Wegweiser, kein Rezeptbuch

Wie beein­flusst der christ­li­che Glau­be die Poli­tik? Und ist Wohl­stand für alle ohne Wachs­tum möglich? Über diese und weite­re Fragen disku­tie­ren im Septem­ber unter ande­rem ­Ostschwei­zer Bundes­po­li­ti­ke­rin­nen und ‑poli­ti­ker: An einem Podi­um in Nieder­uz­wil sowie anläss­lich des 125-Jahr-Jubiläums der Christ­li­chen Sozi­al­be­we­gung KAB SG in St. Gallen.

«Um das Jahr 1899 herum war gesell­schaft­lich und poli­tisch eini­ges in Bewe­gung», sagt Norbert Acker­mann, Präsi­dent der Christ­li­chen Sozi­al­be­we­gung St. Gallen KAB SG. Das Kürzel KAB steht für Katho­li­sche Arbeiterinnen- und Arbei­ter­be­we­gung. Norbert Acker­mann erzählt, wie er anläss­lich des dies­jäh­ri­gen 125-Jahr-Jubiläums rund um die Grün­dung der KAB SG recher­chier­te. «Unge­fähr zur selben Zeit wurden die Handels­aka­de­mie St. Gallen (heute Univer­si­tät), der St. Galler Anwalts­ver­band sowie das Haus der Roten (Volks­haus) gegrün­det», sagt er. «Die Aufbruch­stim­mung jener Zeit wollen wir in unse­rem Jubi­lä­ums­jahr spür­bar machen. Wir wollen nicht nur zurück­bli­cken, sondern zeigen, wie wich­tig christ­li­che Sozi­al­ethik heute ist.»

Was Wohl­stand ausmacht

Am Jubi­lä­um­fest am 7. Septem­ber 2024 im Pfalz­kel­ler in St. Gallen steht daher die gesell­schafts­po­li­ti­sche Frage im Mittel­punkt, ob Wohl­stand für alle ohne Wachs­tum möglich ist. Einge­la­den sind alle Inter­es­sier­ten. Nebst weite­ren Programm­punk­ten wie dem Refe­rat des Schwei­zer Ökonoms Mathi­as Bins­wan­ger werden die St. Galler PDF-Nationalrätin Susan­ne Vincenz-Stauffacher und Grünen-Nationalrätin Fran­zis­ka Ryser sowie der Sozi­al­ethi­ker Thomas Wallimann-Sasaki darüber disku­tie­ren, was «gutes Leben für alle» bedeutet. 

Als Vorbe­rei­tung auf das Podi­um habe sie für sich den Begriff der «Eigen­ver­ant­wor­tung plus» formu­liert, sagt Susan­ne Vincenz-Stauffacher auf Anfra­ge. Sie stehe dafür ein, dass jeder Mensch in erster Linie für sich selber die Verant­wor­tung zu über­neh­men habe. Nun hätten wir aber nicht alle die glei­chen Chan­cen, Kompe­ten­zen und Möglich­kei­ten. Daraus leite sie die zusätz­li­che Verant­wor­tung der Stär­ke­ren ab, also das «Plus», für Schwä­che­re einzustehen.

Eige­nes Handeln reflektieren

Die St. Galler Grünen-Nationalrätin Fran­zis­ka Ryser nennt in Hinblick auf das Podi­um unter ande­rem den Punkt der Soli­da­ri­tät mit Mitmen­schen auf der ganzen Welt. Dies sei für sie eines der Leit­prin­zi­pi­en. «Soli­da­ri­tät kann als Mess­lat­te heran­ge­zo­gen werden, um das eige­ne Handeln zu reflek­tie­ren und um poli­ti­sche Entschei­dun­gen zu beur­tei­len», sagt sie. Es gelte, soli­da­risch zu sein mit Menschen, die vor Krieg und Leid flie­hen muss­ten, oder mit Menschen, die im globa­len Süden die Folgen unse­res Handelns tragen. «Wenn wir soli­da­risch handeln, dann schaf­fen wir ein gerech­te­res und besse­res Leben für alle.»

Vom Verein zum Netzwerk

Die christ­li­che Sozi­al­leh­re basiert auf den Prin­zi­pen Gemein­wohl, Soli­da­ri­tät und Subsi­dia­ri­tät (Hilfe zur Selbst­hil­fe) sowie Nach­hal­tig­keit. Über allem aber steht die Perso­na­li­tät, also die Würde des Menschen. «Auf dieser Grund­la­ge möch­ten wir poli­ti­sches, gesell­schaft­li­ches und kirch­li­ches Leben mitge­stal­ten. Wobei es sich bei der christ­li­chen Sozi­al­leh­re um einen Kompass und nicht um ein Rezept­buch handelt», sagt Norbert Acker­mann und fügt an, dass die Kirche gesell­schafts­po­li­tisch viel zu sagen habe, aber neue, deut­li­che und auch laute Formen dafür finden müsse. Die KAB SG orga­ni­siert daher regel­mäs­sig Veran­stal­tun­gen wie den öffent­li­chen Ethik-Talk am Tag nach Ascher­mitt­woch sowie das regio­na­le Dialog­for­mat «Ethik bei Wein & Brot». Zudem gilt es laut Acker­mann, ein über­re­gio­na­les Netz­werk aufzu­bau­en, in das sich Inter­es­sier­te und Sympa­thi­san­tin­nen und Sympa­thi­san­ten einbrin­gen können. «Solche neuen Formen braucht wohl jede Orga­ni­sa­ti­on, die heute über­le­ben will. Es wäre schwie­ri­ger, als klas­si­scher Verein Nach­wuchs zu finden», sagt Norbert Acker­mann. Aktu­ell hat die KAB SG 150 Mitglie­der. Das Jubi­lä­um ist ein wich­ti­ger Schritt auf diesem neuen Weg. «Wir wollen nicht in einer Blase leben, sondern nach draus­sen treten. Unse­re Werte wollen wir in die Öffent­lich­keit tragen und Orien­tie­rung bieten.»

KAB im Wandel: 1899 wurden der Katho­li­sche Arbei­ter­ver­ein St. Gallen-Dom und kurz danach der Katho­li­sche Arbei­te­rin­nen­ver­ein gegrün­det. Die Ur-Sektion entwi­ckel­te sich zur Christ­li­chen Sozi­al­be­we­gung KAB SG und zur KAB Schweiz. Ziel der sozi­al­re­for­me­ri­schen Bewe­gung war die Linde­rung sozia­ler Not zu einer Zeit ohne jedes sozi­al­staat­li­che Auffang­netz sowie Behei­ma­tung der Arbeiterinnen- und Arbei­ter­schaft im kirchen­na­hen Umfeld samt poli­ti­scher und reli­giö­ser Bildung. Heute versteht sich die KAB SG als christ­lich veran­ker­tes, offe­nes Netz­werk von Menschen in unter­schied­li­chen sozia­len und wirt­schaft­li­chen Verhältnissen.

→ Alle Infos zum Jubi­lä­um am 7. Septem­ber 2024 ab 8.45 Uhr im Pfalz­kel­ler St. Gallen auf www.kab-sg.ch

Wo sich Glau­be in Poli­tik spiegelt

«Christ­li­cher Glau­be ist auch immer poli­tisch», sagt Paul Gähwiler-Wick, Mitglied im katho­li­schen Kolle­gi­um – dem Parla­ment des Katho­li­schen Konfes­si­ons­teils des Kantons St. Gallen. Am 3. Septem­ber 2024 laden die vier christ­li­chen Kirchen der Regi­on Uzwil daher zu einem Podi­ums­ge­spräch ins evan­ge­li­sche Kirch­ge­mein­de­haus in Nieder­uz­wil ein. «Die katho­li­sche Kirche wird von vielen Menschen bei uns als welt­fremd wahr­ge­nom­men. Da wollen wir mit solchen Anläs­sen Gegen­steu­er geben», sagt Gähwi­ler, der das Podi­um mode­riert. An diesem werden unter ande­rem der St. Galler Mitte-Ständerat Bene­dikt Würth, der Basler SP-Nationalratspräsident Eric Nuss­bau­mer sowie Simo­ne Curau-Aepli, Präsi­den­tin des Schwei­ze­ri­schen Katholischen Frauenbundes, die Frage «Christ­li­che Poli­tik – gibt es das?» disku­tie­ren. Das Pfar­rei­fo­rum hat im Vorfeld nachgefragt:

Bene­dikt Würth: Christ­li­che Poli­tik im Sinne von verbind­li­chen Antwor­ten auf die poli­ti­schen Alltags­the­men gibt es nicht. Das wäre eine unmög­li­che Ziel­set­zung. Aber gute Poli­tik basiert auf einem Werte­fun­da­ment. Und ich glau­be, dass christ­li­che Werte zentral sind für ein gutes Zusam­men­le­ben. Ausgangs­punkt ist für mich insbe­son­de­re die Menschen­wür­de, wie sie auch in der Allge­mei­nen Erklä­rung der Menschen­rech­te zum Ausdruck kommt. 

Eric Nuss­bau­mer: Nein, es gibt keine christ­li­che Poli­tik. Es gibt aber Chris­tin­nen und Chris­ten, die Poli­tik machen, und ich hoffe, dass deren Glau­be und Welt­an­schau­ung auch in den poli­ti­schen Entschei­den erkenn­bar werden.

Simo­ne Curau-Aepli: Poli­tisch tätig zu sein, heisst für mich, mich mit dem zu befas­sen, was «ein gutes Leben für alle» ausmacht. Wir denken und handeln also immer poli­tisch, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. «Das Priva­te ist poli­tisch» ist für mich zudem ein wich­ti­ger Grund­satz der femi­nis­ti­schen Bewe­gung, der einen umfas­sen­den Blick auf Poli­tik meint. Folgen­de zwei Begrif­fe sind mir auch wich­tig: Wirt­schaft und Care. Sie haben hoch­po­li­ti­sche Auswir­kun­gen, weil es dabei expli­zit um die Befrie­di­gung von Bedürf­nis­sen der Menschen geht. Im Gegen­satz zur Care- bzw. Sorge­ar­beit steht bei der Wirt­schaft aber «das gute Leben für alle» leider nicht immer im Zentrum, sondern «der mone­tä­re Erfolg für wenige».

Podi­ums­ge­spräch, 3. Sept. 2024, 19–21 Uhr, Evang. Kirch­gemeindehaus, Kirch­stras­se 1, Niederuzwil

Text: Nina Rudni­cki; Bilder: ZVg.; Veröf­fent­li­chung: 2. Septem­ber 2024

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