Eine Zeitreise mitten im Alltag

Was passiert, wenn wir schwei­gend essen und uns jemand Texte vorliest? Auf dieses Expe­ri­ment mit Elke Larcher von der Stifts­bi­blio­thek können sich Inter­es­sier­te ab sofort einlassen.

Einfach nur zuhö­ren tut gut. Elke Larcher, Leite­rin des Muse­ums­be­triebs Stifts­be­zirk St.Gallen, liest Texte vor, die von der Zeit handeln. Ansons­ten ist es an diesem Mittag ruhig im Innen­hof des Domzen­trums neben der Kathe­dra­le. Keine der Zuhö­re­rin­nen und Zuhö­rer redet. Sollen sie auch nicht, sondern sich ausschliess­lich auf das Mittag­essen und eben die Texte konzen­trie­ren. Als «Nahrung für Körper und Geist» bezeich­net Elke Larcher diese Veran­stal­tungs­rei­he, die an die Art und Weise ange­lehnt ist, wie in bene­dik­t­i­ni­schen Klös­tern geges­sen wird. Alle Inter­es­sier­ten können sich einmal im Monat von Mai bis Septem­ber in St. Gallen auf dieses Expe­ri­ment einlas­sen. Nebst der Zeit wird Elke Larcher in den Texten ­weite­re Themen aufgreifen.

Raum­schif­fe flie­gen schneller

«Früher war Zeit mystisch. Die Natur bestimm­te sie, etwa durch die Jahres­zei­ten, das Morgen­grau­en, den Sonnen­auf­gang, das Hahn­krä­hen oder den Sonnen­un­ter­gang.» Diese Aussa­ge eines Textes bleibt an diesem Mittag in den Gedan­ken hängen. Auch, dass der deut­sche Dich­ter Johann Wolf­gang von Goethe bereits 1824, also vor genau 200 Jahren, eine zuneh­men­de Alltags­hek­tik bei seinen Mitmen­schen fest­stell­te. Durch einen ande­ren Text erfährt man, dass gros­se Städ­te einst eige­ne Uhrzei­ten hatten und diese mit benach­bar­ten Städ­ten nicht unbe­dingt über­ein­stimm­ten. Und eine «Zeit­um­stel­lung» gibt es nicht. Viel eher müss­te die rich­ti­ge Bezeich­nung «Uhrum­stel­lung» lauten. Aber ob das nun der ­Autor und Geist­li­che Anselm Grün sagte, der ­Theo­lo­ge Albert Schweit­zer oder doch jemand ganz ande­res, bleibt nicht im Gedächt­nis haften. Dafür aber, dass in den 2000er-Jahren ein Zusam­men­schnitt der Fern­seh­se­rie Raum­pa­trouil­le ­Orion von 1966 ins Kino kam. Selbst einge­fleisch­ten Fans fiel nicht auf, dass die Raum­schif­fe auf einmal mit einer mehr als doppelt so schnel­len Geschwin­dig­keit als im Origi­nal über den Bild­schirm flogen.

Rück­kehr in die Realität

Alles um uns herum wird schnel­ler. An diesem Mittag im Domzen­trum fühlt es sich aller­dings an, als ob die Zeit ein klein biss­chen stehen­bleibt. Die Wahr­neh­mung verän­dert sich. Das Pfei­fen der Vögel erscheint lauter. Und der Stangensellerie-Apfelsalat knackt beim Kauen beson­ders laut. Und wohin soll man über­haupt schau­en, wenn man doch gar nicht mitein­an­der redet? Beim Dessert wird das Schwei­ge­ge­bot aufge­ho­ben. Die Teil­neh­men­den tauschen sich aus. «Mir hat es gefal­len, bewusst nur etwas zu machen», sagt jemand. Eine ande­re Person sagt: «Ich fand es ange­nehm und span­nend, was ich so nicht erwar­tet hätte.» Wie eine klei­ne Zeit­rei­se durch die Lite­ra­tur hat es eine drit­te Person empfun­den. Dann ruft der Alltag mit seinen Termi­nen. Ein kurzer Abschied, dann kehren alle in ihre Reali­tät zurück.

Nach­ge­fragt mit Elke Larcher

Elke Larcher, woher kommt die Idee, in ­St.Gallen ­Bene­dik­t­i­ni­sche Mittag­essen anzubieten?

Ich habe solche Mittag­essen schon früher orga­ni­siert, immer im priva­ten Rahmen. Die Rück­mel­dun­gen haben mich stets bekräf­tigt in meiner Idee, einen klei­nen Teil der bene­dik­t­i­ni­schen Lebens­wei­se nach aussen zu tragen. Inspi­riert hier­zu wurde ich durch meine lang­jäh­ri­ge ­Tätig­keit als Muse­ums­lei­te­rin bis 2022 im Bene­dik­ti­ne­rin­nen­klos­ter St. Johann in Müst­a­ir. ­Damals war es mir wich­tig, die Regel des hl. Bene­dikt selbst zu erle­ben. Ich wohn­te eine Woche mit den Nonnen von Müst­a­ir und liess mich ganz auf das bene­dik­t­i­ni­sche «ora et labo­ra et lege» ein. Aktu­ell zeigt die Stifts­bi­blio­thek die Ausstel­lung «Geseg­ne­te Spei­sen – Vom Essen und Trin­ken im Mittel­al­ter». Für mich war das die Gele­gen­heit, die Bene­dik­t­i­ni­schen Essen nach St.Gallen, ins ehema­li­ge Benediktiner­kloster, zu bringen.

Im Klos­ter ist der Tages­ab­lauf vorge­ge­ben. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Ich habe wider Erwar­ten eine gros­se Frei­heit gespürt. Wir tref­fen täglich bis zu 20 000 Entschei­dun­gen. Im Klos­ter ist vieles schon vorge­ge­ben: Was ich anzie­he oder was ich koche. Wenn die Glocke zum Gebet läutet, dann lassen die Nonnen ihre Arbeit liegen und eilen zum Gebet. Es gibt nicht noch das eine oder das ande­re, das ich schnell erle­di­ge. Gemäss der Bene­dikts­re­gel (RB) 43.3 «soll dem Gottes­dienst nichts vorge­zo­gen werden». Diese klare Tages­struk­tur wirkt befrei­end in einer Gesell­schaft, in der wir stets erreich­bar sind. Eine gege­be­ne Tages­ordnung schenkt Ruhe im Alltag.

Sie beschrei­ben die Bene­dik­t­i­ni­schen ­Mittag­essen als Nahrung für Geist und ­Körper. Was heisst das genau?

Am Mittag haben wir heut­zu­ta­ge gene­rell eher wenig Zeit. Einmal bewusst zu essen, ohne dabei schon auf dem Smart­phone die Termi­ne vom Nach­mit­tag durch­zu­ge­hen, tut einem gut und ist gesund. Nahrung für den Geist bieten die ausge­wähl­ten Texte. Die Lesung soll die Zuhö­ren­den erbau­en (vgl. RB 38.12). Anders als im Klos­ter lese ich nicht nur Texte spiri­tu­el­ler Natur, sondern auch Gedich­te und sach­li­che Texte. Ich teile auch meine Gedan­ken zu den Textausschnitten.

Was sollen die Teil­nehmenden mitnehmen?

Ich hoffe, dass die Bene­dik­t­i­ni­schen Essen berei­chernd wirken. Das Schöns­te für mich wäre, wenn sie in dieser Mittags­pau­se nicht nur Mund und Ohren öffnen, sondern auch die Herzen, so wie es im Prolog der Bene­dikts­re­gel steht: «Neige das Ohr deines Herzens» (RB Prolog 1). Wenn mir das gelingt, dann habe ich mehr erreicht, als ich mir je erhofft habe.

Infos auf www.stiftsbezirk.ch/veranstaltungen

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Michel Canonica

Veröf­fent­li­chung: 26. April 2024

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