Als Clownerin mit rundem Bauch hat die Rheintalerin Gardi Hutter die Bühnen der Welt erobert. Einfluss auf ihren Werdegang hatten auch ein französischer Priester und eine Thurgauer Pfarrfrau. Das zeigt die Biografie «Trotz allem», die die Historikerin Denise Schmid über die Rheintaler Künstlerin geschrieben hat.
Um der Enge der Ostschweiz zu entfliehen, hat die 19-Jährige Altstätterin einen klugen Plan ausgeheckt: Gardi Hutter will sich der katholischen Organisation ATD des Priester Père Joseph in Paris anschliessen. Die Eltern haben nichts dagegen, da sie sich ja in einem katholischen Umfeld engagieren möchte. «Père Joseph war eine beeindruckende Persönlichkeit und
hatte progressive Ideen zur Sozialarbeit», erinnert sich Gardi Hutter in «Trotz allem», «Er war überzeugt davon, dass man den Bedürftigen nicht einfach Almosen bringen, sondern ihre kulturelle Bedürftigkeit verändern musste.»
Riskante Erfahrung
Die katholische Organisation ATD Vierte Welt (Aide a toute destresse – Hilfe in aller Not), heute im deutschsprachigen Raum kaum mehr ein Begriff, wurde 1957 vom katholischen Priester Joseph Wresinski in einem Obdachlosenlager bei Paris gegründet, um Arme und Randständige «in der ersten Welt» zu unterstützen. Père Joseph sei kein Fan von Theorie gewesen, erfährt man in «Trotz allem». Er will jungen Menschen, die privilegiert aufgewachsen sind, zeigen, was Armut bewirken kann – und so bekommt auch Gardi Hutter den Auftrag, sich für 24 Stunden ohne einen Cent in der Tasche an einem Pariser Bahnhof durchzuschlagen. «Das war eine eindrückliche, lehrreiche und riskante Erfahrung. (…) Aber wir konnten uns nun die Spirale von Armut und Gewalt konkreter vorstellen.»
Auf Ungerechtigkeiten hinweisen
Gardi Hutter will Sozialarbeiterin werden. Am Rande von Paris engagiert sie sich für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Sie setzt dabei auf musische Workshops. Doch die Arbeit bei ATD ernüchtert sie. Sie empfindet ihr Engagement als Tropfen auf dem heissen Stein. Hutter kehrt zurück in die Schweiz, wo sie in Zürich eine Schauspielerausbildung absolvieren möchte. Gardi Hutter erkennt: In Theaterinszenierung steckt ein grosses Potenzial, um auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Durch einen Theaterkurs lernt sie Ursula Brunner kennen – Thurgauer Pfarrfrau und Politikerin. Die Rebellin beeindruckt die Rheintalerin: Ursula Brunner lancierte zusammen mit anderen Frauen eine Kampagne, die die Migros in die Knie zwingen will, den Bananen-Bauern in Zentralamerika einen fairen Lohn zu zahlen. Eines ihrer Medien: Sie wollen mit Theateraufführungen mitten auf dem Hirschenplatz in Zürich die Passanten auf die Ungerechtigkeit hinweisen. Mittendrin: Gardi Hutter übernimmt die Rolle des «Hofnarren». «Erstaunlich ist, dass sie noch vor ihrer Ausbildung in die Rolle schlüpfte, die ihr späteres Leben – wenn auch in anderer Form, prägen wird», so die Autorin und Historikerin Denise Schmid in ihrer Biografie über die bekannte «Clownerin», wie sich Gardi Hutter selbst bezeichnet.
Den eigenen Weg finden
Das Buch «Trotz allem» ist ein spannendes Dokument einer Jugend im St. Galler Rheintal der 1950er-Jahre. Die Autorin
zeigt, wie viel Kraft und Hartnäckigkeit erforderlich waren, um im einengenden katholischen Milieu als Frau einen eigenen
Weg zu entwickeln. Es beschreibt aber auch die Geschichte einer Frau auf der Suche nach ihrer Berufung. Trotz aller gesellschaftlichen Konventionen und Einschränkungen geht Gardi Hutter ihren Weg – konsequent, rebellisch,
aber auch mit einer grossen Prise Humor.
Text: Stephan Sigg