Ein neuer Velohörweg entlang der österreichisch-schweizerischen Grenze am Rhein erzählt die Geschichten geflüchteter Menschen während des Zweiten Weltkrieges nach. Er soll aber auch auf die aktuelle Flüchtlingspolitik aufmerksam machen.
«Ich schleiche leise durch das Dickicht. Das Flussufer wird kontrolliert, der Trampelpfad verrät, dass die Soldaten, die die Grenze bewachen, diesen Weg oft passieren. Ich warte eine Weile, wage mich bis zum Fluss, kehre aber schnell wieder zurück.» So beginnt die Geschichte von Bohumil Pavel Snižek, dem es am 26. August 1941 gelingt, bei Koblach die Grenze zwischen Österreich und der Schweiz zu überqueren. Zwei Wochen zuvor war der 27-jährige Tscheche in seiner Heimat aufgebrochen, um aus dem Machtbereich der Nazis zu fliehen. Erzählt wird sein Schicksal an der 34. Station des neuen Velowegs «Über die Grenze». An 52 symbolischen Grenzsteinen entlang der Veloroute Nr.1 können sich Velofahrerinnen und Velofahrer zwischen Lochau am Bodensee, durchs Rheintal bis in die Silvretta per QR-Code und in Form eines Hörstücks auf die Geschichte des jeweiligen Ortes einlassen.
Absperrband und Polizeihelikopter
Die Idee für das Projekt hatte Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems vor zwei Jahren während des Lockdowns. «Geschlossene Grenzen, rot-weisse Absperrbänder entlang des Rheins und Helikopter, die am Himmel kreisten. Das alles führte zu einer bedrohlichen Stimmung», sagt er. «Die Bedeutung einer Grenze rückte dadurch ziemlich stark ins Bewusstsein der Bevölkerung und verunsicherte viele.» Zugleich habe die Corona-Pandemie dazu geführt, dass viele Menschen zu Fuss oder mit dem Velo in der Natur unterwegs waren. «Das Velo ist das beste Medium, um sich aufmerksam auf die Landschaft einlassen zu können und zugleich eine grössere Distanz zurücklegen zu können», sagt er.


Stetiges Mahnmal
Die Fluchtgeschichten entlang der Veloroute beinhalten sowohl eine historische wie auch eine aktuelle Dimension. Einerseits stehen sie repräsentativ für alle jene Personen, die während des Zweiten Weltkrieges mit dem Thema Flucht zu tun hatten. Dazu gehören nebst den jüdischen Flüchtlingen etwa Zwangsarbeiterinnen und ‑arbeiter, Deserteure, Widerständlerinnen und Widerständler, Homosexuelle, zahlreiche Helferinnen und Helfer sowie auch die Behörden und die Polizei. Andererseits halten sie im Bewusstsein, wie viele Menschen aktuell Woche für Woche beim Versuch ums Leben kommen, die Aussen-grenzen Europas zu überqueren. «Umso dreister ist es, wenn die Politik Flüchtlinge gegeneinander ausspielt und Menschen aus der Ukraine beispielsweise jenen aus Syrien oder Afghanistan gegenüberstellt», sagt Hanno Loewy.
Fluchterfahrung heute
Seit vielen Jahren setzt sich das Jüdische Museum für Flüchtlinge in der Gegenwart ein. Wie wichtig es sei, Solidarität mit Flüchtlingen zu zeigen, sei gerade auch in der Zivilgesellschaft in Vorarlberg stark verankert. «Das liegt vor allem daran, dass es sich um eine Grenzregion handelt und dieses Thema daher präsent ist», sagt er. «Zudem leben unter uns auch heute viele Menschen mit Fluchterfahrungen wie etwa all jene, die vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien oder Tschetschenien geflüchtet sind. Das Thema ist nicht einfach mit dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen.»
Sich auf Gegensatz einlassen
Nachdenken, den Gegensatz zwischen der Idylle der Natur und der Geschichte auf sich wirken lassen sowie Empathie und Solidarität mit Flüchtlingen entwickeln: Das möchte Hanno Loewy mit dem Velohörweg erreichen. Für das Medium des Hörens statt etwa für Bilder oder Tafeln hat er sich entschieden, weil Hören das direkteste Medium sei. Er sagt: «Bei einem Bild gibt es immer einen Rahmen. Aber wer hört, der spürt die Gegenwart eines Sprechenden, eines Flüchtlings, fast so, als stünde man vor ihm. Das ist unmittelbarer als jede andere Wahrnehmung.»
Text: Nina Rudnicki
Bilder: zVg.
Veröffentlichung: 8. August 2022