Die Fachstelle infoSekta bekommt mehr Anfragen zu kleinen, unbekannten Gruppen. Dazu tragen auch Digitalisierung und Soziale Medien bei: Besorgte Eltern melden sich, weil sich ihre Söhne von Onlinekursen und umstrittenen Vorbildern wie Andrew Tate blenden lassen.
Grosse Gemeinschaften wie jene der Zeugen Jehovas, viele kleine und unbekannte Gemeinschaften, aber auch Konzepte, die vor allem jungen Männern Erfolg versprechen: Der neue Jahresbericht von infoSekta zeigt, welche Themen die Zürcher Fachstelle für Sektenfragen im vergangenen Jahr beschäftigt hat. Diese hat 2022 rund 3000 Beratungskontakte verzeichnet, der Beratungsbedarf ist damit ungebrochen. Zwei Drittel davon bezogen sich auf rund 300 kleinere Gruppen. «Viele sind eher unbekannt und erscheinen selten in den Schlagzeilen», heisst es im Jahresbericht. Darin lässt sich beispielsweise auch der Leidensweg dreier Aussteigerinnen aus der Gruppe Komaja, «die Gemeinschaft der Erleuchteten» des Gründers und Leiters Franjo Milicevic alias Guru Makaja nachlesen. Gemäss seiner Lehre «Verliebtheit als geistige Methode» wird Sex zur Befreiung von alten Mustern und zur Überwindung des Ego eingesetzt.
Eigene moralische Vorstellungen
«Bereits vor 30 Jahren, als wir mit unserer Arbeit begannen, spiegelten die Anfragen die Vielfalt der Weltanschauungslandschaft wider», sagt Susanne Schaaf von infoSekta. Diese Pulverisierung habe im Rahmen der Individualisierung nun aber noch zugenommen. Während früher exotische Gemeinschaften wie die Hare-Krishna-Bewegung oder die Organisation von Bhagwan oder auch auffällige Gruppen wie Fiat Lux Interesse geweckt hätten, stehe heute oft die Selbstoptimierung im Zentrum. «Es geht dabei um Fragen, wie man sein Potenzial ausschöpfen kann, um erfolgreich und glücklich zu werden», sagt sie. Explizit im Jahresbericht erwähnt wird ein Phänomen, das vor allem junge Männer betrifft. Es handelt sich um die manipulative Sogwirkung von umstrittenen Schulungsangeboten und Multi-Level-Marketing-Systemen wie von der Online-Finanzakademie IM Mastery Academy oder von sogenannten Influencern. Letzteres sind Personen, die in den Sozialen Medien einen hohen Bekanntheitsgrad haben und dadurch andere beeinflussen. Die jungen Menschen kommen ebenfalls über die Sozialen Medien mit den entsprechenden Plattformen und Personen in Kontakt. «Im vergangenen Jahr hatten wir vermehrt Anfragen von besorgten Eltern, weil sich der Sohn einem solchen System zugewandt hatte und unzugänglich für Kritik und Warnungen geworden war», sagt Susanne Schaaf. «Die Vertreter der Systeme treten betont lässig und selbstbewusst auf, lassen sich vor teuren Autos oder am Pool ablichten. Sie vermitteln die Botschaft, dass es einfach sei, sein eigener Herr zu sein, selbstbestimmt arbeiten zu können und schnell viel Geld zu verdienen.» Als Beispiel nennt sie den ehemaligen Kickboxer und Influencer Andrew Tate, der einer breiten Öffentlichkeit durch seine frauenfeindlichen Aussagen bekannt geworden ist. «Sein Erfolg bei vielen jungen Männern könnte damit zusammenhängen, dass er das Bild eines vermeintlich starken Mannes vermittelt. Dieser lässt sich von niemandem etwas vorschreiben und lebt nach eigenen moralischen Vorstellungen, unabhängig und angstfrei», sagt sie.
An enges Milieu verlieren
Doch wie geht die Fachstelle vor, wenn sie Anfragen zu kleineren oder unbekannten Gruppen bekommt? «In solchen Fällen recherchieren wir, sichten die Website und Videoclips der Organisation, setzen uns mit dem Lehrgebäude auseinander und suchen nach personellen Verflechtungen, um eine erste Einschätzung machen zu können», sagt Susanne Schaaf. InfoSekta stehe auch mit anderen Fachstellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich im Austausch. Dieses Netzwerk könne bei den Recherchen sehr hilfreich sein. In einem weiteren Schritt gehe es dann um eine umfassenden Auslegeordnung mit den Angehörigen. Wie soll man mit einem Familienmitglied umgehen, das in ein sektenhaftes Milieu abgedriftet ist? Wie weit kann man in seiner Argumentation gehen, ohne die Beziehung zu gefährden? Wohin mit der Angst vor dem Verlust des geliebten Menschen? «Die Mechanismen sind bei kleinen Gruppen oft ähnlich wie bei bekannten Organisationen», sagt sie und fügt an: «Die Probleme der Angehörigen sind über all die Jahre ähnlich geblieben. Sie verlieren einen geliebten Menschen an ein enges Milieu.»
→ Jahresbericht sowie Infos zu Selbsthilfegruppen und Prävention auf www.infosekta.ch
Text: Nina Rudnicki
Bild: pixabay.com
Veröffentlichung: 25. Juli 2023