Der St. Galler Lukas Gemeinder (27) arbeitete bisher im Kaufmännischen Bereich und suchte einen Beruf, der ihn mehr erfüllt. Jetzt studiert er an der Theologischen Hochschule Chur. Wie er haben viele der Studierenden vor dem Theologiestudium in anderen Berufen gearbeitet.
«Ich engagiere mich schon seit längerem freiwillig in der Kirche», erzählt Lukas Gemeinder (27) aus St. Gallen, «dabei habe ich immer mehr gespürt, dass mich diese Arbeit mehr erfüllt als meine berufliche Tätigkeit im Kaufmännischen. Zudem habe ich in den letzten Jahren wieder stärker zum Glauben zurückgefunden und mich schliesslich für das Theologiestudium entschieden mit dem kirchlichen Dienst als Ziel.» Das Studium gefalle ihm: «Die unterschiedlichen Fächer wie etwa Musik, Liturgie-Wissenschaft, Kirchengeschichte und Sprachen machen das Studium sehr spannend und vielseitig. Dank des breiten Spektrums kann man persönliche Stärken und Schwächen in einzelnen Fächern gut kompensieren. Auch wenn es manchmal sehr theoretisch ist, wird immer auch ein praktischer Bezug hergestellt.»
Lukas Gemeinder (rechts) in der Kaffee-Pause mit anderen Studierenden aus dem Bistum St.Gallen.
Umfeld reagiert erstaunt
Einer der Studierenden aus dem Bistum St. Gallen ist auch Simon Sigg (32), Religionspädagoge und Jugendseelsorger in Gossau. Er absolviert ein berufsbegleitendes Studium im bischöflichen Studienprogramm. «Mein Umfeld reagiert manchmal ein bisschen erstaunt, dass ich als junger Mensch Theologie studiere und ich spüre auch eine gewisse Spannung in Bezug auf die Kirche», sagt er. «Auch wenn mich die Skandale oder die vielen Kirchenaustritte traurig und nachdenklich stimmen, denke ich, dass die Kirche eine Zukunft hat.» Ihn motiviere die Arbeit mit Jugendlichen. «Ich spüre eine Offenheit gegenüber Religion und auch ein Bedürfnis nach Spiritualität. Ich bin überzeugt von der frohen Botschaft der Kirche und möchte diese weitertragen.» Mit Anfang 30 verspürte er die Motivation, sich persönlich vermehrt mit existenziellen und philosophischen Fragen auseinanderzusetzen und den Glauben zu hinterfragen und zu begründen. «Ich arbeite schon seit einigen Jahren in der Pfarreiseelsorge und wollte mein Wissen erweitern und vertiefen.» Für Chur hat er sich entschieden, weil die Hochschule dort klein und familiär sei. «Man kennt sich persönlich, isst und diskutiert zusammen am Mittagstisch. Ich habe bereits Religionspädagogik studiert und zwar in Luzern. Ich wollte noch eine andere Hochschule kennen lernen und entschied mich auch deshalb für Chur.»
Viele der Studierenden an der Theologischen Hochschule Chur kommen aus den Kantonen Graubünden, St. Gallen und Zürich.
50 bis 60 Studierende
«Das grosse Plus der Theologischen Hochschule Chur ist die Nähe von Hochschule und Seminar», hält René Schaberger, Rektoratsassistent an der Hochschule, fest. «Es wird nicht nur Theologie gelehrt, sondern wir ermöglichen den Studierenden auch eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung.» Auch bezeichnet René Schaberger die gute Betreuung der Studierenden als einen Mehrwert. «Wir können auch individuelle Studienprogramme anbieten für Studierende, die berufstätig sind.» Etwa fünfzig bis sechzig Personen studieren an der Theologischen Hochschule Chur. Diese Zahl sei seit Jahren stabil. «Heute beginnen die wenigsten direkt nach der Matura mit dem Theologiestudium. Die meisten haben schon eine Berufsausbildung absolviert und zum Teil auch mehrere Jahre im Beruf gearbeitet.» Viele der Studierenden kommen laut René Schaberger aus den Kantonen Graubünden, St. Gallen und Zürich. Es gebe auch vereinzelte Gasthörer im Rentenalter, die die eine oder andere Vorlesung besuchen.
Text: Katja Hongler
Bild: zVg.
Veröffentlicht: 31.01.2023
Online-Infoveranstaltungen
Interessierte erhalten bei den Online-Informationsveranstaltungen am 13. und 21. Februar, jeweils 19.30 Uhr, kompakt die wichtigsten Informationen zum Studium der Theologie an der TH Chur sowie einen Einblick in die Institution. Es werden auch Fragen beantwortet.
Wieso uns Beziehungsgeschichten anderer Paare gut tun, erzählen Madeleine Winterhalter-Häuptle und Matthias Koller Filliger von der Fachstelle Partnerschaft-Ehe-Familie (PEF) des Bistums St. Gallen im Interview. Kürzlich haben sie das Projekt paargeschichten.ch lanciert.
Die Plattform paargeschichten.ch sammelt Geschichten unter anderem von Liebesanfängen, Trennungen und Abschieden, vom Heiraten und Alleine sein: Welches ist Ihre Lieblingsgeschichte?
Matthias Koller Filliger: Persönlich mag ich die Geschichten gerne, die von Liebesanfängen handeln. Oft erzählen sie vom Kribbeln am Anfang einer Beziehung. Gerade auch in der Paarberatung sind Liebesanfänge ein wichtiges Element. Wenn man beispielsweise in einer Krise der Frage nachgeht, wie alles begonnen hat und warum sich das Paar einmal füreinander entschieden hat.
Madeleine Winterhalter-Häuptle: Fragt man Personen nach ihren Liebesanfängen, erinnern sich diese zunächst oft nicht an ein bestimmtes Ereignis, sondern an viele verschiedene Bilder. Die verschiedenen Bilder ergeben dann zusammen einen Liebesanfang. Das Spannende dabei ist, dass zwei Personen, die von ihrem Beziehungsanfang erzählen, oft ganz unterschiedliche Erinnerungen und Bilder haben. Das ist es, was mich fasziniert.
Mittlerweile sind rund 70 Geschichten zusammengekommen. Wer erzählt Ihnen diese Geschichten und wieso?
Matthias Koller Filliger: Nehmen wir die Geschichte mit dem Velokurier. In dieser betreten zwei Frauen einen Velokurierladen, um ihre Velos zu pumpen. Sie bleiben den ganzen Nachmittag dort. Einer der Velokuriere und eine der Frauen küssen sich noch am selben Abend. Heute sind sie seit 22 Jahren verheiratet. Diese Geschichte erzählte mir ein Arbeitskollege, als wir zusammen im Zug an eine Tagung fuhren. Weil paargeschichten.ch gerade lanciert worden war, hatte ich ihn spontan gefragt, wie er denn eigentlich seine Frau kennengelernt hatte. Am nächsten Tag fragte ich ihn, ob ich ihre eindrückliche Geschichte aufschreiben und veröffentlichen dürfe.
Madeleine Winterhalter-Häuptle: Wenn wir an einer Tagung oder einem Anlass mit den bereits gesammelten Geschichten arbeiten, dann wirkt das oft wie ein Katalysator. Viele Personen erinnern sich dann an ihre eigenen Geschichten und erzählen diese. Das ist es auch, was die Stärke dieses Projektes ausmacht: Die Geschichten sind oft so alltäglich und gewöhnlich und doch zeigen sie einem sofort auf, was eine Beziehung ausmacht und was deren Essenz ist. Eine meiner liebsten Geschichten ist «Die Bettflasche». Jeden Abend bringt Floras Partner ihr eine Bettflasche ins Bett. Das wird zu einem gemeinsamen Ritual, das dabei hilft, die Enttäuschung zu überwinden, dass Flora gerne früh und ihr Partner stets spät ins Bett geht. Nur weil ich aber diese Geschichte mag, heisst das nicht, dass sie auch anderen gefallen muss und dass sie auf die Geschichte genauso positiv reagieren wie ich.
Als Projektleiter von paargeschichten.ch wird Matthias Koller Filliger auch selbst zum Autor und zeichnet auf, was andere ihm erzählen.
Wie geht man damit um, wenn jemandem eine Geschichte nicht gefällt, die einem selbst viel bedeutet?
Madeleine Winterhalter-Häuptle: Es ist gerade das Ziel von paargeschichten.ch nicht zu bewerten oder zu interpretieren. Es ist zentral, Menschen nach ihren Geschichten zu fragen und sie erzählen zu lassen. Die Geschichten können verschiedenes auslösen: Faszination und Befremden, Fragen und Wiedererkennen. Sie handeln von vielen Höhepunkten, aber auch von schwierigen Momenten wie Trennung und Abschied. Diese Breite an Geschichten ist ein Schatz, der aufzeigt, dass Paarbeziehungen ganz unterschiedlich ablaufen und gestaltet werden können.
Matthias Koller Filliger: Und gerade deshalb ist es ein Projekt, in dessen Mittelpunkt die Wertschätzung steht. Etwa die Wertschätzung dessen, was die gemeinsame Geschichte eines Paares ausmacht.
Die Geschichten können nicht nur auf paargeschichten.ch gelesen werden, sondern sind auch im Kulturmagazin Ernst erschienen. Wie ist es zu dieser Zusammenarbeit gekommen?
Matthias Koller Filliger: Die Idee zum Projekt Paargeschichten kam 2020 vom St. Galler Journalisten und dramaturgischen Berater Mark Riklin. Durch ihn ist auch die Zusammenarbeit mit dem Kulturmagazin ERNST und dem Burgdorfer Biografischen Institut entstanden.
Madeleine Winterhalter-Häuptle: Gerade durch diese Zusammenarbeit mit ausserkirchlichen Partnern ist das Projekt unglaublich vielfältig und damit anschlussfähig für verschiedene Menschen geworden. Die Redaktion vom Magazin ERNST zum Beispiel machte ganz verschiedene Beiträge, auf die wir als kirchliche Arbeitsgruppe nicht gekommen wären, wie beispielsweise eine Reportage mit einem Kellner, der über zweihundert Hochzeiten begleitet hat oder ein Gespräch mit einer Scheidungsanwältin. Erwähnen möchte ich auch die Reportage über eine Seelsorgerin im Trauercafé in Gossau, die dort mit den Paargeschichten gearbeitet hat und auf diese Weise viele weitere berührende Erzählungen der Teilnehmenden über ihre Beziehungen zu hören bekam.
Stichwort Trauercafé: Ist das ein Beispiel dafür, wie die Paargeschichten in der Praxis zum Einsatz kommen sollen?
Madeleine Winterhalter-Häuptle: Genau. Mit den Paargeschichten kann man in bestehenden Gruppen arbeiten, einen Anlass zum Thema Paargeschichten entwickeln oder diese als Türöffner in die Einzelseelsorge einfliessen lassen. Wie bereits erwähnt, löst es bei allen Personen eigene Emotionen und Erinnerungen aus, wenn sie eine der Paargeschichten hören. Wir betonen dabei immer, wie wichtig es ist, nicht über andere Geschichten zu werten und zu urteilen. Nicht alle Geschichten sind eingängig oder romantisch. Es gibt Geschichten, die von Dreiecksbeziehungen erzählen oder von der Unfähigkeit, sich auf eine Partnerschaft einzulassen.
Matthias Koller Filliger: Kirche und Pastoral betreten «Heiligen Boden», wenn sie mit Paaren und Familien arbeiten: So heisst ein neuer Leitfaden für die Seelsorge, der nach der letzten Bischofssynode von den Bistümern Basel und St. Gallen zur Ehe- und Familienpastoral herausgegeben wurde. Dieser betont, wie wichtig es ist, sich vorbehaltlos auf die heutzutage vielfältigen Paar- und Familienrealitäten einzulassen. Genau diesem seelsorgerischen Ansatz entspricht auch das Projekt paargeschichten.ch.
Madeleine Winterhalter-Häuptle und Matthias Koller Filliger suchten nach einem Projekt, das sich weiterentwickeln lässt und wurde mit paargeschichten.ch fündig.
Von wegen vielfältigen Paar- und Familienrealitäten: Welche Rolle spielt der interkulturelle Aspekt? Was können wir etwa von binationalen Paaren oder von Paaren aus einer anderen Kultur lernen?
Madeleine Winterhalter-Häuptle: Das Wichtigste ist wohl, zu verstehen, dass wir nicht in einer Blase leben. So wie wir und vielleicht unser Bekanntenkreis leben, das muss nicht zwangsläufig auch für andere so stimmen. Das soll auch in den Paargeschichten widergespiegelt werden. Gerade planen wir eine Zusammenarbeit mit dem St. Galler Verein Aida, der sich im Bereich Bildung und Begegnung fremdsprachiger Frauen engagiert. Die Beziehungsgeschichten dieser Frauen werden in paargeschichten.ch aufgenommen und bereichern so das Projekt.
Das Projekt paargeschichten.ch wird von IG PEF-Pastoral Deutschschweiz verantwortet und von der Inländischen Mission sowie den röm.-kath. Kantonalkirchen Aargau, Luzern, Deutschfreiburg und Zürich und den Bistümern Sitten (Oberwallis) und St. Gallen finanziert. Die Webseite paargeschichten.ch wird fortlaufend mit neuen Geschichten erweitert. Die Fachstelle Partnerschaft-Ehe-Familie (PEF) des Bistums St. Gallen ist Mitglied bei der IG PEF und setzt das Projekt Paargeschichten im Bistum St. Gallen um.
Was hält Paare zusammen? Wieso trennen sie sich? Und wie schafft man es, dass Alltägliches seinen Zauber behält? Das Projekt paargeschichten.ch sammelt Erzählungen von Paaren.
Meine Momo
«Wenn Momo zuhörte, blühte die Fantasie der Erzählenden auf wie eine Frühlingswiese. Die Gedanken, die bisher zu Fuss gegangen sind, bekamen plötzlich Flügel», heisst es im gleichnamigen Buch von Michael Ende. Ich habe das Privileg, Momo bei mir zu Hause zu haben: Sie schlummert zwischen zwei Buchdeckeln, bis ich sie zum Leben erwecke; oder sitzt mir am Küchentisch gegenüber. Meine Momo ist meine Frau. Wenn ich ihr eine vage Idee erzähle, entwickelt sich diese wie von selbst weiter, allein durch ihre Art des Zuhörens. Sie ergänzt einen Gedanken, trifft mit einer Frage ins Schwarze oder hört einfach zu, mit den Augen.
Dort, in Rapperswil
Zwanzig Jahre, nachdem er sich von mir getrennt hat, ruft er an – nach zwanzig Jahren totaler Funkstille ruft er einfach unvermittelt an. Er sagt, dass er keine Angst vor der Angst mehr habe und dass er daher diesen Anruf gewagt habe. Ich falle, wie man sagt, aus allen Wolken, freue mich sehr. Und wir machen ein Treffen ab. In Rapperswil. Dort gehen wir dann zusammen über den Seesteg. Er erzählt mir, dass er einen Herzinfarkt hatte. Und dass dieser ihn gelehrt habe, mehr auf sein Herz zu hören. Er wolle lernen zu lieben. Nach zweihundert Metern auf dem Seesteg sind wir wieder total verliebt.
Leidenschaft statt Partnerschaft
Geniesse ich Spargeln, tunke ich das Köpfchen in die Sauce, sauge es aus – den Rest werfe ich weg. Es könnte bitter sein, holzig oder schlecht geschält. Und genauso halte ich es mit der Paarbeziehung: Endlos spiele ich den Akt des Sich-Verliebens, endlos beschäftige ich mich mit Ouvertüren, mit dem ersten Blick, der ersten Berührung, dem ersten Kuss, der ersten Vereinigung. Wird es aber ernst und kommen Paarbeziehungs-Gefühle auf, habe ich Angst, es könnte, wie die Spargeln, bitter werden, holzig. Und ich breche ab. Auf der einen Seite, ja, sehne ich mich so sehr nach Zweisamkeit, auf der anderen Seite gerate ich dermassen in Panik, sie in einer Partnerschaft zu fixieren – zu monogamisieren, alles auf eine Karte zu setzen. Wieso kapituliere ich vor der Paarbeziehung, wo ich doch den Grossteil meines Lebens in genau dieser Form von Beziehung gelebt habe? Oder ist es umgekehrt? Habe ich für mich gemerkt, dass die Paarbeziehung selber die Kapitulation ist? Die Kapitulation vor der Leidenschaft, vor dem ewig Neuen?
Die Bettflasche
In den dreizehn Jahren, in denen ich Flora kenne, gab es vielleicht fünf Abende, an denen ich vor ihr ins Bett gegangen bin. Sie geht früh ins Bett, manchmal schon vor 21 Uhr. Sie liebt ihr Bett. Und wenn sie einmal drin ist, ist sie die Königin. Doch wenn ich spät von der Arbeit komme, Zeit mit ihr verbringen will, ist Flora schon auf dem Rückzug. Dieser allabendliche Moment der Trennung fühlte sich für mich viele Jahre lang wie eine Niederlage an. Auch Flora litt unter meiner Enttäuschung. Bis zu dem Tag, vielleicht vor fünf Jahren, als Flora mich bat, ihr eine Bettflasche zu machen. Ich erhitzte sie – und brachte sie ihr ins Zimmer. Anfangs mochte ich das nicht unbedingt. Doch indem sie mich fragt, ob ich ihr die Bettflasche mache, teilt sie mir mit, habe ich mit der Zeit verstanden, dass sie ins Bett geht. Und seit ich das verstanden habe, tue ich das fast jeden Abend für sie. Es ist zu unserem gemeinsamen Ritual des Zubettgehens geworden. Ich bringe die Wärmeflasche herein und lege mich zu Flora, plaudere mit ihr und lasse den Tag gemeinsam mit ihr ausklingen. In manchen Nächten muss ich ihr manchmal, wenn ich mit der Bettflasche ins Schlafzimmer komme, ihren Kopf freilegen, um sie küssen zu können, so fest ist sie in ihre Decke eingewickelt. In diesen Nächten grummelt sie nur; kein «Gute Nacht», kein Kuss, keine Aufmerksamkeit. Aber ich weiss selbst dann, dass wir zusammen sind. Anspruchslos und wohlig verlasse ich das Schlafzimmer. Wenn mich Flora fragt, ob ich ihr ihre Bettflasche gemacht habe, fragt sie mich: «Teilen wir diesen Abend?» Sie fragt mich auch: «Gefällt es dir, dein Leben mit mir zu verbringen?» Und: «Weisst du, wie froh ich bin, dass du hier bist?» Ja, habe ich, Flora. Ja, das tun wir. Ja, sehr. «Ja, ich weiss.»
Der Besserwisser
Bei jeder Gelegenheit zückte er sein Handy, um zu googeln, ob nun Selma oder er recht hatte. Immer schon hat sie das genervt. Doch dann kam: Sizilien. Sie hatten eine Ferienwohnung in einem kleinen mittelalterlichen Städtchen und sassen auf der Piazza beim Nachtessen, gleich gegenüber einer Kirche. Über der Eingangstür stand in tiefroten Lettern «Chiesa del Purgatorio» – und Willy fragte sie, was wohl «Purgatorio» bedeute. Ohne zu überlegen, sagte sie es ihm: «Fegefeuer!» Wieso sie das nun wieder wisse, sagt er, und: «Wenn du solche Sachen weisst, ist es klar, dass bei dir dafür andere Hirnareale unterentwickelt sind!» Sie wollte etwas entgegnen, konnte aber nicht, es ging nicht mehr, wortlos stand sie auf, warf die Serviette auf den halb leergegessenen Teller mit dem Riso ai Frutti di Mare, ging in die Ferienwohnung zurück, packte ihren Koffer und fuhr zum Flughafen. Zuhause löschte sie seine fünfzehn Anrufe in Abwesenheit und achtzehn SMS. Und blockierte seine Nummer.
Vor dem Velokurierladen
Ein paar Tage nachdem ich von einer langen Pilgerreise nach Santiago zurückkam, stand ich in meinem Velokuriergeschäft, als zwei Frauen hereinkamen. Sie fragten mich, ob sie ihre Veloreifen pumpen könnten. Und so kamen sie ins Gespräch mit mir und den anderen Velokurierfahrerinnen und ‑fahrern, die noch im Laden herumstanden oder am Ende ihrer Schicht etwas zusammen trinken wollten. Wir hatten eine gute Zeit, und als sich die muntere Gesellschaft aufzulösen begann, war es Abend geworden. Meine Geschäftspartner, die eine Frau und ich blieben etwas länger. Als wir die Tür abschlossen, kam er, dieser eine Moment, der mein Leben verändern sollte: Mein Heimweg führte mich in dieselbe Richtung, die auch mein Geschäftspartner einschlug. Doch der Weg der Frau ging in die entgegengesetzte Richtung. Ich stand unentschlossen da. Die Frau auch. Mein Geschäftspartner rief: «Kommst du …?» Ich aber bewegte mich nicht. Bis sie schliesslich zu mir sagte: «Küss mich, aber richtig!» Und so habe ich sie geküsst, an jenem Abend vor 22 Jahren. Heute sind wir Eltern von drei Kindern.
Bischof Markus Büchel hat am 26. November den Kapuziner Kletus Hutter (51) zum Priester geweiht. Der aus Kriessern stammende Ordensmann will ein bodenständiges Priesterbild verkörpern.
Die Kapuzinerkirche in Rapperswil ist vollbesetzt. Auf den Stühlen sitzen nicht nur Weggefährten von Bruder Kletus Hutter, sondern auch viele Menschen, die ihn im Kloster Rapperswil als «Bruder auf Zeit» kennen gelernt haben. Bischof Markus Büchel ist bester Laune, als er an diesem sonnigen Vormittag die Festgemeinde begrüsst. «Eine Priesterweihe, das ist heute etwas Seltenes», sagt der Bischof von St. Gallen. Und: «Es gibt tatsächlich noch Wunder!» Kletus Hutter stammt aus Kriessern im St. Galler Rheintal. Nichts deutete darauf hin, dass er einmal Priester werden würde. Zunächst war er kaufmännischer Angestellter. Danach studierte er in Luzern Religionspädagogik und arbeitete später als Religionspädagoge im Bistum St. Gallen. Im Kloster Rapperswil lernte er das Konzept «Bruder auf Zeit» kennen und fing Feuer fürs Leben als Ordensmann.
Unrealistisches Priesterbild
Heutige Priester, sagt Bischof Markus Büchel in seiner Predigt, litten unter einem falschen Priesterbild, das in grossen Teilen der Bevölkerung herrsche: «Es ist unrealistisch und überhöht.» Manche glaubten, ein Priester stehe über allen irdischen Dingen oder sei ein gottähnliches Wesen. Nicht mit beiden Füssen am Boden, verbunden mit der Basis. Nicht bei den Sorgen der Menschen. Mit solch einem Priesterbild könne Kletus Hutter nichts anfangen. Bischof Markus Büchel sagte, er habe gehört, dass sich Kletus Hutter für nichts zu schade sei. Er nehme auch mal einen Besen in die Hand, um nach dem Gottesdienst die Kirche zu wischen. Die Kirche brauche solche bescheidenen, bodenständigen und authentischen Priester.
Franz von Assisi als Vorbild
Kletus Hutter sagt, dass ihm der Dienst am Menschen am Herzen liege. Zusammen mit den Menschen unterwegs zu sein, sei Teil der franziskanischen Spiritualität. Für ihn bleibe Franz von Assisi eine lebenslange Inspiration für ein erfülltes Leben. «Schon seit jungen Jahren kam mir immer wieder der Gedanke, ob Priester werden etwas für mich wäre», sagt Kletus Hutter. «Die Zeit war aber wohl nicht reif. Ich fand immer schlüssige Gründe, diesen Schritt nicht zu tun. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich während meiner Zeit als Gast im Kloster Rapperswil: Eine halbe Stunde nach dem Gottesdienst putzte ich mit dem Zelebranten zusammen die Kirche. Diese Haltung gefiel mir: ein Orden, in dem jemand dem Gottesdienst vorstehen kann aber es auch selbstverständlich ist, sich bei Alltagsarbeiten die Hände schmutzig zu machen.»
«Kloster auf Zeit»
Im Kapuziner-Kloster Rapperswil hat Kletus Hutter an der Neukonzeption des Angebots «Kloster auf Zeit» mitgewirkt: «Unser Kloster steht nach wie vor Menschen offen, die bei uns als Gast mitleben wollen. Neu ist, dass wir eine Lebensgemeinschaft bilden aus Brüdern und franziskanisch Interessierten, die ihren Lebensmittelpunkt im Kloster Rapperswil haben. Sie bleiben in der Gemeinschaft für mindestens ein Jahr und gehen einer Erwerbsarbeit ausserhalb des Klosters nach.» Bis jetzt habe sich eine Frau auf dieses Projekt eingelassen, eine reformierte Pfarrerin. «Sie passt sehr gut in unsere Runde, engagiert sich im Kernteam – also der Leitungsgruppe zusammen mit zwei Brüdern – und im Haus. Unser Konzept sieht noch weitere franziskanisch interessierte Menschen vor. Die suchen wir noch. Es gibt zwar einige Interessierte, ein verbindliches Zusammenleben stellt aber auch eine Herausforderung dar.»
Bücher über Heldinnen, Glück oder das Alter – neu kann die gesamte Bevölkerung im Bistum St. Gallen bei der Religionspädagogischen Medienstelle in Altstätten Medien ausleihen – und das kostenlos.
Wie Kindern den Tod erklären? Wie gehe ich mit Konflikten um? Wie stille ich meine Sehnsucht? Über 7000 Medien stehen in der kirchlichen Medienstelle zum Ausleihen bereit. Eine gemütliche Kaffee-Ecke lädt ein, gleich vor Ort in den Büchern zu stöbern. Bisher war die Fachbibliothek vor allem bekannt bei allen, die in Katechese, Religionsunterricht und ERG tätig sind. «Neu richtet sich unser Angebot an die gesamte Bevölkerung», hält Hildi Bandel, Leiterin der Medienstelle, fest. «Seit zwei Jahren sind wir bei Swiss Library Service Plattform (SLSP) im Verbund mit 475 Bibliotheken. Alle können bei uns Medien ausleihen. Dafür ist nur eine Registrierung notwendig.» Wer nicht nach Altstätten kommen will, kann die Medien via Online-Katalog auswählen und sich für 12 Franken schicken lassen.
Viele Bilderbücher
Oft kommen Interessierte vorbei, die gezielt ein Buch suchen, das sie bei einer aktuellen Lebensfrage unterstützt: «Das sind zum Beispiel Eltern, die bei ihren Kindern den Tod thematisieren wollen oder Grosseltern, die ihren Enkeln den Glauben weitergeben möchten», sagt Manuela Mitterer, Katechetin und Mitarbeiterin in der Medienstelle. «Aber auch wer einfach ein Bilderbuch zu einem bestimmten Thema sucht, wird bei uns fündig.» Denn neben Sachbüchern und Unterrichtsmaterialien verfüge die Medienstelle über einen grossen Bestand an Bilderbüchern inklusive Wimmelbüchern. Hildi Bandel hält das Buch «Hier kommt Boris» in die Höhe: «Eine witzige Geschichte über Vorbilder und Heldsein.» Die beiden Mitarbeiterinnen haben aber auch immer ein offenes Ohr für alle, die sie mit ihren persönlichen Lebensfragen oder Bedürfnissen konfrontieren – und suchen dann geeignete Medien heraus.
Bücher über das Glück — ideal zum Einstieg ins neue Jahr.
Auch viele Spiele
Wer durch die Medienstelle spaziert, erkennt sofort, wie vielfältig das Sortiment ist. Auch viele Bücher zu den Weltreligionen, zu ethischen oder psychologischen Themen warten auf die Leserinnen und Leser. «In den letzten Jahren haben wir angefangen, auch eine Sammlung von Spielen, die sich für Klassen, Gruppen oder Familien eignen, aufzubauen», so Hildi Bandel. Die gesellschaftlichen Entwicklungen lassen sich laut Bandel gut am Bestand und an der Nachfrage ablesen: So habe in den letzten Jahren die Nachfrage nach Büchern zum Thema Beten sowie Bücher, die sich mit innerkirchlichen Themen beschäftigen, nachgelassen. «Beliebter sind Medien zu Ritualen, christlichen Werten oder Vorbildern», weiss Manuela Mitterer. Hildi Bandel merkt an: «Im Gegensatz zu früher achten die Verlage heute mehr auf die Optik. Selbst bei Fachbüchern ist die Sprache süffiger geworden. Auch wer nicht mit der Materie vertraut ist, schafft sofort den Einstieg und hat das Buch schnell gelesen.»
Neue Leitung ab 2023
Auch in Zeiten der Digitalisierung sind Hildi Bandel und Manuela Mitterer überzeugt, dass das Buch eine Zukunft haben wird: «Es ist etwas Anderes, wenn ich es mir mit dem Kind oder Enkelkind auf dem Sofa gemütlich mache und wir gemeinsam in einem Buch blättern als Ergänzung zu den digitalen Angeboten.» Künftig will die Medienstelle auch vermehrt Veranstaltungen anbieten. Zunächst stehen jedoch interne Veränderungen an: Im kommenden Jahr wird die langjährige Stellenleiterin Hildi Bandel die Leitung an ihre Nachfolgerin Manuela Mitterer übergeben. Sie selbst wird weiterhin in der Medienstelle tätig sein.
Text: Stephan Sigg
Bild: Ana Kontoulis
Angebot des Kath. Konfessionsteils
Die RPM Altstätten wird finanziert vom Katholischen Konfessionsteil des Kantons St. Gallen. Verantwortlich für den Betrieb ist das Amt für Katechese und Religionspädagogik des Bistums St. Gallen. Die RPM ist Teil des Medienverbunds der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Öffnungszeiten: Montag, 14 bis 17 Uhr, Dienstag – Freitag, 9 bis 11.30 Uhr, 14 bis 17 Uhr.Ferien vom 24. Dezember 2022 bis 8. Januar 2023.
Klaus Gremminger ist nicht nur Seelsorger in Niederuzwil, sondern auch Zauberer. Im Gespräch erzählt er, wie Zauberkunststücke und Überraschungen den Alltag bereichern und unseren Verstand herausfordern.
Wieso brauchen wir Überraschungen? Und wieso sollen wir uns auf eine Zaubershow einlassen, wo wir in Zeiten von Netflix & Co. doch viel modernere und rasantere Unterhaltungsformen gewöhnt sind? Klaus Gremminger öffnet die Tür zu einem hellen Sitzungszimmer im Pfarreizentrum Niederuzwil. Darin stehen ein Koffer und ein Tisch mit schwarzem Tischtuch. Länger als Seelsorger ist der 46-Jährige schon Zauberer. Seit er als Kind einen Zauberkasten geschenkt bekam und an seiner Schule den bekannten Kinderzauberer Hardy sah, hat ihn die Faszination für Zauberei nicht mehr losgelassen.
Den Verstand herausfordern
Poesie, Theaterspielen, Psychologie und die Kunst, die Aufmerksamkeit des Publikums gut zu lenken: Das ist es, was Zauberei für Klaus Gremminger ausmacht. «Das Überraschende dabei ist, wie schnell wir Menschen uns täuschen lassen», sagt er. Als Beispiel nennt er ein neues Zauberkunststück an einem Zauberkongress. «Wenn ich dann erfahre, wie es funktioniert, denke ich oft, dass ich darauf auch selber hätte kommen können», sagt er. Zauberei mit all ihren Überraschungen brauchen wir laut Gremminger, da sie den Verstand herausfordert und wir Dinge sehen, die einfach nicht sein können. Ein gutes Beispiel dafür sind die Klein-Illusionen. Es handelt sich dabei um eine Holzkiste, die die Zauberkunststücke berühmter Zauberer in Miniatur nachgebaut enthält. Gebannt schaut man nun zu, wie Klaus Gremminger die Jasskarte Dame in einen kleinen Käfig sperrt, mit Schwertern durchbohrt und die Karte anschliessend unversehrt wieder herauszieht – wobei er mit Worten zu diesem Effekt die traditionelle Rolle von Frauen in der Zauberkunst hinterfragt. Diese Kleinillusionen hat er von dem befreundeten Flawiler Zauberer Frizano übernommen, als dieser selbst zu alt wurde um als Zauberer aufzutreten. «Das faszinierende daran ist, dass man in einem kleinen Kreis und ganze Nahe an diesen Illusionen sitzt, aber halt dennoch nicht sieht, wie der Trick funktioniert», sagt er. Zauberei spreche aber auch die Sehnsüchte der Menschen an. Ein Seil, das in zwei Teile geschnitten ist und durch Zauberei wieder eines wird, löse etwa unbewusst die Sehnsucht nach Heilung aus. Und mentale Zaubertricks wie Gedankenlesen würden immer für die Sehnsucht nach Verbindung stehen. «Wer möchte seinem Partner oder seiner Partnerin nicht die Wünsche von den Augen ablesen können», sagt er.
Mit Jonglierbällen lenkt Klaus Gremminger die Aufmerksamkeit des Publikums. Oft beginnt er auf diese Weise seine Zaubershow.
Von den Wundern des Lebens erzählen
Als Zauberer hat Klaus Gremminger aber auch selbst gelernt, mit Überraschungen umgehen zu können. «Wer mit Live-Publikum arbeitet, muss immer darauf gefasst sein, dass etwas Unerwartetes passiert», sagt er. Gehe etwas schief oder funktioniere ein Trick mit dem Publikum nicht, dann müsse man sich eben rauswinden und weitermachen. «Zauberei ist schlussendlich ein Spiel und es braucht die Kooperation des Publikums, sei es an privaten Anlässen oder an Zaubermeisterschaften», sagt er. Am liebsten zaubert Klaus Gremminger aber vor kirchlichem Publikum, etwa im Rahmen eines Gottesdienstes oder von Impulsveranstaltungen. Er nennt dies spirituelle Zauberkunst. Diese erzähle von Hoffnungen und Wünschen, von Liebe und Sehnsucht und von den Wundern des Lebens. Symbolhaftigkeit und Poesie stehen laut Gremminger im Mittelpunkt dieser Zauberkunststücke. Er nimmt einen Stapel bunter Papiere aus dem Koffer und faltet diese auf und wieder zu und erzählt dazu die Geschichte eines kleinen Heiligen, der einen Schatz sucht. Am Ende des Tricks verwandelt sich eines der zuvor leeren Blätter in ein Blatt voller Sterne – Der kleine Heilige hat den Sternenhimmel, den Schatz, in sich selber gefunden.
Zum Repertoire von Klaus Gremminger gehören auch Klein-Illusionen, also Zauberkunststücke berühmter Zauberer in Miniatur nachgebaut.
Vom Seelsorger zum Zauberer
Theologie hat Klaus Gremminger, der aus Freisingen in Deutschland kommt, in München studiert. Zunächst war das die Spiritualität und das Fach selbst, die ihn interessierten. Während des Studiums merkte er, dass er Seelsorger werden wollte und entschied sich gemeinsam mit seiner Ostschweizer Frau, die ebenfalls in München Theologie studiert hatte, für das Bistum St. Gallen. Sein Standbein nennt er Theologie und Seelsorge, sein Spielbein Zauberei und Jonglage. Doch wie funktioniert das, dass das Publikum, das ihn häufig als Seelsorger erlebt, auch als Zauberer ernstnimmt? Klaus Gremminger nimmt einige Jonglierbälle in die Hand und beginnt sie im Kreuz zwischen den Händen hin und her zu werfen, so wie er es häufig zu Beginn seiner Shows tut. «Ich bleibe immer Seelsorger. Wenn ich jongliere, fliegen die Bälle im Kreuz – wie ein permanenter Segen», sagt er. Dann werden die Bahnen, in denen er die Bälle wirft, wilder und abwechslungsreicher. Das Auge kann kaum folgen. Er sagt: «Als Zauberer ist es meine Aufgabe euch zu verwirren und abzulenken.»
Da kommst du nichts Böses ahnend am Abend nach Hause, sperrst die Tür auf, ziehst die Schuhe aus, tappst ins Wohnzimmer und … zack … da springen deine besten Freundinnen und Freunde hinter dem Sofa hervor: «Herzlichen Glückwunsch!» Torte, Sekt, Geschenk – sie haben an alles gedacht. Der Party steht nichts mehr im Wege. Gibt es etwas Schöneres als überrascht zu werden?
Ich habe es nicht so mit Überraschungen. Definitiv. Ich will keine «Fahrt ins Blaue», kein «Überraschungsprogramm» und auch mit Überraschungsbesuchen tue ich mich eher schwer – nicht weil ich mich nicht über den Besuch dieser Menschen freuen würde. Im Gegenteil. Aber wenn ich Besuch erwarte, ist es doch schön, sich darauf vorbereiten zu können. Mich seelisch darauf einstimmen, «parat» sein. Selbstverständlich zappe ich bei Sendungen wie «Happy Day» schnell weiter. Wenn ich zum Geburtstag einen «Überraschungs-Gutschein» bekomme, sehe ich dieser Überraschung mit gemischten Gefühlen entgegen. Ich will nicht überrascht werden. Logisch weiss ich: Es wird schön. Das ist nicht das Problem. Aber wenn mich etwas Schönes erwartet, warum soll ich mich auf dieses Schöne nicht freuen dürfen? Das würde mir viel Kopfzerbrechen ersparen: Was genau erwartet mich? Was muss ich mitnehmen? Wie anziehen? Ist es dort kalt, warm? Muss ich vorher noch etwas essen? Wie lange geht das ungefähr? Stark ist mir Folgendes in Erinnerung geblieben: Da wurde eine Freundin überrascht – sie war so perplex, dass sie sich gar nicht freuen konnte. Wie versteinert stand sie da und betrachtete das Geschenk, das Teil der Überraschung war, ziemlich angestrengt. Erst einen Tag später meldete sie sich per Kurznachricht: Sie habe sich eigentlich schon total gefreut, aber sie sei so überrumpelt gewesen, dass die unbeschwerte Freude im Moment nicht möglich war. Also etwa so wie bei den Überraschten in TV-Shows.
Überwältigt oder schockiert
Manche Menschen können gut mit Überraschungen umgehen, manche überhaupt nicht. Ich habe mir schon oft in meinem privaten und beruflichen Umfeld emotionale Schilderungen von überwältigenden Überraschungen anhören dürfen: Eine Überraschungsparty am Geburtstag? Für manche könnte es nichts Schöneres geben. Highlights, an die man noch lange zurückdenkt. Darüber las ich auch schon in Psychologie-Zeitschriften. Es liegt nicht daran, dass mich mein Umfeld schon mit so vielen peinlichen, nervigen oder völlig deplatzierten Überraschungen konfrontiert hätte, dass ich eine solche Abneigung gegenüber Überraschungen habe. Ob man Überraschungen mag oder nicht, ist Teil des Charakters. Das sagen zumindest diverse Studien.
Mit Fingerspitzengefühl
Ich bewundere Menschen, die lange im Voraus und sehr aufwändig Überraschungen für eine andere Person aushecken, andere einweihen, alles planen und organisieren. Auch wenn sie vielleicht nicht auf so einen Überraschungs-Phobiker wie mich treffen, sind Überraschungen doch immer mit sehr viel Fingerspitzengefühl verbunden. Sind sie sich bewusst, auf welches Wagnis sie sich einlassen? Das braucht viel Empathie: Wo liegt die Grenze beim anderen? Was geht nicht? Freut sich die Person wirklich darüber? Ich sehe durchaus auch das Positive am Überraschen: Man beschäftigt sich intensiv mit jemandem.
Auf Überraschendes vertrauen
Was sagt die christliche Spiritualität zu Überraschungen? Gott ist ein Gott der Überraschung. Im Alten Testament gibt es zum Beispiel Abraham und Sara. Die beiden waren hochbetagt, als Sara nach Jahrzehnten des Warten doch noch schwanger wurde. Auch Jesus sorgt immer wieder für Überraschungen, wie an vielen Stellen im Neuen Testament berichtet wird: Er machte oft nicht das, was andere erwartet hätten. Zudem kann auch Ostern, die Auferstehung von Jesus Christus, als ein grosses Überraschungsereignis gedeutet werden. Sind all diese Beispiele Mutmacher für mehr Offenheit für Überraschungen? Für mehr Vertrauen, sich einfach einmal auf Überraschungen einzulassen? Offen zu sein für die Überraschungen Gottes in meinem Leben? Ich versuche, es mir für 2023 vorzunehmen.
Wer es wagt
Selbstverständlich habe ich mit kleinen Überraschungen wie zum Beispiel dem Inhalt des Adventskalenders kein Problem. Auch mein privates Umfeld kennt mich gut. Kaum einer würde es wagen, mich zu überraschen. Und wenn, dann wohl gut überlegt, welche Überraschung mich tatsächlich freuen würde. Denn ehrlicherweise muss ich zugegeben, wenn ich meine Phobie vor Überraschungen zur Seite schiebe und wenn die Überraschung wirklich zu hundert Prozent passt, ist die Freude doch riesig. Und nicht vergessen gehen sollte, dass auch kleine Überraschungen Freude bereiten. Manchmal tut es auch einfach ein Blumenstrauss.
Seit 30 Jahren engagiert sich der St. Galler Markus Enz für den freiwilligen Bettendienst im Kantonsspital St. Gallen. Dieser ermöglicht Patientinnen und Patienten den Besuch des Gottesdienstes in der Spitalkapelle. Aktuell werden dringend mehr Freiwillige gesucht.
Kurz nach 9 Uhr sind die Vorbereitungen in vollem Gang: Einige Freiwillige stecken in der Spitalkapelle des Kantonsspitals St. Gallen Verlängerungskabel ein. Dort sollen später jene Patientinnen und Patienten während des Gottesdienstes einen Platz bekommen, deren Infusionsgeräte beispielsweise Strom benötigen. Draussen vor der Kapelle im 1. Stock des Hauses 21 teilt Spitalseelsorger Sepp Koller weitere Freiwillige in Gruppen ein. Sie werden in der nächsten Stunde zu zweit 25 Patientinnen und Patienten in den verschiedenen Häusern des Spitals abholen und sie im Bett, im Rollstuhl oder zu Fuss durch das unterirdische Verbindungssystem bis zur Spitalkapelle transportieren und begleiten. Nebst Mitgliedern der Pfarrei Wittenbach sowie der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Wittenbach helfen an diesem Sonntag einige Jugendliche aus Gossau mit, die den Einsatz im Rahmen eines Sozialprojektes leisten.
«Unsere Gesellschaft wäre ohne all das freiwillige Engagement um einiges ärmer», sagt Markus Enz, der die Einsätze koordiniert.
Nur noch halb so viele helfen
Dann geht es los. Mit dabei ist auch Markus Enz, der sich seit 30 Jahren für den freiwilligen Bettendienst im Kantonsspital engagiert. Seit 2008 koordiniert er zudem die Einsätze aller Gruppen der Stadt St. Gallen. Aktuell sind es elf Gruppen wie etwa die soziale Männerbewegung St. Fiden, zu der Markus Enz gehört, oder Gruppen, die sich in den Pfarreien zusammengeschlossen haben. Jede Gruppe hat fünf bis sechs Einsätze im Jahr. «Nun stehen wir aber vor dem Problem, dass wir immer weniger sind und es schwierig ist, neue Personen zu finden, die sich freiwillig für diesen Dienst engagieren», sagt Markus Enz, während er mit dem Lift hinunter ins UG fährt, wo sich auch der Zugang zu den unterirdischen Verbindungsgängen befindet. Vor einigen Jahren waren es noch rund 300 Personen die mithalfen. Heute sind es noch 140. «Werden es noch weniger, können wir diesen Freiwilligendienst nicht mehr stemmen», sagt der 63-Jährige.
Einsatzbesprechung um 9 Uhr bevor es los geht: In Zweierteams werden die Freiwilligen die Patientinnen und Patienten abholen.
Vom Glauben begleitet
Markus Enz hält in der Hand eine orange Karte mit verschiedenen Infos wie Name, Haus- und Zimmernummer des Patienten, den er heute abholen wird. Es geht ins Haus Nr. 1 zu Ferdinand Hutter. Der 66-Jährige hat eine neue Niere bekommen und besucht den Gottesdienst in der Spitalkapelle an diesem Sonntag mit seiner Frau und seiner Tochter. «Diese Freiwilligenarbeit ist sensationell. Ich schätz es sehr, dass mir jemand auf diese Weise ermöglicht, den Gottesdienst besuchen zu können. Ich bin gerne in der Kapelle und der Glaube begleitet mich mein Leben lang», sagt er. Auch seine Tochter Cornelia Hutter erzählt, wie wichtig dieser Gottesdienst vielen Patientinnen und Patienten ist. Sie selbst arbeitet als Pflegefachfrau auf der Palliativ-Station und betont, dass im Spital ohne die Freiwilligen niemand Zeit hätte, so viele Patienten und Patientinnen zur Kapelle zu begleiten.
Die Spitalkapelle bietet neben Sitzplätzen auch Platz für die Betten der Patientinnen und Patienten.
Freundschaft und Dank
Dann ist es Zeit, sich auf den Weg zur Kapelle zu machen. Vom Zimmer aus geht es mit dem Lift wieder ins UG und unterirdisch zurück ins Haus Nr. 21. In der Kapelle haben sich bereits einige Patientinnen und Patienten eingefunden. Ferdinand Hutters Bett ist neben einer der Steckdosen platziert. Seine Frau und seine Tochter haben sich mit Stühlen direkt neben ihn gesetzt. Die freiwilligen Helferinnen und Helfer verlassen derweil die Kapelle und versammeln sich draussen, um noch etwas zu reden. Andere feiern den Gottesdienst mit. «In all den Jahren, in denen ich mich für den Bettendienst engagiere, sind viele Freundschaften entstanden», sagt Markus Enz. Das und die Dankbarkeit, die man seitens der Patientinnen und Patienten erhalte, sei der Lohn, den man für seinen Einsatz erhalte. Er sagt: «Vor allem aber wäre unsere Gesellschaft ohne all das freiwillige Engagement um einiges ärmer.»
Einsätze am Sonntag
Die Spitalseelsorge am Kantonsspital St. Gallen findet kaum genügend Freiwillige, die am Sonntag die Patientinnen und Patienten zum Gottesdienst begleiten. Dieser wird abwechselnd katholisch, evangelisch, manchmal ökumenisch gestaltet. In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Freiwilligen stark abgenommen. Es werden deshalb zusätzliche Begleitpersonen für den Sonntagsgottesdienst gesucht. Diese treffen sich jeweils um 9 Uhr bei der Spitalkapelle. Bis 10 Uhr werden die Patientinnen und Patienten abgeholt. Nach dem Gottesdienst werden sie wieder in ihr Zimmer gebracht.
«Noch immer ist es für viele Missbrauchsbetroffene ein grosser Schritt, sich an das Fachgremium zu wenden und über das erfahrene Leid zu sprechen», sagt Daniela Sieber, Präsidentin des Fachgremiums gegen sexuelle Übergriffe im Bistum St. Gallen. Bischof Ivo Fürer hat das Gremium 2002 installiert.
Dieses Jahr jährte sich die Gründung des Fachgremiums zum zwanzigsten Mal. Als Bischof Ivo Fürer 2002 als Reaktion auf einen Missbrauchsfall das Gremium installierte, wurde noch kaum über sexuelle Missbräuche im kirchlichen Umfeld gesprochen. «In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich extrem viel getan», fasst Daniela Sieber, Juristin und Mediatorin, zusammen. «Das Gremium hat sich konsequent weiterentwickelt und professionalisiert.» Das Fachgremium ist heute fest etabliert, in anderen Bistümern gibt es heute ähnliche Gremien und Anlaufstellen. Ging es anfangs vor allem um strafrechtliche Themen, habe sich der Fokus auf die Prävention verlagert. Ein wichtiger Schritt war 2016 die Einführung des Schutzkonzeptes im Bistum St. Gallen. Jährlich finden Einführungskurse für alle Angestellten und freiwillig Engagierte im Bistum statt. Das Thema ist auch fester Teil der Berufseinführung der Seelsorgenden. Seit 2017 können sich Betroffene von physischer und psychischer Gewalt, Mobbing, Arbeitsplatzkonflikten und emotionalen Grenzverletzungen auch an zwei Ombudspersonen wenden. Einen Beitrag zur Aufarbeitung leistet auch ein Genugtuungsfonds der Schweizer Bischofskonferenz. Dass ein Bewusstsein für die Not und die Erfahrungen der Betroffenen geschaffen wurde, dazu hätten auch die Medien beigetragen. «Und besonders all die Betroffenen, die ihre Erfahrungen öffentlich gemacht haben.»
«Dennoch gehen wir davon aus, dass es auch in unserem Bistum Betroffene gibt, die sich noch nicht gemeldet haben.»
Daniela Sieber
Hilfe bei Verarbeitung
Aktuell hat das Fachgremium keinen strafrechtlichen Fall zu bearbeiten. In diesem Jahr haben sich acht Personen gemeldet. Im Bistum St. Gallen sei es für Betroffene niederschwellig möglich, sich an das Fachgremium zu wenden. Sie behalten die Kontrolle über die Schritte und welche Informationen an welche Stelle gelangen. «Dennoch gehen wir davon aus, dass es auch in unserem Bistum Betroffene gibt, die sich noch nicht gemeldet haben», sagt Daniela Sieber. Deshalb sei das Gremium daran, sich immer wieder ins Gespräch zu bringen und auf sein Angebot aufmerksam zu machen. Für Theologin und Psychologin Regula Sarbach, Ansprechperson für Betroffene, kann es ein Beitrag zur Verarbeitung sein, wenn sich Betroffene auch Jahrzehnte nach dem Missbrauch melden: «Das Erzählen der Erfahrungen wird von vielen Betroffenen als wichtig und entlastend erlebt», sagt sie, «oft sind für die Betroffenen die Frage nach einer finanziellen Genugtuung oder strafrechtlichen Konsequenzen zweitrangig. Selbst wenn der Täter schon verstorben ist, kann es entlastend sein, Gehör zu finden.» Teilweise sind es auch Personen, die grenzverletzendes Verhalten beobachtet haben und sich melden.
Spiritueller Missbrauch
Relativ neu ist das Bewusstsein für den spirituellen Missbrauch. Dieser wurde vor allem durch das Buch «Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche» der deutschen Theologin Doris Reisinger zum Thema: In vielen Gruppen und Gemeinschaften gibt es Personen, die leiten und Verantwortung tragen. Diese Personen haben Macht, die sie zum Guten einsetzen, aber auch missbrauchen können. «Solche Fälle sind oft nochmals viel komplexer als ein sexueller Übergriff und für die Betroffenen schwer zu erkennen und benennen», so Daniela Sieber. Um auch diese Betroffenen optimal begleiten zu können, könnte es laut Sieber sinnvoll sein, eine eigene Anlaufstelle zu schaffen.
Nichtkirchliche Meldestelle
In den letzten Jahren sind zahlreiche Bücher von Missbrauchsbetroffenen erschienen. Es gibt inzwischen auch Netzwerke und Gruppen, zu denen sich Betroffene zusammengeschlossen haben wie zum Beispiel die «Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld». Diese fordert die Errichtung einer gesamtschweizerischen, neutralen und unabhängigen Meldestelle. Daniela Sieber kann diese Forderung nachvollziehen: «Die Situation in den Bistümern ist bis heute ganz unterschiedlich. Im Bistum St. Gallen ist auch hier das Bewusstsein gewachsen. Heute ist im Fachgremium kein Mitglied mehr aus der Personalabteilung oder dem Ordinariat des Bistums vertreten.» Sieber sieht gespannt den Ergebnissen der historischen Studie zum sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche entgegen, die die Schweizer Bischofskonferenz im Frühling in Auftrag gegeben hat. Diese soll einen weiteren Beitrag zur Aufarbeitung und Prävention leisten. Die Ergebnisse werden für Herbst 2023 erwartet.
Text: Stephan Sigg
Bild: zVg.
Weiterbildung für freiwillig Engagierte
Worauf müssen freiwillig Engagierte achten? Das Bistum St. Gallen bietet 2023 die Weiterbildung «Pfarreirat-Updates» zur Umsetzung des Schutzkonzeptes an. Pfarrei- und Pastoralräte haben, so die Ausschreibung, meist das ganze Spektrum der Freiwilligen in ihrer Pfarrei und Seelsorgeeinheit im Blick. Ihnen komme deshalb eine wichtige Rolle zu.
Samstag, 14. Januar 2023, Mels oder Samstag, 18. Februar 2023, Degersheim, jeweils 9 bis 12.45 Uhr
Mehr Sensibilität für die Geschlechtervielfalt – die Tagung der Fachstelle für Jugendarbeit im Bistum St. Gallen (Daju) regte an, über Geschlechterrollen, Diskriminierung und die Perspektive von sexuellen Minderheiten nachzudenken.
Was macht dich zur Frau, was macht dich zum Mann? Welche Geschlechtervorurteile machen dir zu schaffen? Was wäre in meinem Leben anders, wenn ich ein anderes Geschlecht hätte? Was ist unweiblich und unmännlich – und wer legt das fest? Gleich zu Beginn der Daju-Tagung in Trogen AR konfrontiert ein Fragebogen die Jugendseelsorgenden mit ihrer eigenen Haltung zum Geschlecht. Bei der anschliessenden Diskussion in Kleingruppen wird schnell klar: Auch wer sich selbst als tolerant und offen im Umgang mit der Geschlechtervielfalt bezeichnet, hat beim Fragebogen den einen oder anderen Aha-Moment erlebt. Vieles, das selbstverständlich scheint, ist doch gar nicht so selbstverständlich. Im Austausch mit den anderen schildern die kirchlichen Jugendarbeitenden aber auch bald Erfahrungen aus ihrem Berufsalltag: «Ich erlebe noch immer, dass manche Jugendliche sich gegen einen Lehrberuf entscheiden, weil dieser als zu weiblich oder zu männlich gilt und sie sich vor Häme und Vorurteilen fürchten.» Auch bekommen die Jugendarbeitenden mit, wie sehr Idealbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit in Werbung und Medien auch heute viele junge Menschen unter Druck setzen.
Kirchliche Jugendarbeiter*innen aus dem Bistum St.Gallen setzten sich mit der Geschlechtervielfalt auseinander.
Offen und unverkrampft
Die Teilnehmenden sprechen ganz offen und unverkrampft. Man spürt, dass es in der kirchlichen Jugendarbeit schon viel Sensibilität im Umgang mit Geschlechtervielfalt und sexuellen Orientierungen gibt. Viele Jugendseelsorgende sind bemüht, Jugendliche bei der Entwicklung einer gelingenden Geschlechtsidentität zu unterstützen. Andere wiederum berichten, dass die Akzeptanz von queeren Jugendlichen unter Gleichaltrigen noch gar nicht so verbreitet ist wie man oft den Eindruck hat: Ein Jugendseelsorger erzählt von homophoben Äusserungen, die Jugendliche in seiner Pfarrei von sich gegeben haben.
Die Tagung ging auch der Frage nach, wie kirchliche Jugendarbeit zeitgemäss mit der Geschlechtervielfalt umgeht und niemanden ausschliesst.
Mit Sprache ausdrücken
Referentin Simone Dos Santos, Geschäftsleiterin der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St. Gallen, zeigt immer wieder auf, wie sehr die Gesellschaft bis heute in Kategorien denkt. «Das gilt es zu hinterfragen», sagt sie. Die binäre Einteilung greife zu kurz und schliesse viele Geschlechteridentitäten aus. Während die einen die Vielfalt als bereichernd erleben, löst sie bei anderen Unsicherheiten und Ablehnung aus. «Die meisten von uns haben ihre Geschlechterrollen automatisch angenommen. Viele der heutigen Jugendlichen setzen sich intensiv mit der Frage auseinander, wer sie sind und wie sie ihr Geschlecht leben wollen. Manche spielen auch kreativ damit.» Das heisse aber nicht automatisch, dass es für sexuelle Minderheiten heute einfacher sei. Simone Dos Santos motiviert die Teilnehmenden, die Vielfalt auch in der Sprache sichtbar zu machen: Beispielsweise hätten Studien gezeigt, dass Kinder sich mehr Berufe zutrauen, wenn die Geschlechtervielfalt in Berufen auch sprachlich immer wieder explizit ausgedrückt wird. An der Tagung kommen auch Betroffene selbst zu Wort – am Vormittag in Filmeinspielungen und am Nachmittag stellt sich Amanda, eine junge Transfrau aus der Ostschweiz, den Fragen der Teilnehmenden.
Referentin Simone Dos Santos motivierte für eine geschlechtersensible Sprache.
Die Bibel und die Geschlechter
Im Tagungssaal hängt ein Banner an der Wand: «Gott liebt vielfältig.» Was sagt die Bibel zu diesem Thema? Dieser Frage geht am zweiten Tag Gregor Emmenegger, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Freiburg, nach. Er zeigt auf, dass die Bibel sehr vielfältige Aussagen zu den Geschlechtern macht: Zum Beispiel habe Gott in erster Linie Adam als Menschen geschaffen und nicht als Mann und daraus die Frau, wie das verkürzt in jahrhundertelangen Bibelauslegungen wiedergegeben wurde. Auch der Umgang mit den Geschlechtern habe sich im Laufe der Kirchengeschichte gewandelt (s. Interview S. 11). Der Apostel Paulus schrieb im Brief an die Galater: «Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.»
Transfrau Amanda gab offen und ehrlich Einblicke in ihre Geschichte und den Umgang mit Vorurteilen.Die Teilnehmenden schilderten persönliche Erfahrungen aus ihrem Arbeitsalltag in der kirchlichen Jugendarbeit.
Text: Stephan Sigg
Bild: Ana Kontoulis
Veröffentlicht: 28. November 2022
«Immer wieder weiterentwickelt»
Gregor Emmenegger, Sie haben über die historische Entwicklung der kirchlichen Haltung zu Geschlechterfragen referiert. Die Kirche lehrt, es gibt Mann und Frau. Ist die Frage damit nicht schon beantwortet?
Im Gegenteil – die Haltung der Kirche hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert. Die Idee, dass Mann und Frau sich dualistisch gegenüberstehen, verbreitet sich erst ab dem 17. Jahrhundert.
Wie gingen denn die Kirche und die Theologie im frühen Christentum mit dem Thema um?
Wer von Geschlechtern redet, denkt darüber nach, was Menschen verbindet und was sie trennt. In der Antike und im Mittelalter wurden die Geschlechtsmerkmale nicht auf zwei Geschlechter hin interpretiert. Man ging davon aus, dass es nur ein Menschengeschlecht gibt, in stärkerer männlicher und schwächerer weiblicher Ausprägung, und ohne absolute Trennung dazwischen. Man reflektierte so mit medizinischem Vokabular die Gesellschaftsverhältnisse: Der Bauer unterschied sich nicht sehr von der Bäuerin, aber sehr vom Ritter. Im 17. Jahrhundert veränderte sich das. Die Frauen blieben zunehmend zu Hause, die Männer gingen auswärts arbeiten. Ein neues gesellschaftliches Modell entwickelte sich und man gewann einen neuen Blick auf die Geschlechter. Auch in der Kirche und in der Medizin wurde seither die Differenz der Geschlechter betont.
Die Gender-Diskussion wird heute oft emotional geführt. Was lehrt uns der Blick in die Kirchengeschichte?
In den vergangenen Jahrhunderten hatte die Kirche im Umgang mit diesem Thema weniger Mühe. Die Vielfalt wurde nicht als Gefahr verstanden. Es wäre eine Chance, wenn die Kirche heute die Menschen in ihrer Vielfalt sehen lernt und diese Vielfalt als Mehrwert versteht. (ssi)
Pfarrblatt im Bistum St.Gallen Webergasse 9 9000 St.Gallen