Paargeschichten sammeln, ohne sie zu bewerten

Wieso uns Bezie­hungs­ge­schich­ten ande­rer Paare gut tun, erzäh­len Made­lei­ne Winterhalter-Häuptle und Matthi­as Koller Filli­ger von der Fach­stel­le Partnerschaft-Ehe-Familie (PEF) des Bistums St. Gallen im Inter­view. Kürz­lich haben sie das Projekt paargeschichten.ch lanciert.

Die Platt­form paargeschichten.ch sammelt Geschich­ten unter ­ande­rem von Liebes­an­fän­gen, Tren­nun­gen und Abschie­den, vom Heira­ten und Allei­ne sein: Welches ist Ihre Lieblingsgeschichte?

Matthi­as Koller Filli­ger: Persön­lich mag ich die Geschich­ten gerne, die von Liebes­an­fän­gen handeln. Oft erzäh­len sie vom Krib­beln am Anfang einer Bezie­hung. Gera­de auch in der Paar­be­ra­tung sind Liebes­an­fän­ge ein wich­ti­ges Element. Wenn man beispiels­wei­se in einer Krise der Frage nach­geht, wie alles begon­nen hat und warum sich das Paar einmal fürein­an­der entschie­den hat.

Made­lei­ne Winterhalter-Häuptle: Fragt man Perso­nen nach ihren Liebes­an­fän­gen, erin­nern sich diese zunächst oft nicht an ein bestimm­tes Ereig­nis, sondern an viele verschie­de­ne Bilder. Die verschie­de­nen Bilder erge­ben dann zusam­men einen Liebes­an­fang. Das Span­nen­de dabei ist, dass zwei Perso­nen, die von ihrem Bezie­hungs­an­fang erzäh­len, oft ganz unter­schied­li­che Erin­ne­run­gen und Bilder haben. Das ist es, was mich fasziniert.

Mitt­ler­wei­le sind rund 70 ­Geschich­ten zusammen­gekommen. Wer erzählt Ihnen diese Geschich­ten und wieso?

Matthi­as Koller Filli­ger: Nehmen wir die Geschich­te mit dem Velo­ku­rier. In dieser betre­ten zwei Frau­en einen Velo­ku­rier­la­den, um ihre Velos zu pumpen. Sie blei­ben den ganzen Nach­mit­tag dort. Einer der Velo­ku­rie­re und eine der Frau­en küssen sich noch am selben Abend. Heute sind sie seit 22 Jahren verhei­ra­tet. Diese Geschich­te erzähl­te mir ein Arbeits­kol­le­ge, als wir zusam­men im Zug an eine Tagung fuhren. Weil paargeschichten.ch gera­de lanciert worden war, hatte ich ihn spon­tan gefragt, wie er denn eigent­lich seine Frau kennen­ge­lernt hatte. Am nächs­ten Tag frag­te ich ihn, ob ich ihre eindrück­li­che Geschich­te aufschrei­ben und veröf­fent­li­chen dürfe.

Made­lei­ne Winterhalter-Häuptle: Wenn wir an einer Tagung oder einem Anlass mit den bereits gesam­mel­ten Geschich­ten arbei­ten, dann wirkt das oft wie ein Kata­ly­sa­tor. Viele Perso­nen erin­nern sich dann an ihre eige­nen Geschich­ten und erzäh­len diese. Das ist es auch, was die Stär­ke dieses Projek­tes ausmacht: Die Geschich­ten sind oft so alltäg­lich und gewöhn­lich und doch zeigen sie einem sofort auf, was eine Bezie­hung ausmacht und was deren Essenz ist. Eine meiner liebs­ten Geschich­ten ist «Die Bett­fla­sche». Jeden Abend bringt Floras Part­ner ihr eine Bett­fla­sche ins Bett. Das wird zu einem gemein­sa­men Ritu­al, das dabei hilft, die Enttäu­schung zu über­win­den, dass Flora gerne früh und ihr Part­ner stets spät ins Bett geht. Nur weil ich aber diese Geschich­te mag, heisst das nicht, dass sie auch ande­ren gefal­len muss und dass sie auf die Geschich­te genau­so posi­tiv reagie­ren wie ich.

Als Projekt­lei­ter von paargeschichten.ch wird Matthi­as Koller Filli­ger auch selbst zum Autor und zeich­net auf, was ande­re ihm erzählen.

Wie geht man damit um, wenn jeman­dem eine Geschich­te nicht gefällt, die einem selbst viel bedeutet?

Made­lei­ne Winterhalter-Häuptle: Es ist gera­de das Ziel von paargeschichten.ch nicht zu bewer­ten oder zu inter­pre­tie­ren. Es ist zentral, Menschen nach ihren Geschich­ten zu fragen und sie erzäh­len zu lassen. Die Geschich­ten können verschie­de­nes auslö­sen: Faszi­na­ti­on und Befrem­den, Fragen und Wieder­erken­nen. Sie handeln von vielen Höhe­punk­ten, aber auch von schwie­ri­gen Momen­ten wie Tren­nung und Abschied. Diese Brei­te an Geschich­ten ist ein Schatz, der aufzeigt, dass Paar­be­zie­hun­gen ganz unter­schied­lich ablau­fen und gestal­tet werden können.

Matthi­as Koller Filli­ger: Und gera­de deshalb ist es ein Projekt, in dessen Mittel­punkt die Wert­schät­zung steht. Etwa die Wert­schät­zung dessen, was die gemein­sa­me Geschich­te eines Paares ausmacht.

Die Geschich­ten können nicht nur auf paargeschichten.ch ­gele­sen werden, sondern sind auch im Kultur­ma­ga­zin Ernst erschie­nen. Wie ist es zu dieser Zusam­men­ar­beit gekommen?

Matthi­as Koller Filli­ger: Die Idee zum Projekt Paar­ge­schich­ten kam 2020 vom St. Galler Jour­na­lis­ten und drama­tur­gi­schen Bera­ter Mark Riklin. Durch ihn ist auch die Zusam­men­ar­beit mit dem Kultur­ma­ga­zin ERNST und dem Burg­dor­fer Biogra­fi­schen Insti­tut entstanden.

Made­lei­ne Winterhalter-Häuptle: Gera­de durch diese Zusam­men­ar­beit mit ausser­kirch­li­chen Part­nern ist das Projekt unglaub­lich viel­fäl­tig und damit anschluss­fä­hig für verschie­de­ne Menschen gewor­den. Die Redak­ti­on vom Maga­zin ERNST zum Beispiel mach­te ganz verschie­de­ne Beiträ­ge, auf die wir als kirch­li­che Arbeits­grup­pe nicht gekom­men wären, wie beispiels­wei­se eine Repor­ta­ge mit einem Kell­ner, der über zwei­hun­dert Hoch­zei­ten beglei­tet hat oder ein Gespräch mit einer Schei­dungs­an­wäl­tin. Erwäh­nen möch­te ich auch die Repor­ta­ge über eine Seel­sor­ge­rin im Trau­er­ca­fé in Gossau, die dort mit den Paar­ge­schich­ten gear­bei­tet hat und auf diese Weise viele weite­re berüh­ren­de Erzäh­lun­gen der Teil­neh­men­den über ihre Bezie­hun­gen zu hören bekam.

Stich­wort Trau­er­ca­fé: Ist das ein Beispiel dafür, wie die ­Paar­ge­schich­ten in der Praxis zum Einsatz kommen sollen?

Made­lei­ne Winterhalter-Häuptle: Genau. Mit den Paar­ge­schich­ten kann man in bestehen­den Grup­pen arbei­ten, einen Anlass zum Thema Paar­ge­schich­ten entwi­ckeln oder diese als Türöff­ner in die Einzel­seel­sor­ge einflies­sen lassen. Wie bereits erwähnt, löst es bei allen Perso­nen eige­ne Emotio­nen und Erin­ne­run­gen aus, wenn sie eine der Paar­ge­schich­ten hören. Wir beto­nen dabei immer, wie wich­tig es ist, nicht über ande­re Geschich­ten zu werten und zu urtei­len. Nicht alle Geschich­ten sind eingän­gig oder roman­tisch. Es gibt Geschich­ten, die von Drei­ecks­be­zie­hun­gen erzäh­len oder von der Unfä­hig­keit, sich auf eine Part­ner­schaft einzulassen.

Matthi­as Koller Filli­ger: Kirche und Pasto­ral betre­ten «Heili­gen Boden», wenn sie mit Paaren und Fami­li­en arbei­ten: So heisst ein neuer Leit­fa­den für die Seel­sor­ge, der nach der letz­ten Bischofs­syn­ode von den Bistü­mern Basel und St. Gallen zur Ehe- und Fami­li­en­pas­to­ral heraus­ge­ge­ben wurde. Dieser betont, wie wich­tig es ist, sich vorbe­halt­los auf die heut­zu­ta­ge viel­fäl­ti­gen Paar- und Fami­li­en­rea­li­tä­ten einzu­las­sen. Genau diesem seel­sor­ge­ri­schen Ansatz entspricht auch das Projekt paargeschichten.ch.

Made­lei­ne Winterhalter-Häuptle und Matthi­as Koller Filli­ger such­ten nach einem Projekt, das sich weiter­ent­wi­ckeln lässt und wurde mit paargeschichten.ch fündig.

Von wegen viel­fäl­ti­gen ­Paar- und Fami­li­en­rea­li­tä­ten: Welche Rolle spielt der inter­kul­tu­rel­le Aspekt? Was können wir etwa von bina­tio­na­len Paaren oder von Paaren aus einer ande­ren Kultur lernen?

Made­lei­ne Winterhalter-Häuptle: Das Wich­tigs­te ist wohl, zu verste­hen, dass wir nicht in einer Blase leben. So wie wir und viel­leicht unser Bekann­ten­kreis leben, das muss nicht zwangs­läu­fig auch für ande­re so stim­men. Das soll auch in den Paar­ge­schich­ten wider­ge­spie­gelt werden. Gera­de planen wir eine Zusam­men­ar­beit mit dem St. Galler Verein Aida, der sich im Bereich Bildung und Begeg­nung fremd­spra­chi­ger Frau­en enga­giert. Die Bezie­hungs­ge­schich­ten dieser Frau­en werden in paargeschichten.ch aufge­nom­men und berei­chern so das Projekt.

→ www.paargeschichten.ch

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 25.01.2023

Stets neue Geschichten

Das Projekt paargeschichten.ch wird von IG PEF-Pastoral Deutsch­schweiz verant­wor­tet und von der Inlän­di­schen Missi­on sowie den röm.-kath. Kanto­nal­kir­chen Aargau, Luzern, Deutsch­frei­burg und Zürich und den Bistü­mern Sitten ­(Ober­wal­lis) und St. Gallen finan­ziert. Die Websei­te paargeschichten.ch wird fort­lau­fend mit neuen Geschich­ten ­erwei­tert. Die Fach­stel­le Partnerschaft-Ehe-Familie (PEF) des Bistums St. Gallen ist Mitglied bei der IG PEF und setzt das Projekt Paar­ge­schich­ten im Bistum St. Gallen um.

→ Weite­re Infos unter www.pef-sg.ch

Pfarrblatt im Bistum St.Gallen
Webergasse 9
9000 St.Gallen

+41 71 230 05 31
info@pfarreiforum.ch