«Vorurteile? Ich?» Das ist doch gar kein Thema für mich. Schliesslich bin ich weltoffen und tolerant und würde nie jemanden aufgrund seines Aussehens, Geschlechts, Nationalität oder sexuellen Orientierung beurteilen.
So reagierte ich reflexartig auf diese tatsächlich sehr relevante Leserfrage. Vielleicht ging es Ihnen mit der Frage ähnlich. Doch es braucht nur wenige Sekunden, da fallen mir zahlreiche Begegnungen ein, in denen ich von Vorurteilen geleitet war. So ist das Eingeständnis, dass ich mich davon nicht freisprechen kann, schon der erste Veränderungsschritt.
Ins Gespräch kommen
«Ja, ich habe Vorurteile.» Manchmal beginnen sie sogar schon beim Anblick einer Person wirksam zu werden – aufgrund eines Haarschnitts, einer teuren Handtasche, einer Lederjacke oder bunter Fingernägel. Ich bilde mir ein, dass mir dieses Detail genügt, um eine Person einzuordnen. Dabei ist jeder Mensch viel mehr als eine Kategorie. Jede und jeder ist ein Individuum. Da komme ich mit Schubladendenken nicht sehr weit. Wenn die Situation es erlaubt, komme ich daher gerne mit Menschen ins Gespräch, ob im Bus oder im Wartezimmer. Manchmal spüre ich dann schon nach wenigen Sätzen, dass die Person, mit der ich spreche, nichts mit der Person zu tun hat, die ich mir vorstellte.
Ein anderer Blickwinkel
Bin ich einmal wieder schnell mit meinem Urteil, mache ich mir bewusst, dass bestimmte Grundannahmen in mir so aktiv sind, dass ich diese stets bestätigt haben will. Dieses Phänomen ist sogar wissenschaftlich bewiesen und nennt sich «Bias», auf deutsch «Befangenheit». Natürlich bin ich kein Computer mit einer «Neustart»-Taste, doch hin und wieder diese Grundannahmen zu hinterfragen, hilft im Alltag enorm. Auch die Empathie, also das Einfühlen ins Gegenüber, dient dazu, Vorurteile abzubauen. Zum Glück liegt die akute Coronakrise für mich gedanklich schon weit zurück, doch ich erinnere mich noch lebhaft an eine Diskussion zwischen Eltern, ob Kinder geimpft werden sollen. Das Gespräch verlief immer hitziger, bis eine Mutter sagte: «Denkt ihr nicht, dass alle Eltern das Beste für ihr Kind wollen?» Dieser Perspektivenwechsel war unglaublich erhellend.
Moralische Helden
Wenn ich ein Vorbild in vorurteilsfreier Kommunikation suche, dann schlage ich die Bibel auf. Wie oft Jesus seinen Zeitgenossen den Spiegel ihrer eigenen Verbohrtheit vorgehalten hat, ist verblüffend. Eine Frau, die sieben Männer hatte, ist für Jesus kein Skandal. Der Himmel steht ihr offen. Obwohl die Samaritaner zu einer diskriminierten Minderheit gehörten, stellt Jesus in seinem Gleichnis einen von ihnen über die gut angesehenen Priester und Leviten und macht ihn zum moralischen Helden. Die Aussätzigen, die ihren Platz ausserhalb der Stadtmauern zugewiesen bekommen hatten, werden von Jesus in die Gesellschaft zurückgeholt. Ich weiss, dass ich niemals vorurteilsfrei sein werde, doch eine Ausrichtung auf Jesus bricht sicher das eine oder andere Vorurteil auf.
Leserfragen an info@pfarreiforum.ch
Text: Leila Liebenberg, Seelsorgerin, Kirche Alttoggenburg
Bild: zVg
Veröffentlichung: 5. Juni 2025