilt mir ein paar Eckdaten zum Einsatzort, zu den betroffenen Personen und zum Ereignis mit: Verkehrsunfall, erfolgslose Reanimation, ein Suizid, ein Gewaltverbrechen … Unser Einsatzgebiet umfasst das Rheintal von St.Margrethen bis zum Walensee. Eine Person hat rund um die Uhr Pikettdienst. Nach dem Telefonat mit der Einsatzleitung vor Ort mache ich mich dann sofort auf den Weg. Wir haben den Auftrag, innerhalb einer Stunde bei den Betroffenen zu sein.
Wer bietet Sie auf?
Meistens ist es die Einsatzleitung der Polizei. Sie erkundigt sich bei den Betroffenen, ob sie psychologische Begleitung wunschen. Es konnten aber auch andere Personen sein, denn grundsätzlich kann jeder uns via Notrufnummer 144 aufbieten. Auch am Tag nach dem Ereignis konnen sich Betroffene selbst melden.
Wie bereiten Sie sich auf den Einsatz vor?
Da ich nie weiss, was mich vor Ort erwartet, ist da zuerst einmal ein Adrenalinschub. Wenn ich alarmiert werde, versuche ich mir ein Bild von dem zu machen, was mich erwartet. Zum Beten bleibt da keine Zeit, aber ein Stossgebet liegt schon drin: Hilf den Betroffenen und mir jetzt bei meinem Einsatz. Wenn ein anderer Care-Team- Kollege im Einsatz ist, dann bete ich fur ihn und jene Menschen, fur die er da ist. Ich versuche mich zu konzentrieren und ruhig zu sein. Ich muss mich spontan auf die Situation und die Menschen einlassen. Meistens ist mein Einsatzort zuhause bei den Betroffenen. Wer einen Angehörigen oder nahestehenden Menschen verloren hat, beschreibt es oft so, als ob ihm der Boden unter den Fussen weggerissen worden sei. Wenn ich bei ihnen bin, versuche ich zunächst herauszuspüren, ob sie sich noch im luftleeren Raum befinden oder ob sie inzwischen schon wieder Boden unter den Füssen gefunden haben. Mich entlastet meine Gewissheit, dass Gott bei diesen Menschen ist, schon bevor ich dort bin. Es ist wunderbar, dass Gott den Menschen mit einem guten seelischen Selbstschutzmechanismus erschaffen hat. Dieser konfrontiert die Seele in dieser sehr belastenden Situation nur mit dem, das sie gerade verarbeiten kann.

Wie sind die Reaktionen, wenn Sie sich als Seelsorgerin vorstellen?
Ich stelle mich nicht als Seelsorgerin vor, sondern als Mitglied der Psychologischen Ersten Hilfe des Kantons St.Gallen. In manchen anderen Kantonen gibt es Notfallseelsorgerinnen und ‑seelsorger. Der Begriff ≪Seelsorge ≫ wurde bei uns bewusst vermieden, weil mit diesem Wort oft auch eine Nahe zur Kirche impliziert ist. Wir arbeiten nicht im Auftrag der Landeskirchen, sondern hier explizit im Auftrag des Kantons. Wenn es sich im Einsatz aber anbietet, dann nenne ich meine berufliche Tätigkeit als Seelsorgerin. Manchmal ist das Stichwort Seelsorgerin sogar ein Türöffner. Glauben und Religion aber können eine wertvolle Ressource sein, aus der gerade in dieser aussergewöhnlichen Situation geschöpft werden kann. Religiöse Symbole in der Wohnung machen mich auf diese Möglichkeit aufmerksam. Auch schon ist es vorgekommen, dass mich Betroffene aus meiner Seelsorgetätigkeit her kennen. Dann biete ich auch ein Gebet an.
Kostet es nicht Überwindung, jemanden in einer so existenziellen Situation zuhause zu besuchen?
Im Gegenteil. Die Betroffenen sind zuhause, in ihrer vertrauten Umgebung. Ich bekomme so sehr schnell viel mit uber die Familienkonstellation, was fur sie wichtig ist oder was ihnen guttut. Da kann ich im Gespräch anknüpfen.
Wie kann man für jemanden da sein, für den die Welt gerade komplett aus den Fugen geraten ist?
Auch wenn sich das vielleicht banal anhort: Meine Hauptaufgabe ist, einfach da zu sein. Alles weitere hangt von der jeweiligen Person oder den Umstanden ab. Die meisten haben das Bedürfnis, mit jemandem uber alles sprechen zu können. Manche sind still. Ich versuche, ins Gespräch zu kommen. Es sind stabilisierende Gespräche und keine Therapie oder Trauerarbeit. Oft leiste ich so etwas wie Überbrückungshilfe: ich bleibe da, bis eine Verwandte oder eine andere Bezugsperson eintrifft. Es ist auch meine Aufgabe, die Betroffenen auf ihre körperlichen Bedürfnisse aufmerksam zu machen: Haben Sie alles, was Sie brauchen? Haben Sie etwas gegessen? Wichtig ist, sie ins Handeln zu bringen. Nicht ich koche fur sie einen Tee, sondern ich motiviere sie, sich einen Tee zu kochen. Ich versuche herauszufinden, was den Betroffenen jetzt helfen konnte – Handlungen und Aktionen, die aus der Lähmung befreien: ein Foto anschauen, Tagebuch schreiben, Sport … Einmal war ich bei einer Oma, deren Enkel ums Leben gekommen war: Sie wollte den Verstorbenen nicht mehr sehen, da sie ihn so in Erinnerung behalten wollte wie er war. Ich habe sie motiviert, ihm einen Brief zu schreiben. Das hat ihr geholfen. Ich war froh, konnte sie dann später doch noch ihr verstorbenes Grosskind in der Aufbahrung besuchen. Das hat sie im Nachhinein als sehr hilfreich empfunden. Es ist für alle eine grosse Hilfe, zu wissen, dass es jemanden gibt, den sie jederzeit anrufen können.
Wie lange sind Sie vor Ort?
Auch das ist ganz unterschiedlich: Meistens zwischen zwei bis vier Stunden. Ich gehe dann, wenn ich merke, dass sich mein Gegenüber stabilisiert hat und alles hat, was es furs erste braucht. In den Tagen darauf nehmen wir noch einmal mit dem Betroffenen Kontakt auf und klaren, ob es weitere Unterstützung braucht.
Wie verarbeiten Sie den Einsatz? Haben Sie ein Ritual?
Ein Einsatz bringt viel Verantwortung mit sich: Ich muss mein Gegenüber sehr aufmerksam wahrnehmen und auch erkennen, ob er medizinische oder psychiatrische Hilfe benötigt. Das fordert von mir sehr viel Konzentration und Energie. Wenn ich nach Hause komme, bin ich einfach nur noch müde und – je nach Tageszeit – will ins Bett oder ich nehme ein Bad. Da ist keine Energie mehr fur ein Ritual. War ich tagsüber im Einsatz, versuche ich auf einem Spaziergang das Erlebte zu verarbeiten. Ich bin dankbar, dass mir meine Tätigkeit als Seelsorgerin dafur Freiraume ermöglicht. Einige Tage nach dem Einsatz haben wir mit den Betroffenen noch einmal telefonisch Kontakt. Da erfahre ich, was seither passiert ist. Ich bekomme mit, dass das Leben weitergeht. Wichtig fur die Verarbeitung sind die Supervisionen und Weiterbildungen, die das Care-Team regelmässig besucht. Sie leisten seit 2006 Psychologische Erste Hilfe.

Warum haben Sie sich für diesen Dienst entschieden?
Als Christin sehe ich es als meine Aufgabe, anderen in Not beizustehen – und das beschränkt sich nicht nur auf Pfarreiangehörige, sondern gilt fur alle Menschen in meiner Region. Konkret habe ich mich damals gemeldet, da die Bistumsleitung Seelsorgerinnen und Seelsorger darauf aufmerksam gemacht hat, dass der Kanton Freiwillige sucht. Es ist eine herausfordernde Aufgabe, fur die nicht so einfach genügend Freiwillige gefunden werden. Die Care-Giver mussen einiges an Knowhow und Erfahrung im Umgang mit Krisen mitbringen und selbst erfahren im Umgang mit Trauer sein. Dazu braucht es die Erlaubnis des Arbeitgebers, wahrend des Pikett-Dienstes jederzeit wegzukonnen. Beim Pikettdienst muss man 24 Stunden erreichbar sein, ich muss jederzeit damit rechnen, dass es losgeht. Zudem war es auch eine pragmatische Entscheidung: Als Pfarreibeauftragte bin ich sowieso schon fur Notfalle erreichbar, dann kann ich mich auch fur den Notfalldienst des Kantons zur Verfügung stellen. Die Ausbildung und Fortbildungen erlebe ich als sehr bereichernd. Die Care-Team-Mitglieder stammen aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten. Ich sehe es als grosse Wertschätzung, dass der Kanton Seelsorgerinnen und Seelsorger der Landeskirchen als kompetent fur ein solches Engagement sieht. Wir leben in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft.
Hat der Bedarf an Psychologischer Erster Hilfe zugenommen?
In meinem Dienst begegnen mir immer wieder Menschen, die niemanden in der Nahe haben, den sie mitten in der Nacht anrufen konnen. Oft leben Eltern, Geschwister oder Freunde weit weg. Kontakte zu Nachbarn, Arbeitskollegen oder anderen Personen in der naheren Umgebung gibt es nicht. Das stimmt mich manchmal traurig. Zum Glück erlebe ich oft auch das andere – Situationen, wo dieses Netz total gut funktioniert: Da komme ich mit einer Angehörigen nach Hause und erlebe, wie sie gleich auf die Nachbarin zustürmt und ihr alles erzählen will. In diesem Jahr hat das Care-Team bereits siebzig Einsatze geleistet – so viel wie nie zu vor. Ob das eine Ausnahme ist, ob es mit der Corona-Pandemie zu tun hat oder eine allgemeine Entwicklung ist, wird sich erst zeigen.
Viele sind unsicher, wie sie auf einen Todesfall in der näheren Umgebung reagieren sollen: Was sage ich zur Nachbarin, wenn ich ihr im Treppenhaus begegne?
Das Wichtigste ist, sich fur sie Zeit zu nehmen und ihr zuzuhören. Es tut Betroffenen gut, wenn sie ein Gesprächsangebot erhalten: Willst du mal auf einen Kaffee vorbeikommen? Kann ich auf deine Kinder aufpassen? Oft ist es auch eine Unterstutzung, bei täglichen Arbeiten wie einkaufen oder kochen mitzuhelfen. Falsch ware, den Betroffenen zu sagen: Es hatte noch schlimmer kommen konnen. Anstatt zu pathologisieren ist es besser, ganz offen zu bekennen: ich weiss jetzt auch nicht, was ich sagen soll.
Wie hat Ihre Arbeit im Care-Team Ihren Glauben geprägt?
Ich habe ein Grundvertrauen, dass Gott bei uns ist. Selbst in den schlimmsten Katastrophen, im grössten Leid und auch bei einem Schicksalsschlag ist er bei uns – so wie bei Jesus am Kreuz. Ich darf darauf vertrauen, dass der Weg weitergeht. Diese Grundüberzeugung hatte ich schon, als ich mit dem Dienst angefangen habe. Was sich bei mir verandert hat: Der Blick auf das Leben. Ich bin dankbarer, dass es mir und meinen Nahestehenden gut geht, dass ich ein Umfeld habe, in dem ich eingebettet bin. Ich bin mir viel mehr bewusst, dass das keine Selbstverstandlichkeit ist. Man wird dankbarer und stellt sich viel mehr die Frage, was wirklich wichtig ist.
PSYCHOLOGISCHE ERSTE HILFE DES KANTONS ST.GALLEN
Seit 1994 verfügt der Kanton St.Gallen uber eine Einsatzgruppe Psychologische Erste Hilfe (PEH). Ursprünglich war diese ausschliesslich fur die Betreuung von Betroffenen und traumatisierten Helfern im Rahmen von Grossereignissen zuständig. Wegen zunehmender Nachfrage wurde diese Ende 2005 in eine Organisation umgewandelt, die neu auch niederschwellig zur Bewaltigung belastender alltäglicher Ereignisse eingesetzt werden kann. Das PEH-Care-Team wird im Auftrag des Gesundheitsdepartements durch die beiden Psychiatriesektoren Nord oder Sud organisiert und umfasst rund 50 ausgebildete Einsatzpersonen. Die Kernaufgabe besteht darin, von traumatisierenden Erfahrungen unmittelbar Betroffenen und ihren Angehörigen sowie den Einsatzkräften zu helfen, möglichst rasch wieder in den Alltag zurückzufinden.
Text: Stephan Sigg Bild: Regina Kühne