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Das Recht auf Wind in den Haaren

Wer gerne den Wind in den ­Haaren spürt, fährt ohne: Sonst schützt die ­Fahr­gäs­te aber ein Dach vor dem Wetter. Paul Zünd befes­tigt es an der Rikscha.

Mit einer Velo-Rikscha und einem Team von 28 ehren­amt­li­chen Pilo­tin­nen und Pilo­ten ­ermög­licht der Rorscha­cher Paul Zünd Hoch­be­tag­ten Ausfahr­ten zu deren ­Lieb­lings­or­ten. Das Schöns­te daran sei, miter­le­ben zu können, wie seine Fahr­gäs­te aufblü­hen, sagt der ­Reli­gi­ons­päd­ago­ge. Seine Leiden­schaft für’s Velo­fah­ren entdeck­te er einst als Velokurier.

Wer gerne den Wind in den ­Haaren spürt, fährt ohne: Sonst schützt die ­Fahr­gäs­te aber ein Dach vor dem Wetter. Paul Zünd befes­tigt es an der Rikscha.

Zum Velo­fah­ren bin ich erst spät gekom­men», sagt Paul Zünd, der bei der Katho­li­schen Kirche der Regi­on Rorschach für das Ressort Erwach­se­ne zustän­dig ist. Im Schat­ten des Parks vor der Herz-Jesu-Kirche hat er seine Rikscha parkiert, mit der er regel­mäs­sig Senio­rin­nen und Senio­ren ausfährt. «Als 12-Jähriger habe ich zwar gear­bei­tet und mir von dem Geld ein Renn­ve­lo gekauft. Danach wurde ich aber erst mal ein rich­ti­ger Töff­libueb», sagt der 51-Jährige. Zum Velo­fah­ren brach­te ihn in seinen Zwan­zi­ger­jah­ren schliess­lich ein Freund, der vorschlug, dass sie beide doch Velo­ku­rie­re werden soll­ten. Später leite­te und baute er unter ande­rem den Velo­ku­rier Die Flie­ge in St. Gallen aus. «Das Gefühl, auf dem Velo mit der Umwelt und den Menschen verbun­den zu sein, faszi­niert mich bis heute. Es gibt keine Glas­schei­be dazwi­schen und ich bin in einer Geschwin­dig­keit unter­wegs, in der ich mich auf das Gesche­hen um mich herum einlas­sen kann», sagt er.

Eigent­lich sind Elfi und Peter Künz­le selbst täglich mit ihren Velos unter­wegs. Zu ihrem 57. Hoch­zeits­tag gönnen sie sich aber eine Ausfahrt mit der Rikscha.

Ausfahrt zum Hochzeitstag

Dieses Gefühl, auszu­fah­ren, den Wind in den Haaren zu spüren, unter­wegs spon­tan Bekann­ten zu begeg­nen: Das sollen mittels der Rikscha auch die Fahr­gäs­te von Paul Zünd erle­ben. Vor vier Mona­ten hat er daher das Rikscha-Projekt gestar­tet und ein Team von 28 ehren­amt­li­chen Pilo­tin­nen und Pilo­ten zusam­men­ge­stellt. An diesem Vormit­tag trifft er das Ehepaar Elfi und Peter Künz­le aus Rorschach. Die beiden sind um die 80 Jahre alt und eigent­lich selbst täglich auf dem Velo unter­wegs. Da die Katho­li­sche Kirche der Regi­on Rorschach aktu­ell auf ihrer Home­page mit neuen Fotos verschie­de­ne Projek­te vorstellt, haben sich die beiden bereit­erklärt, als Foto­mo­del­le bei einer Tour dabei zu sein. «Ausser­dem haben wir gera­de unse­ren 57. Hoch­zeits­tag gefei­ert. Wir fanden, aus diesem Anlass könn­ten wir uns gut auf etwas Neues wie eine Rikscha-Fahrt einlas­sen», sagt Elfi Künz­le. Sie fügt an, sie freue sich vor allem darauf, in der Natur zu sein und den Fahrt­wind zu spüren.

Teil des Glücks sein

Elfi und Peter Künz­le nehmen in der Rikscha Platz und befes­ti­gen den Anschnall­gurt. Paul Zünd steigt hinter ihnen auf den Sattel und tritt in die Peda­le. Maxi­mal 15 Kilo­me­ter pro Stun­de schnell wird er fahren. Ein elek­tri­scher Motor unter­stützt ihn dabei. Die Rikscha hat er über den Verein «Radeln ohne Alter Schweiz» gemie­tet. Elfi und Peter Künz­le sind in Rorschach gut vernetzt und haben viele Bekann­te. Schon nach weni­gen Metern wird klar, worin der Vorteil einer solchen Ausfahrt liegt: Ein Winken hier, ein paar Zuru­fe dort und immer wieder wird das Ehepaar von Bekann­ten auf dem Velo oder im Auto über­holt. «Miter­le­ben zu können, wie meine Fahr­gäs­te unter­wegs aufblühen, und Teil ihres Glücks zu sein, ist das Schöns­te für mich als Pilot», sagt Paul Zünd. In den Alters- und Pfle­ge­hei­men spre­che man bei dieser Art der Tages­ge­stal­tung von Aktivierung.

Die Rück­mel­dun­gen, die Paul Zünd und sein Team von den Betreuungs- und Pfle­ge­fach­per­so­nen erhal­ten, sind posi­tiv. Den Fahr­gäs­ten sei anzu­mer­ken, wie gut ihnen die Ausfahrt getan habe. Mitt­ler­wei­le machen das Senio­ren­zen­trum La Vita in Gold­ach, das Alters­heim Rorschach und das Haus zum Seeblick im Rorscha­cher­berg bei dem Projekt mit. Im Durch­schnitt 20 Buchun­gen für seine Rikscha-Ausflüge erhält Paul Zünd von diesen im Monat. Ein bis zwei Stun­den dauert eine Fahrt und führt zu Lieb­lings­or­ten der jewei­li­gen Fahr­gäs­te. «Eine Frau wünsch­te sich zum Beispiel einmal eine Tour zum Hotel Bad Horn, um dort am See etwas zu trin­ken», sagt Paul Zünd. Und ein Ehepaar woll­te noch einmal zu jenem Haus fahren, in dem es gelebt hatte. Manch­mal komme es aller­dings auch vor, dass ein Fahr­gast zu unru­hig sei oder aus verschie­de­nen Grün­den die Fahrt nicht genies­sen könne. «In solchen Situa­tio­nen kehre ich um und brin­ge die Person zurück», sagt er.

Paul Zünd ist mit seinen Fahr­gäs­ten mit maxi­mal 15 Kilo­me­tern pro Stun­de auf den ­Velo­we­gen unter­wegs. Immer im Einsatz sind Glocke und Geschwindigkeitsanzeige.

Eine eige­ne Rikscha kaufen

«Recht auf Wind im Haar», so hat Paul Zünd sein Rikscha-Projekt benannt. Erfun­den habe er diese Bezeich­nung aber nicht. Viel­mehr sei es ein welt­weit bekann­ter Spruch unter Rikscha­fah­re­rin­nen und ‑fahrern. Seit Anfang Juli ist auch klar, wie es mit dem Projekt weiter­geht. Das Pasto­ral­team hat sich einstim­mig für den Kauf einer Rikscha ausge­spro­chen und möch­te das Projekt nach den Sommer­fe­ri­en weiter­füh­ren. Nun liegt der Ball bei der Geschäfts­lei­tung und dem Kirchen­ver­wal­tungs­rat. Letz­te­rer muss für einen Kauf einen ausser­or­dent­li­chen Kredit sprechen.

Elfi und Peter Künz­le kehren derweil mit Paul Zünd an den Start­punkt zurück. Sie hatten Spass und Paul Zünd verspricht ihnen beim Abschied noch­mals eine rich­ti­ge Tour – ganz ohne Kame­ras. Er selbst wird sich am Abend auf sein Velo schwin­gen und nach Hause fahren. Ein Auto besitzt er nicht. «Auf dem Velo unter­wegs zu sein ist für mich der perfek­te Ausgleich», sagt er. «Mehr brau­che ich nicht.»

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 21.07.2023

Leserfrage: Warum gibt es Kirchturmkreuze mit zwei Balken?

Das Kreuz ist ein wich­ti­ges christ­li­ches Symbol für den Tod und für die Hoff­nung auf ein Leben ganz bei Gott. Es gibt über zehn Vari­an­ten von Kreu­zen: 1. Andre­as­kreuz, 2. Anto­ni­us­kreuz oder T(au)-kreuz, 3. Grie­chi­sches Kreuz, 4. Jeru­sa­lem­kreuz, 5. Kardi­nal­s­kreuz, 6. Klee­blatt­kreuz, 7. Latei­ni­sches Kreuz, 8. Malteser- oder Johan­ni­ter­kreuz, 9. Papst­kreuz, 10. Petrus­kreuz und Doppelkreuze.

Auf Kirchen sind manch­mal Doppel­kreu­ze zu sehen; so etwa auf dem Kirch­turm von Schä­nis, wo ich als Pfar­rer neu tätig bin. Neben der Pfarr­kir­che steht das Kreuz­stift. Über die Schweiz hinaus bekannt ist das Klos­ter Einsie­deln; beide Türme tragen ein Doppel­kreuz. Ein Doppel­kreuz weist darauf hin, dass im Gottes­haus eine Kreuz­re­li­quie aufbe­wahrt wird, also ein Teil­chen vom angeb­li­chen Kreuz, an dem Jesus Chris­tus gestor­ben ist. Nach der Legen­de hat Kaise­rin Hele­na, die Mutter von Kaiser Konstan­tin I., nach 325 bei ihrer Reise ins Heili­ge Land dieses Kreuz gefun­den. Die Kirche gedenkt am 3. Mai der Auffin­dung des Kreu­zes, und am 14. Septem­ber feiert sie das Fest Kreuzerhöhung.

Bei Dorf­brand zerstört

Reli­quia­re, Gefäs­se für Kreuz­par­ti­kel, wurden aus Jeru­sa­lem meis­tens doppel­ar­mig ausge­führt, um die Authen­ti­zi­tät der Reli­quie und deren Herkunft zu bekräf­ti­gen. Das doppel­bal­ki­ge Kreuz ist entstan­den aus dem Quer­bal­ken und dem darüber ange­brach­ten Kreuz­ti­tel «Jesus von Naza­reth, König der Juden» (INRI = Iesus Naza­re­nus, Rex Iudae­orum). Darum zeich­nen sich Orte, an denen Kreuz­par­ti­kel sind, oft durch ein Kreuz mit zwei Balken aus. Leider ist die Kreuz­re­li­quie in Schä­nis beim Dorf­brand 1610 zerstört worden.

Bedeu­tung des Kreuzes

Doppel­kreu­ze erlang­ten während den Kreuz­zü­gen eine beson­de­re Bedeu­tung. Der Zugang zu den heili­gen Stät­ten war versperrt. Chris­ten mach­ten gros­se Anstren­gun­gen, mithil­fe der Kreuz­rit­ter wieder frei­en Zugang nach Jeru­sa­lem zu bekom­men. Es gelang ihnen kurz­fris­tig. Aber die inne­re Zerstrit­ten­heit der euro­päi­schen Fürs­ten war hinder­lich. Also begnüg­te man sich damit, Kreuz­re­li­qui­en zu verehren.

Egal, welche Form ein Kreuz hat, wich­tig ist, was ein Kreuz­zei­chen im Menschen weckt: Wir Chris­tin­nen und Chris­ten verbin­den das Kreuz mit dem Leben, Ster­ben und Aufer­ste­hen Jesu. Das Kreuz steht einer­seits für das Leiden, aber mehr noch für die univer­sel­le, kosmi­sche, heilen­de und alles verbin­den­de Liebe, welche Gott schenkt. Das Kreuz verbin­det Erde und Himmel, und im Glau­ben verbin­det es Menschen miteinander.

Text: Josef Manser, Pfar­rer Seel­sor­ge­ein­heit Gaster

Veröf­fent­li­chung: 11.07.2023

Leser­fra­gen an info@pfarreiforum.ch

«Da steckt viel Beziehung drin»

Wer im hohen Alter zuhau­se wohnen möch­te, ist oft auf Betreu­ung ange­wie­sen. Was es braucht, um faire und nach­hal­ti­ge Care-Migration zu ermög­li­chen, zeigt ein Caritas-Projekt.

Frau Michel, was ist die ­Heraus­for­de­rung in der ­Betreu­ung von Senio­rin­nen und Senioren?

Gudrun Michel: Das Modell der Cari­tas ist die Live-in-Betreuung. Dies bezeich­net die Form der Betreu­ung, bei der die Betreu­ungs­per­son im Haus­halt der zu betreu­en­den Person lebt. Dieses Modell ist sehr indi­vi­du­ell und es steckt viel Bezie­hungs­ar­beit darin. Zudem gibt es im Gegen­satz zur Pfle­ge keine klare Defi­ni­ti­on dazu, was Betreu­ungs­ar­beit ist. Im Prin­zip gehört hier alles dazu, was Senio­rin­nen und Senio­ren in ihrem Alltag unter­stützt wie Einkau­fen, den Haus­halt erle­di­gen, Kochen aber auch gemein­sam Mittag essen und spazie­ren. Daher ist es wich­tig, die Erwar­tun­gen an die Betreu­ung gut zu bespre­chen und dabei auch stets die Mach­bar­keit und die Einhal­tung der Arbeits­zeit im Auge zu behalten.

Gudrun Michel, Leite­rin Caritas-Care

Cari­tas vermit­telt Betreu­ungs­per­so­nen aus Osteu­ro­pa in die Schweiz, neu auch ins Bistum St. Gallen. Wie kommt das?

Gudrun Michel: Ein Haupt­grund ist der Wandel der Gesell­schaft. Wir werden immer älter, was bedeu­tet, dass auch die fragi­le Lebens­pha­se länger wird. Sehr viele hoch­alt­ri­ge Perso­nen brau­chen nur in ihren letz­ten zwei bis drei Lebens­jah­ren Pfle­ge, können davor aber lange Zeit gut zuhau­se leben, sofern sie im Alltag unter­stützt werden. Nun nimmt der Wunsch zuhau­se wohnen zu blei­ben zu, aber auch die Einsam­keit im Alter. Nicht alle haben ein Fami­li­en­netz, das die Betreu­ungs­auf­ga­ben über­neh­men kann. Hier kommen die Betreu­ungs­per­so­nen aus Osteu­ro­pa zum Zug, auch wegen des Fachkräftemangels.

Viele Care-Migrantinnen und ‑Migran­ten arbei­ten hier unter prekä­ren Bedin­gun­gen. Was macht Cari­tas anders?

Gudrun Michel: Als wir mit dem Projekt vor über zehn Jahren star­te­ten, war es unser Ziel, ein nach­hal­ti­ges Care-Angebot aufzu­bau­en. Konkret bedeu­tet das, die Abwan­de­rung von Fach­kräf­ten in den Herkunfts­län­dern zu verrin­gern und faire Arbeits­be­din­gun­gen zu schaf­fen. Wir arbei­ten mit der Cari­tas in Rumä­ni­en und der Slowa­kei zusam­men. Alle, die als Betreu­ungs­per­son in der Schweiz arbei­ten, blei­ben bei der Cari­tas in ihren Herkunfts­län­dern einge­bun­den. Sie arbei­ten eini­ge Wochen in der Schweiz und kehren dann an ihren Arbeits­platz zuhau­se zurück. Der wich­tigs­te Punkt ist, dass sie in beiden Ländern beglei­tet werden. In der Schweiz werden sie durch die Einsatz­lei­ten­den, also diplo­mier­te Pfle­ge­fach­kräf­te, unter­stützt. Mit diesem Modell heben wir uns von ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen ab.

Wie finden Sie Klien­tin­nen und Klien­ten für Cari­tas Care, und wie die Betreuungspersonen?

Gudrun Michel: Eini­ge Perso­nen stos­sen bei Recher­chen im Inter­net selbst auf unser Ange­bot. Ande­re werden über die Alters­stel­len in den Gemein­den, Spitex, Haus­arzt­pra­xen oder Spitä­ler auf uns aufmerk­sam gemacht. Am Tele­fon bespre­chen wir dann die Rahmen­be­din­gun­gen. Anschlies­send besucht eine unse­rer Fach­kräf­te die Person zuhau­se. Poten­zi­el­le Klien­tin­nen und Klien­ten müssen sich bewusst sein, dass in der Schweiz Betreu­ungs­leis­tun­gen privat finan­ziert werden müssen. Pfle­ge­leis­tun­gen, welche in der Regel von einer Spitex-Organisation geleis­tet werden, werden hinge­gen über die Kran­ken­kas­sen abge­rech­net. Die Betreu­ungs­per­so­nen kommen wie gesagt über die Cari­tas in den Herkunfts­län­dern zu uns. Die meis­ten haben eine Ausbil­dung in der Alten­pfle­ge oder Sozi­al­ar­beit absolviert.

Eine gute Ausbil­dung garan­tiert aber noch nicht, dass es bei der Live-in-Betreuung auch zwischen­mensch­lich passt.

Gudrun Michel: Genau, das ist eine Heraus­for­de­rung. Zusam­men in einem Haus­halt zu leben, erfor­dert viel Sensi­bi­li­tät und Bezie­hungs­ar­beit. Das benö­tigt Offen­heit von beiden Seiten. Wenn es nicht passt, suchen wir Lösun­gen. In weni­gen Fällen muss schon mal eine Betreu­ungs­per­son ausge­tauscht werden. Umso wich­ti­ger sind die Abklä­run­gen, Unter­stüt­zung und Rück­spra­chen, die Cari­tas Care durch die diplo­mier­ten Pfle­ge­fach­per­so­nen sowohl den Klien­tin­nen und Klien­ten als auch den Betreu­ungs­per­so­nen bietet. In Zukunft wird es gene­rell eine Heraus­for­de­rung sein, Betreuungs- und Care-Arbeit in unser immer älter werden­den Gesell­schaft sicher­zu­stel­len. Es wird Ansät­ze wie unse­re für die Unter­stüt­zung zuhau­se brauchen.

Faire Betreu­ung Im vergan­ge­nen Jahr arbei­te­ten 37 Betreu­ungs­per­so­nen der rumä­ni­schen Caritas-Organisation Alba Iulia in der Schweiz. Hinzu kamen 17 Betreu­ungs­per­so­nen von Cari­tas Spis in der Slowa­kei. In der Schweiz sind gemäss Cari­tas Care 620 000 älte­re Menschen auf Betreu­ung ange­wie­sen. Viele von ihnen wünschen sich, so lang wie möglich zuhau­se wohnen zu blei­ben. Nach­hal­ti­ge und faire Lösun­gen in Bezug auf Care-Migration haben aller­dings ihren Preis. Im Schnitt 7000 Fran­ken kostet etwa die soge­nann­te Live-in-Betreuung von Cari­tas Care.

Text: Nina Rudnicki

Bilder: zVg.

Veröf­fent­li­chung: 27. Juli 2023

Wolfgang Sieber, Präsident Kolumbansweg Schweiz, stellt anlässlich der «Kolumban’s Days» in St. Gallen die Partnerschafts-Charta vor.

Charta zu Ehren von Kolumban

Vom 7. bis 11. Juli 2023 wird St. Gallen zum Treff­punkt der euro­päi­schen Kolumban-­Bewegung. Höhe­punkt ist die Unter­zeich­nung der neuen Kolumbansweg-Charta. Erwar­tet werden 100 Vertre­ter und Vertre­te­rin­nen aus Irland, Frank­reich, Itali­en und der Schweiz.

Seit der Eröff­nung des Kolumb­ans­wegs in der Schweiz im Juni 2020 hat der Verein «IG Kolumb­ans­weg Schweiz» eini­ge Mass­nah­men ange­stos­sen, um diesen Erin­ne­rungs­weg, der quer durch die Ostschweiz führt, popu­lä­rer zu machen. «Wir haben unter ande­rem eine App entwi­ckelt und zahl­rei­che medi­en­wirk­sa­me Veran­stal­tun­gen mit Promi­nen­ten durch­ge­führt», sagt Wolf­gang Sieber, Vereins­prä­si­dent aus Sargans. Der Bekannt­heits­grad des schweizerischen-österreichischen-liechtensteinischen Teil­stü­ckes der «Via Colum­ba­ni» habe in der Folge laufend zuge­nom­men, ist aber noch nicht so bekannt wie in Irland oder Frank­reich. Nun stehen weite­re Projek­te an, um den Weg bei Pilge­rin­nen wie Wande­rern noch belieb­ter zu machen und die Erin­ne­rung an Kolum­ban leben­dig zu halten sowie die Leis­tun­gen der Mönche zu würdi­gen. Der nächs­te Meilen­stein ist gesetzt: Zum Auftakt des «Columban’s Day» wird die Partnerschafts-Charta für die «Via Colum­ba­ni» vorge­stellt und unter­zeich­net. «Davon profi­tiert natür­lich der Kolumb­ans­weg Schweiz-Österreich-Liechtenstein sehr», sagt Sieber. Während dieser fünf Tage werden insge­samt 500 natio­na­le und inter­na­tio­na­le Gäste erwartet.

Char­ta statt Verein

Die Partnerschafts-Charta beab­sich­tigt, Menschen zusam­men­zu­brin­gen und ein Bezie­hungs­netz zwischen allen Betei­lig­ten zu schaf­fen. Alle, die daran inter­es­siert sind, das Vermächt­nis von Kolum­ban weiter­zu­füh­ren, sind einge­la­den, diese Char­ta zu unter­zeich­nen. Dazu gehö­ren Perso­nen aus loka­len Behör­den, kultu­rel­le Grup­pen, Pilger- und Wander­grup­pen, kirch­li­che Gemein­schaf­ten, Schu­len sowie sozia­le und kommu­na­le Orga­ni­sa­tio­nen, Sport­ver­ei­ne, Beher­ber­ger und Tourismus-Organisationen. Aufgrund von unbe­frie­di­gen­den Erfah­run­gen mit einem inter­na­tio­na­len Verein wurde die Schaf­fung einer Char­ta beschlos­sen. Das Ziel dieser losen Part­ner­schaft ist es, den Kolumb­ans­weg vom Euro­pa­rat als euro­päi­schen Kultur­weg aner­ken­nen zu lassen. «Dieses Ziel soll in eins, zwei Jahren erreicht werden», schätzt Sieber. Der «Columban’s Day» findet jedes Mal an einem ande­ren Ort in Euro­pa statt und dauert norma­ler­wei­se nur zwei Tage. Doch wegen der Char­ta reisen gegen 100 Vertre­ter und Vertre­te­rin­nen aus Irland, Frank­reich, Itali­en und der Schweiz an. «Für die Gäste aus dem Ausland wollen wir ein attrak­ti­ves Rahmen­pro­gramm mit Exkur­sio­nen nach Bregenz und ins Appen­zel­ler­land anbie­ten», sagt Sieber. Und ergänzt: «Wenn sie schon eine solche Reise auf sich nehmen, dann sollen sie auch etwas von der Regi­on sehen und ein paar Tage verweilen.»

Aufnah­me ins Mobil Netz

Eine Zerti­fi­zie­rung würde auch ande­re Projek­te begüns­ti­gen. «Wir sind schon seit Länge­rem mit Schweiz Mobil in Verhand­lung, um eine eige­ne Routen-Nummer für den Kolumb­ans­weg zu erhal­ten, analog zum Jakobs­weg der mit Nummer vier gekenn­zeich­net ist», erklärt Sieber. Ein weite­res Ziel ist eine Liste mit einfa­chen und erschwing­li­chen Pilger­un­ter­künf­ten: «Wir haben zwar auf unse­rer Website verschie­de­ne Hotels, B&B’s und ande­re Herber­gen aufge­lis­tet, aber wir haben immer wieder Anfra­gen nach möglichst güns­ti­gen Unter­künf­ten.» Zudem sei der Verein bemüht, die Plaket­ten und Kleber mit dem Kolumbans-Logo weiter zu vertei­len, um auf den Weg aufmerk­sam zu machen. «Wir haben auch eine Stem­pel­vor­la­ge für Herber­gen und Restau­rants kreiert, damit die Pilge­rin­nen und Pilger an den Etap­pen­zie­len ihre Pilger­päs­se abstem­peln lassen können.» 

Die Plakette, die entlang der 500 Kilometer an ­verschiedenen ­Unterkünften, ­historischen Stätten und Gebäuden angebracht ist.

Pilgern auf der Via Columbani 

Auf der 500 Kilo­me­ter langen Pilger­rou­te von ­Basel bis Chia­ven­na (Itali­en) wird ein Teil­stück nach­ge­bil­det, das der irische Mönch Kolum­ban mit seinen zwölf Gefähr­ten im 6. Jh. von Bangor (Nord­ir­land) nach Bobbio (Nord­ita­li­en) gewan­dert ist. Der Weg durch das Gebiet Schweiz-Österreich-Liechtenstein ist Teil­stück des euro­päi­schen Kolumban-Kulturweges «Via Colum­ba­ni». Die Route ist in 21 Etap­pen à rund 25 km aufge­teilt. Weite­re Infor­ma­tio­nen zum Kolumb­ans­weg und zum «Columban’s Day»: www.kolumbansweg.ch

Text: Katja Hong­ler, Bilder: zVg.

Berühmte Fasnächtlerin und mutige Gläubige

Klara Bischof aus Grub SG baute als Dank für ein Heilungs­wun­der in Lour­des die Kapel­le auf dem Fünf­län­der­blick. Zum 130-Jahr-Jubiläum der Kapel­le Maria Lour­des erin­nert ein Frei­licht­spiel an die ausser­ge­wöhn­li­che Frau.

Viele, die das Ausflugs­ziel Fünf­län­der­blick (auf dem Berg­kamm des Ross­bü­chels) den atem­be­rau­ben­den Blick auf den Boden­see genies­sen, machen auch einen kurzen Halt in der Maria-Lourdes-Wallfahrtskapelle. «Die Kapel­le ist bis heute sehr beliebt», sagt Markus Peter, Präsi­dent der Kath. Kirch­ge­mein­de Eggersriet-Grub SG, auf deren Boden das sakra­le Gebäu­de steht. «In der Kapel­le werden jähr­lich für rund 20 000 Fran­ken Kerzen ange­zün­det.» Dass hinter dieser Kapel­le eine persön­li­che Glau­bens­ge­schich­te steht, weiss jedoch kaum jemand. Das Frei­licht­spiel «Deckers Klara» soll das nun ändern.

Der Fünf­län­der­blick ist ein belieb­tes Ausflugs­ziel, auf dem Weg: Die Lourdes-Kapelle. © Benja­min Manser / Pfarreiforum

In der Kapel­le erin­nert ein Bild an Klara Bischof. © Benja­min Manser / Pfarreiforum

Pilger­rei­se nach Lourdes

«Mich faszi­niert, dass Klara Bischof eine gläu­bi­ge Frau war, die aber trotz­dem ganz unbe­schwert lebte und auch manches Laster hatte», sagt Rebec­ca Heier­li. Die Laien­schau­spie­le­rin, in Ober­egg aufge­wach­sen und jetzt in Eich­berg zuhau­se, spielt im im Frei­licht­spiel die Rolle der Klara Bischof. «Sie war eine Kämp­fe­rin – sie hat für das gekämpft, was ihr wich­tig war. Damit ist sie auch heute ein Vorbild.» Klara Bischof war ein Gruber Dorf­o­ri­gi­nal und in der Regi­on Rorschach, im Appen­zel­ler Vorder­land und weit darüber hinaus bekannt. Sie entstamm­te dem uralten Dach­de­cker­ge­schlecht «Bischof», ein Name, der im st.gallischen Grub fast jeder trug. Um die Fami­li­en besser ausein­an­der­zu­hal­ten, verwen­de­te man Spitz­na­men, die sich entwe­der auf den Wohn­ort oder die beruf­li­che Tätig­keit bezie­hen. Klaras Vater arbei­te­te als Dach­de­cker, so nann­te man die Nach­kom­men­schaft «Deckers». Die im Jahre 1859 gebo­re­ne Klara war ein kränk­li­ches Kind. Eine Pilger­rei­se in den fran­zö­si­schen Wall­fahrts­ort Lour­des brach­te die Wende und schenk­te ihr Gesund­heit. Als Dank für dieses Heil­wun­der plan­te sie als noch junge Frau ihrer Heimat eine Kapel­le zu stif­ten – gegen den Wider­stand des Kirchen­rats. Auf dem Fünf­län­der­blick erwarb sie ein Plätz­chen für dieses Vorha­ben. Klara schlepp­te im «Hand­wä­gel­chen» Sand und Stei­ne auf den Hügel. Nach der Bauzeit, März bis Juni 1892, wurde am 15. August die Kapel­le feier­lich einge­weiht. Mehr als 50 Jahre lang versah Klara den Mess­mer­dienst und bete­te jeden Tag einen Rosen­kranz in dieser Kapelle.

Regis­seur Fred­dy Kunz hat inten­siv über Klara Bischof recherchiert.

Ein Ort für alle

Lynn Blatt­mann ist Histo­ri­ke­rin und lebt in der Nähe der Kapel­le auf dem Fünf­län­der­blick. «Mit der Kapel­le woll­te sie einen Ort für die Menschen schaf­fen, ausser­halb der Dorf­kir­che», sagt sie. «Ihre Kapel­le steht dort, wo die Natur zuhau­se ist, dort wo die Elemen­te toben, der Wind, der Regen, Schnee. Sie steht dort, wo man die ganze Welt sehen oder erah­nen kann, dort, wo man auch mit vielen Sorgen leicht wieder zu sich selbst findet. Klara Bischof hat beim Fünf­län­der­blick einen magi­schen Ort geschaf­fen. Er ist eine stein­ge­wor­de­ne Einla­dung an uns alle, uns selbst nicht immer so wahn­sin­nig ernst zu nehmen, und über uns selbst hinauszuschauen.»

Vorbild für heute

Beim Frei­licht­spiel «Deckers Klara» wirken die Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler des Drama­ti­schen Vereins Ober­egg mit. Der Regis­seur Fredy Kunz, seit 1998 beim Verein tätig, möch­te im Stück Klara als gläu­bi­ge und ausser­ge­wöhn­li­che Frau zeigen. Er erin­nert aber auch an ihre vielen Strei­che, mit denen sie für gros­ses Geläch­ter und Gesprächs­stoff weit über Grub hinaus sorg­te. «Für mich ist Klara Bischof auch eine star­ke Frau­en­fi­gur», sagt Rebec­ca Heier­li, «sich als Frau in der dama­li­gen Zeit von der Obrig­keit nicht von ihrem Ziel abbrin­gen zu lassen, das brauch­te noch viel mehr Mut als heute. Ich finde, sie ist auch eine gute Inspi­ra­ti­on für die heuti­gen Anlie­gen der Frau­en­be­we­gung in der Gesell­schaft und auch in der Kirche.» Die Klara-Darstellerin freut sich auf die Auffüh­run­gen: «Der Fünf­län­der­blick ist eine atem­be­rau­ben­de Kulis­se und macht das Frei­licht­spiel gleich noch spannender.»

Rebec­ca Heier­li spielt die Klara Bisch­off — sie ist ein Vorbild für die Laien­schau­spie­le­rin. © Benja­min Manser / Pfarreiforum

Premie­re am 11. August

Insge­samt rund 7200 Zuschaue­rin­nen und Zuschau­er wollen die Verantwort­lichen des Frei­licht­spie­les errei­chen. Die Premie­re findet am 11. August statt. ­Daten der weite­ren elf Auffüh­run­gen und Tickets:

→ deckersklara.ch

Text: Stephan Sigg

Bilder: Benja­min Manser

Veröf­fent­li­chung: 22. 06. 2023

Einem Käfer ebenbürtig

Mina Inauen-Neff von Appen­zell (73) singt den Betruf seit sie als zwölf­jäh­ri­ges Mädchen bei ihrem Vater auf der Alp gear­bei­tet hat. «Es hat sich so erge­ben», sagt die Älple­rin, die 2012 im Kino­film «Alpse­gen» porträ­tiert wurde. 

Seit zwan­zig Jahren verbringt Mina Inauen-Neff die Sommer­mo­na­te zusam­men mit ihrem Mann sowie rund 40 Tieren auf der Alp Streck­wees (1257 m. ü. M) im Alpstein, wo sie jeden Abend den tradi­tio­nel­len Betruf durch den Trich­ter singt. Als Mesme­rin ist sie zudem für die Berg­got­tes­diens­te in der nahge­le­ge­nen Kapel­le «Maria Heim­su­chung» zustän­dig. Die pensio­nier­te Handarbeits- und Haus­wirt­schafts­leh­re­rin ruft den Alpse­gen aus tiefer, inne­rer Über­zeu­gung: «Der Betruf gibt mir Kraft und ich kann damit meine Dank­bar­keit ausdrü­cken. Wir sind in der Natur in Gottes Hand gebor­gen, aber wir sind nicht mehr als ein Teil davon.» Wer den Natur­ge­wal­ten in der Berg­welt ausge­setzt ist, erlebt die eige­ne Exis­tenz ganz bewusst als Teil des Ganzen. «Du bist nicht mehr als so ein Käfer – du bist ande­ren Lebe­we­sen eben­bür­tig und du sollst dich nicht als Beherr­scher der Natur aufspie­len», sagt sie. 

Volks­tüm­li­cher Charakter

Den Betruf bezeich­net Inau­en als «singen­des Gebet», von dem man sagt, es sei doppelt so viel wert. Man bittet die Heili­gen und Schutzpatrone, sie mögen Mensch, Tier und Alp von Unge­mach fern­hal­ten. Am besten gefällt ihr die Text­stel­le «Bhüets Gott allsa­me, seis Fründ oder Feind ond di lieb Mutter Gottes mit erem Chend», weil mit «allsa­me», alle gemeint sind und somit alle Menschen ins Gebet aufge­nom­men werden. «Wir bitten Gott, dass er uns alle beschützt und behü­tet», so Inau­en. Der Wort­laut des Betrufs vari­iert von Regi­on zu Regi­on. Der Text des Inner­rho­der Betrufs in der Fassung von 1948 stammt von Pater Erich Eber­le und basiert auf der Melo­die von Pater Ekke­hard Högger, «wobei es bei der Tonla­ge schon klei­ne­re Abwei­chun­gen gibt, je nach­dem wer den Betruf ausruft», ergänzt Inau­en. Der halb gespro­che­ne, halb gesun­ge­ne Alpse­gen erhält zusam­men mit dem mund­art­lich gefärb­ten Hoch­deutsch seinen unver­kenn­ba­ren, volks­tüm­li­chen Charakter. 

Keine Sonder­rol­le als Frau

Übli­cher­wei­se ruft der Senn den Betruf aus. Dass sie die einzi­ge Frau sein soll, die den Alpse­gen pflegt, hat für sie wenig Bedeu­tung. Ihrer Meinung nach können Frau­en und Männer gleich wohl beten. Es habe sich damals einfach so erge­ben. Sie erin­nert sich: «Als ich damals als zwölf­jäh­ri­ges Mädchen als ‹Hand­bueb› bei meinem Vater auf der Alp gear­bei­tet habe, hat mich der Milch­kon­trol­leur eines Tages auf den Trich­ter ange­spro­chen. Es herrsch­te schlech­tes Wetter und er hatte gera­de Zeit, mir den Betruf beizu­brin­gen.» Seit­her holt sie den Holz­trich­ter jeden Abend zwischen 19 und 20 Uhr hervor und steht auf den Stein neben der Alphüt­te. «Ich mache es immer zu dieser Zeit – und ich mache es auch nicht den Touris­ten zulie­be früher oder später», sagt die Älplerin. 

Tradi­ti­on soll weitergehen

Sie wird heute noch oft auf ihre Rolle im Kino­film «Alpse­gen» von Bruno Moll ange­spro­chen, der 2012 ausge­strahlt wurde. Es sei eine schö­ne Erfah­rung gewe­sen, aber auch streng, weil sie vor laufen­der Kame­ra spon­tan auf tief­grün­di­ge Fragen antwor­ten muss­te. «Ich habe sehr viele, posi­ti­ve Rück­mel­dun­gen erhal­ten und ich habe gemerkt, dass viele Leute nur wenig Ahnung vom Alple­ben haben.» Laut Inau­en zeigt der Film neben den schö­nen Seiten auch die anstren­gen­de Arbeit und die unmit­tel­ba­ren Gefah­ren in der Berg­welt. Wie es mit der Fami­li­en­tra­di­ti­on einmal weiter­ge­hen soll, weiss sie noch nicht. Wich­tig sei ihr, dass der Alpse­gen nicht zur Touris­ten­ak­ti­on verkom­me. «Ich bin zuver­sicht­lich, dass diese schö­ne Tradi­ti­on auf der Alp Streck­wees weiter­ge­pflegt wird».

Text: Katja Hongler

Bild: Annet­te Boutellier

Veröf­fent­licht: 05. Juni 2023

Endlich wieder gut schlafen

Egal ob Schlaf­stö­run­gen, nerv­li­che Belas­tun­gen oder Heuschnup­fen – die Haus­mit­tel aus dem Klos­ter St. Otti­lia in Grim­men­stein (Walzen­hau­sen) haben schon vielen bei körper­li­chen Beschwer­den gehol­fen. Sr. Danie­la und Sr. Michae­la geben dem Pfar­rei­fo­rum ­­einen exklu­si­ven Einblick in den Klos­ter­gar­ten und die Herstel­lung der Haus­mit­tel. Sie verra­ten, was das Beson­de­re an Haus­mit­teln aus dem Klos­ter ist.

Sr. Danie­la (links) und Sr. Michae­la sind von Ostern bis Ende Okto­ber täglich im Garten des Klos­ters St. Otti­lia, Grim­men­stein, Walzen­hau­sen anzutreffen.

In letz­ter Zeit kommen vermehrt Menschen zu uns, die von nerv­li­chen Proble­men, Schlapp­heit oder Husten geplagt sind», erzählt Sr. Michae­la. Sie ist im Klos­ter Grimmen­stein für die Herstel­lung und Produk­ti­on der Haus­mit­tel verant­wort­lich. Die wich­tigs­ten Zuta­ten dafür stam­men aus ihrem Klos­ter­gar­ten. Für diesen ist Sr. Danie­la zustän­dig. Der Garten ist für beide mehr als nur ein Arbeits­ort. «Wenn endlich der Früh­ling kommt, können wir es meis­tens kaum erwar­ten, wieder im Garten zu sein und uns um die Pflan­zen zu kümmern», sagt Sr. Danie­la. Das weittläu­fi­ge Grund­stück mit Blick auf den Boden­see ist unter­teilt in einen Kräuter- und einen Gemü­se­gar­ten. Über fünf­zig Kräu­ter wach­sen hier. Das Wissen über ihre Wirk- und Heil­kräf­te hat Sr. Danie­la von ihren Vorgän­ge­rin­nen gelernt und selber via Bücher und Inter­net erwei­tert. «Wir haben zwar alte Rezept­bü­cher, aber die Rezep­te wurden immer münd­lich weiter­ge­ge­ben», sagt sie. «Das Wissen um die Heil­kräu­ter wird auch nicht inner­halb des Ordens oder mit ande­ren Klös­tern ausge­tauscht. Es sind die Rezep­te von unse­rem Kloster.»

Sr. Michae­la verant­wor­tet den Laden mit den Heilmitteln.

Altbe­währ­te Rezepte

Verschie­de­ne Stär­kungs­mit­tel, Tees, Trop­fen, Salben, Pulver und Balsam – das Sorti­ment des Klos­ters Grim­men­stein  ist gross. Eines wird dabei aber auch sicht­bar: Es geht um eine ganz­heit­li­che Medi­zin. Die Mittel zielen nicht nur auf das Lindern von bestehen­den Beschwer­den ab, sondern setzen bereits bei der Präven­ti­on an. Dazu gehört auch eine gesun­de und ausge­wo­ge­ne Ernäh­rung. Neu produ­zie­ren die Schwes­tern auch Kräu­ter­sal­ze für die Küche. Schon immer sei die Herstel­lung von Haus­mit­teln ein wich­ti­ges Aufga­ben­ge­biet im Klos­ter St. Otti­lia Grim­men­stein gewe­sen. Entstan­den ist das Kapu­zi­ne­rin­nen­klos­ter im Jahr 1378 aus einer klei­nen Begi­nen­ge­mein­schaft (halb­klös­ter­li­che Gemein­schaft). Mit dem Verkauf von Haus­mit­teln sei es aber erst in den 1950er-Jahren rich­tig losge­gan­gen. An ihre Vorfah­rin­nen erin­nert im Lager ein Regal mit 100-jährigen Tontöp­fen. «Das ist aber nur zur Zier­de, wir arbei­ten heute mit ande­ren Behäl­tern.» Auch wenn die Haus­mit­tel auf altbe­währ­ten Rezep­ten beru­hen, werden die Rezep­te immer wieder weiter­ent­wi­ckelt und an den aktu­el­len Wissens­stand ange­passt. Die wich­tigs­te Zutat sei jedoch immer das Gebet. «Wir beten bei jedem Arbeits­schritt.» Mit dem Waren­lift, der vor ein paar Jahren einge­baut wurde, geht es vom Erdge­schoss bis ins Dach­ge­schoss – dort haben Sr. Danie­la und Sr. Michae­la gera­de frisch gepflück­te Blüten zum Trock­nen ausge­legt. Der Waren­lift und die Anschaf­fung der einen oder ande­ren Maschi­ne haben die Produk­ti­on verein­facht, das meis­te ist jedoch bis heute Hand­ar­beit. Das sei körper­lich manch­mal anstren­gend. «Doch es ist eine erfül­len­de Aufga­be und so etwas wie eine Beru­fung. Wir verste­hen die Herstel­lung der Haus­mit­tel als Dienst für die Menschen.» Moti­vie­rend seien für sie auch die Rück­mel­dun­gen, die sie bekom­men: «Wir erfah­ren sehr viel Dank­bar­keit – und dass die Menschen auf uns setzen, ist auch ein Ausdruck von Vertrau­en.» Unter­stützt werden die beiden Schwes­tern von zwei Ange­stell­ten, die stun­den­wei­se im Garten und in der Verar­bei­tung helfen. Der Verkauf der Haus­mit­tel gene­rie­re für die Gemein­schaft ein wich­ti­ges Einkom­men. Trotz­dem versu­chen die Schwes­tern, die Produk­te möglichst güns­tig anzu­bie­ten. «In unse­rer Gemein­schaft galt schon immer der Tenor: Die Produk­te sollen für möglichst alle erschwing­lich sein.»

Sr. Danie­la legt im Dach­stock die Blüten zum Trock­nen aus.

Gros­se Nachfrage

Im Unter­schied zu ande­ren Klös­tern hat das Klos­ter Grim­men­stein keinen Shop – die Produk­te werden an einem Schal­ter verkauft. «So können wir, wenn es gewünscht wird, die Menschen besser bera­ten», erklärt Sr. Michae­la. Es gehe oft um viel mehr als nur um den Verkauf von Produk­ten: «Viele, die zu uns kommen, haben das Bedürf­nis nach einem offe­nen Ohr: Sie möch­ten mit uns über ihre Sorgen und Nöte spre­chen. Heute bleibt im Alltag oft kaum Zeit für Gesprä­che, deshalb ist es uns beson­ders wich­tig, uns Zeit für die Menschen zu nehmen.» Das Ange­bot wird rege genutzt – es kommen Menschen aus der ganzen Deutsch­schweiz, aus dem benach­bar­ten Vorarl­berg und auch aus Deutsch­land. Viele würden durch Mund-zu-Mund-Propaganda auf das Klos­ter aufmerk­sam. Zu den Kundin­nen und Kunden gehö­ren Menschen, die mit der Kirche verbun­den sind, aber auch Kirchen­fer­ne und auch Ange­hö­ri­ge  von ande­ren Konfes­sio­nen und Reli­gio­nen. Die beiden Schwes­tern nehmen wahr, dass sich in den letz­ten Jahren wieder ein neues Bewusst­sein für die Heil­kräf­te der Natur entwi­ckelt hat. Das ist auch beein­flusst von Papst Fran­zis­kus, der mit seinem Lehr­schrei­ben «Lauda­to si» auf die Schöp­fungs­ver­ant­wor­tung und die Natur als Schöp­fung Gottes aufmerk­sam gemacht hat. «Zudem hat die Corona-Pandemie dazu geführt, dass sich viele wieder vermehrt über­le­gen, wie sie die natür­li­chen Abwehr­kräf­te und das Immun­sys­tem stär­ken können», so Sr. Daniela.

Über fünf­zig Kräu­ter und Pflan­zen wach­sen im Klos­ter St. Otti­lia, Grim­men­stein, Walzenhausen

Jugend­li­che zu Gast

Sechs Schwes­tern leben heute im Klos­ter St. Otti­lia. Wie viele ande­re Klös­ter sind sie auch hier mit dem stei­gen­den Alters­durch­schnitt der Mitschwes­tern und ausblei­ben­den Neuein­trit­ten konfron­tiert. Trotz­dem blicken Sr. Danie­la und Sr. Michae­la gelas­sen in die Zukunft. «Da unse­re Klos­ter­kir­che auch Pfarr­kir­che ist, sind wir mit vielen Menschen in Kontakt», sagt Sr. Danie­la, «Wir bieten regel­mäs­sig Klos­ter­ta­ge für junge Frau­en an.» Sr. Michae­la ergänzt: «Zudem sind auch immer wieder Firm­grup­pen oder Schul­klas­sen bei uns zu Gast. Das ist für uns auch eine Möglich­keit, auf unse­re Tradi­ti­on aufmerk­sam zu machen und die Bedeu­tung der Heil­pflan­zen aufzu­zei­gen.» Für die Jugend­li­chen sei das oft ganz neu, aber sie würden sehr inter­es­siert reagie­ren. Die beiden Schwes­tern rech­nen auch in Zukunft mit einer Nach­fra­ge nach Haus­mit­teln, die auf altbe­währ­ten Rezep­ten basie­ren. Sr. Michae­la öffnet eine Kiste – es riecht sofort inten­siv nach Sommer­wie­se – und greift nach einer Verpa­ckung. «Das ist eine Neuheit», sagt sie und lacht, «wir haben unse­re Tees umbe­nannt. Jetzt trägt jeder Tee den Namen einer Heili­gen.» Es gibt einen Klara-Tee, einen Brigida-Tee und natür­lich auch einen Tee mit dem Namen der Klos­ter­pa­tro­nin Otti­lia. Die Heiligen-Namen sollen bei den Käufe­rin­nen und Käufer die Wieder­erken­nung stär­ken, aber gleich­zei­tig auch noch mehr in den Fokus rücken: Die Haus­mit­tel aus dem Klos­ter Grim­men­stein sind ganz eng verwo­ben mit dem Glau­ben der Schwes­tern und der Spiri­tua­li­tät der Kapuzinerinnen-Gemeinschaft.

Die Teemi­schun­gen tragen neu den Namen von Heiligen.

Euro­päi­sche Verei­ni­gung für Tradi­tio­nel­le Euro­päi­sche Medi­zin tagt in St. Gallen

In der medi­zi­ni­schen Präven­ti­on und Thera­pie wird das uralte Wissen um die Heil­kräf­te der Pflan­zen – das im euro­päi­schen Raum zum gros­sen Teil auf den Klös­tern und berühm­ten kirch­li­chen Pionie­ren wie der Heili­gen Hilde­gard von Bingen oder den Pries­tern Sebas­ti­an Kneipp und Johan­nes Künz­le beruht – wieder neu entdeckt. Am 17. Juni 2023 hält die Euro­päi­sche Verei­ni­gung für Tradi­tio­nel­le Euro­päi­sche Medi­zin TEM ihre Grün­dungs­ver­samm­lung im Stifts­be­zirk St. Gallen ab (Musik­saal des Deka­nat­flü­gels). Die Grün­dungs­ver­samm­lung ist gleich­zei­tig eine Tagung, bei der Fach­leu­te für TEM und inter­es­sier­te Laien Wissen über die TEM austau­schen und sie gemein­sam vorwärts­brin­gen, wie die Orga­ni­sa­to­ren auf ihrer Website schrei­ben. Es refe­rie­ren verschie­de­ne Exper­tin­nen und Exper­ten aus den Berei­chen Phar­ma­zie, Ernäh­rungs­wis­sen­schaf­ten und Komple­men­tär­me­di­zin. Unter den Refe­ren­ten ist auch Cornel Dora, Stifts­bi­blio­the­kar. Dieser spricht über das Klos­ter St. Gallen als ein Ort des Heilens im Frühmittelalter.

Infos TEM: https://tem-forum.org

Text: Stephan Sigg

Bild: Regi­na Kühne

Veröf­fent­li­chung: 24.05.2023

Weder Gold noch Protz

Im Dach­saal der Props­tei St. Peter­zell insze­niert der Künst­ler Det Blum­berg Fund­stü­cke aus Kirchen neu – und fordert zum kriti­schen Nach­den­ken auf.

«Wenn alte Zeiger stehen blei­ben, muss etwas Neues kommen», sagt Det Blum­berg, als er in den Dach­saal der Props­tei St. Peter­zell führt. Den bespielt der Künst­ler anläss­lich des 300-Jahr-Jubiläums der Kirche Peter und Paul vom 17. Mai bis 17. Dezem­ber. Wer den Saal betritt, findet sich zunächst vor den zwei grossen, alten Uhrzei­gern des Kirch­turms und ist mitten­drin im Thema der Ausstel­lung «Licht­blick Dorf 9» von Det Blum­berg. Mit dieser möch­te der 69-jährige Künst­ler mit Allgäu­er Wurzeln zum kriti­schen Nach­den­ken auffor­dern: Wie soll Kirche sein, wenn sie auch in Zukunft bestehen möchte?

Vom Poli­zis­ten zum Künstler

Bevor es weiter durch die Ausstel­lung geht, öffnet Det Blum­berg aber die Türe zu einer Kammer gleich neben dem Dach­saal. In der Kammer reihen sich unzäh­li­ge Fund­stü­cke aus der Props­tei, wie alte Statu­en von Heili­gen, Kerzen­stän­der, Kisten gefüllt mit Kreu­zen und eini­ge stau­bi­ge Schrän­ke. Zwischen all diesen Schät­zen erzählt Det Blum­berg, wie er Mona­te damit verbracht hatte, die Fund­stü­cke zu sich­ten, inter­es­san­te Gegen­stän­de heraus­zu­su­chen und die Themen für die Ausstel­lung zu gestal­ten. Und er erzählt, wie er vor drei Jahr­zehn­ten seinen Beruf als Einsatz­lei­ter bei der Poli­zei aufgab, beschloss Kunst zu machen und während einer Reise in Mexi­ko über­ra­schend Gott wieder fand. «Als Einsatz­lei­ter stumpf­te ich ab, wurde zu herrisch und konn­te keine Kritik mehr dulden», sagt er. Auch aus der Kirche war Det Blum­berg zu dieser Zeit ausge­tre­ten. Zu vieles hatte ihn irri­tiert – so auch während einer Reise durch Mexi­ko. «Über­all gab es diese gros­sen, präch­ti­gen Kathe­dra­len. Während einer Führung frag­te ich mich, wo ich zwischen all dem Gold denn Gott finden soll und woll­te zornig die Kathe­dra­le verlas­sen», sagt er. «Dann stand ich dann plötz­lich vor einer klei­nen, mit buntem Papier, Glas und Saat­gut ausge­schmück­ten Seiten­ka­pel­le. Es war, als ob mir Gott auf die Schul­tern gestupst und gesagt hätte: Da findest du mich.»

Ein leerer Tabernakel

Heute ist Det Blum­berg wieder Kirchen­mit­glied. Auch Glau­be und Kunst haben sich für ihn nach und nach zusam­men­ge­fügt. In den vergan­ge­nen Jahren hat er zahl­rei­che Ausstel­lun­gen in Kirchen und Klös­tern der Regi­on reali­siert. Altes zeigen vor moder­nem Kontext, ist eines der Themen, das sich durch seine Arbei­ten zieht. So geht es auch in der Ausstel­lung in der Props­tei von den Zeigern des Kirch­turms weiter zu einer Art Altar­raum. Dort stehen Kirchen­bän­ke mit origi­na­len, guss­ei­ser­nen Seiten­leh­nen. Statt eines Altars findet sich aber ein Flach­bild­fern­se­her, in dem medi­ta­ti­ve Film­aus­schnit­te zu sehen sind. In einer weite­ren Ecke steht ein leerer und stau­bi­ger Taber­na­kel, in dem eigent­lich die Hosti­en aufbe­wahrt werden. «Wo wohnt Gott?» – darüber sollen die Besu­che­rin­nen und Besu­cher hier nach­den­ken. Letz­te Stati­on ist ein langer Tisch mit zwölf grau­en Stüh­len und einem gelben Stuhl. Die Szene erin­nert an das letz­te Abend­mahl. An den Wänden hängen Fotos von Det Blum­bergs Part­ne­rin Clau­dia Gruber – die beiden wohnen zusam­men gleich gegen­über der Props­tei. Die Fotos wurden alle im Umkreis von 500 Metern um die Props­tei aufge­nom­men und halten in Farb- und Form­fül­le die Schön­heit der Schöp­fung fest. Det Blum­berg sagt: «Die Fotos brin­gen Gott in den Raum. Das ist auch die Idee von diesem Tisch. Er lädt verschie­de­ne Grup­pen ein, sich hinzu­setz­ten, zu disku­tie­ren und sich über aktu­el­le Themen auszutauschen.»

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 8. Mai 2023

Aus altem Wissen schöpfen

Wieso uns die ganz­heit­li­che Medi­zin des Mittel­al­ters bis heute faszi­niert und was wir aus ­Legen­den der dama­li­gen Zeit erfah­ren, sagt Stifts­bi­blio­the­kar Cornel Dora im Interview.

Klos­ter­me­di­zin und Natur­heilkunde sind im Trend. Wie hängen aber Chris­ten­tum und Medi­zin zusammen?

Cornel Dora: Wurde früher jemand krank, war es lange Zeit Aufga­be der Fami­lie, diese Person zu pfle­gen. Erste Vorläu­fer von Spitä­lern gab es bei den Römern, wobei es dort vor allem um die Versor­gung der Wunden der Solda­ten ging. Als das Chris­ten­tum aufkam, änder­te sich das. Die Erzäh­lung vom Barm­her­zi­gen Sama­ri­ter im Neuen Testa­ment beispiels­wei­se ruft zur Nächs­ten­lie­be auf und erin­nert daran, dass alle für ihre Mitmen­schen verant­wort­lich sind. Es ist also Teil des christ­li­chen Funda­men­tes, für Kran­ke und Arme da zu sein.

Cornel Dora

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Welche Rolle spiel­te das ­Klos­ter St. Gallen?

Cornel Dora: Das Klos­ter St. Gallen hatte ein gros­ses Einfluss­ge­biet sowie den medi­zi­ni­schen Auftrag, für die Armen zu sorgen. Dabei müssen wir wissen, dass wer damals krank war mit gros­ser Wahr­schein­lich­keit früher oder später auch arm wurde. Auf dem St. Galler Klos­ter­plan von 825 waren eine Armen­her­ber­ge, zwei Häuser für Ader­lass und Baden, ein Ärzte­haus für Opera­tio­nen sowie ein Heil­kräu­ter­gar­ten vorge­se­hen. Die Menschen im Umfeld des Klos­ters fanden hier auch Fach­per­so­nal. Im 10. Jahr­hun­dert war Notker, der Arzt aus St. Gallen, weit herum bekannt – er wirk­te auch am Hof Ottos des Gros­sen. Zu Notker dem Arzt gibt es dazu zahl­rei­che Über­lie­fe­run­gen in der Stifts­bi­blio­thek wie etwa jene des Herzogs von Bayern, der Notker testen woll­te und ihm den Urin seiner gesun­den Zofe statt seines eige­nen gab. Nach der Unter­su­chung verkün­de­te Notker, es sei ein Wunder gesche­hen, der Herzog erwar­te ein Kind.

Das klingt eher nach einer Legende.

Cornel Dora: Ja, das mag sein. Aber, ob Legen­de oder nicht, bele­gen solche Über­lie­fe­run­gen, dass damals schon bekannt war, dass man im Urin eine Schwan­ger­schaft able­sen konnte.

Welche weite­ren medi­zi­ni­schen Hand­schrif­ten sind in der Stifts­bi­blio­thek erhalten?

Cornel Dora: Wir haben Über­lie­fe­run­gen von anti­ken und früh­mit­tel­al­ter­li­chen Rezept- und Arznei­bü­chern. Dazu gehört etwa das Liber Medi­cina­lis, ein medi­zi­ni­sches Hand­buch des römi­schen Gelehr­ten Quin­tus Sere­nus Sammo­ni­cus. Die Werke aus dieser Zeit zeigen auf, wie die Medi­zin bis ins Früh­mit­tel­al­ter mit Magie durch­drun­gen war. Gemäss dem Liber Medi­cina­lis galt etwa das Wort Abra­ka­da­bra als Mittel gegen Mala­ria. Man schrieb das Wort auf eine Karte und wieder­hol­te es immer wieder, wobei man jedes Mal einen weite­ren Buch­sta­ben wegliess. So wie das Wort soll­te auch die Krank­heit verschwinden.

Im Juni wird in der Stifts­bi­blio­thek die Verei­ni­gung für euro­päi­sche tradi­tio­nel­le Medi­zin (TEM) gegrün­det. Wieso faszi­niert uns tradi­tio­nel­le Medi­zin wie Klos­ter­me­di­zin bis heute?

Cornel Dora: Die heuti­ge moder­ne Medi­zin ist wirkungs­ori­en­tiert. Es gibt einen Wirk­stoff, der die jewei­li­ge Krank­heit ganz gezielt bekämpft, möglichst ohne Neben­wir­kun­gen. Viele Krank­hei­ten sind aber komple­xer und kompli­zier­ter. Im Mittel­al­ter war die Medi­zin zwar weni­ger wirkungs­voll, sie schau­te aber gemäss der damals verbrei­te­ten 4‑Säfte-Lehre immer ganz­heit­lich auf den Menschen. Die Theo­rie ging davon aus, dass die Gesund­heit des Menschen davon abhing, ob die vier Säfte Blut, Schleim (Phleg­ma), gelbe Galle (Chole­ra) und schwar­ze Galle (Melan­cho­lie) im Gleich­ge­wicht waren. Basie­rend darauf beka­men die Erkrank­ten dann keinen einzel­nen Wirk­stoff, sondern einen Medi­ka­men­ten­cock­tail, welcher der oder dem Kran­ken insge­samt helfen sollte.

Sie sagen also, dass der ganz­heit­li­che Ansatz heute zu kurz kommt?

Cornel Dora: Ich denke, dass der ganz­heit­li­che Ansatz für viele Menschen heute zu kurz kommt und die tradi­tio­nel­le Medi­zin dies­be­züg­lich posi­tiv etwas beitra­gen kann. Es geht nicht darum, eine Ideo­lo­gie zu pfle­gen, sondern das Poten­zi­al dieses alten Wissens ergän­zend zur sehr leis­tungs­fä­hi­gen moder­nen Medi­zin zu nutzen. Dank unse­rer histo­ri­schen Samm­lung passen die Stifts­bi­blio­thek und die Euro­päi­sche Verei­ni­gung für TEM gut zusammen.

Text: Nina Rudnicki

Bilder: Cornel Dora: Foto Marlies Thurn­heer, ­Leader; Putte: Urs Baumann, Stifts­bi­blio­thek St. Gallen

Veröf­fent­li­chung: 22. Mai 2023

Gefangen und ausgestellt

Ein Käfig als Sinn­bild für die Situa­ti­on von Armuts­be­trof­fe­nen: Cari­tas St. Gallen-Appenzell stell­te das Projekt rund um die Kunst­in­stal­la­ti­on beim Diakonie-Treffen in Rorschach vor. 

«Will­kür», «Schuld», «Vorur­tei­le», «Ohnmacht», «Scham» und «Fremd­be­stim­mung» steht auf verschie­de­nen Schil­dern. Sie konfron­tie­ren den Betrach­ter mit der komple­xen Situa­ti­on von armuts­be­trof­fe­nen Menschen, die sich durch alle Lebens­be­rei­che zieht. Im Innern des Käfigs sind emotio­na­le State­ments von Armuts­be­trof­fe­nen auf lami­nier­tem Papier zu lesen. Beim Tref­fen der Diakonie-Ressortbeauftragten aus dem ganzen Bistum St. Gallen Mitte März in Rorschach zeig­te Cari­tas St. Gallen-Appenzell den beklem­men­den Käfig zum ersten Mal und stell­te Ideen für zukünf­ti­ge Einsät­ze in den Seel­sor­ge­ein­hei­ten zur Diskus­si­on. «Die Anre­gung für die Käfig-Kunstinstallation ist im Herbst 2022 bei einem Tref­fen mit der Orga­ni­sa­ti­on ‹verkehrt Bern› entstan­den», sagt Olivia Conrad, Mitar­bei­te­rin Diako­nie­ani­ma­ti­on der Cari­tas Regio­nal­stel­le Sargans. «verkehrt Bern» ist eine Gemein­schaft aus Sozi­al­ar­bei­ten­den und armuts­be­trof­fe­nen Menschen, die sich frei­wil­lig enga­gie­ren und mit krea­ti­ven Aktio­nen auf die Armuts­si­tua­ti­on in der Schweiz aufmerk­sam machen. «Ich habe sie kontak­tiert, weil ich gerne eine über­kan­to­na­le Akti­on planen woll­te, die möglichst viele Menschen in der Ostschweiz erreicht», erklärt die Sozi­al­ar­bei­te­rin. Im gemein­sa­men Brain­stor­ming mit Armuts­be­trof­fe­nen ist die Idee mit dem Käfig entstan­den: «Wir wollen mit einem 3D-Objekt das Gefühl von gefan­gen und ausge­stellt sein sicht­bar machen», sagt Conrad. Für die plas­ti­sche Gestal­tung wurde der frei­schaf­fen­de Künst­ler Manfred Syts­ma aus Bern enga­giert. Er hat eine modu­la­re Holz­kon­struk­ti­on gefer­tigt, die durch den rost­ar­ti­gen Anstrich sehr authen­tisch wirkt. 

Einbin­den statt ausgrenzen

Den ersten Auftritt hatte der Käfig auf dem Berner Bundes­platz im Febru­ar 2023 am inter­na­tio­na­len Tag der sozia­len Gerech­tig­keit. «Der Käfig zog viele inter­es­sier­te Menschen aus allen sozia­len Schich­ten an und es entstan­den span­nen­de Gesprä­che», so Conrad. Nun geht es darum, weite­re Aktio­nen in den verschie­de­nen Seel­sor­ge­ein­hei­ten des Bistums zu planen. Inter­es­se am Aufbau des Käfigs zeigt Franz Schi­b­li, Leiter Sozia­les der Katho­li­schen Pfarr- und Kirch­ge­mein­de Wil: «Fürs nächs­te Jahr planen wir, zusam­men mit ande­ren Sozi­al­part­nern neue Gefäs­se zu schaf­fen, um gemein­sam mit betrof­fe­nen Perso­nen konkre­te Mass­nah­men in der Armuts­prä­ven­ti­on und ‑bekämp­fung anzu­stos­sen.» Zentral dabei sei, dass das Wissen und die Erfah­rung von Betrof­fe­nen vor allem auch in der Sozi­al­hil­fe einbe­zo­gen werden. Es gehe auch darum, Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ge­rin­nen und ‑empfän­ger eine Stim­me zu geben, die gehört werde. Das wäre der erste Schritt, aus der Armuts­spi­ra­le auszu­bre­chen. Das Ganze mache jedoch nur Sinn, wenn auch die loka­le Sozi­al­be­hör­de gewillt sei, einen derar­ti­gen Prozess zu unter­stüt­zen. «Für den Start­schuss dieser Akti­on wäre der Käfig ein idea­les Symbol gegen die Demü­ti­gung von Armuts­be­trof­fe­nen», sagt der Theo­lo­ge und Sozi­al­ar­bei­ter und spricht damit die gros­se Hürde bei einer Sozialhilfe-Anmeldung an: «Wenn jemand beim Sozi­al­amt um Hilfe bittet, muss man ein 15-seitiges Formu­lar mit 25 Beila­gen einrei­chen und somit das komplet­te Privat­le­ben preisgeben.»

Armut kann alle treffen

Armut wird ausge­löst durch Schick­sa­le wie Krank­heit, Unfall, Schei­dung, Arbeits­lo­sig­keit oder Erwerbs­tä­tig­keit im Tief­lohn­seg­ment. Es kann jeden und jede tref­fen. Dies zu verste­hen, hilft die Klischees abzu­bau­en, die an armuts­be­trof­fe­nen Menschen haften. «Viele glau­ben, dass ihre Situa­ti­on selbst­ver­schul­det ist. Diese Pauscha­li­sie­rung ist falsch und löst bei Betrof­fe­nen oft Scham­ge­füh­le aus», weiss Conrad aus ihrer Arbeit mit armuts­be­trof­fe­nen Menschen. Laut der Schwei­ze­ri­schen Konfe­renz für Sozi­al­hil­fe (SKOS) haben im Jahr 2021 über 265 000 Menschen in der Schweiz Sozi­al­hil­fe bezo­gen. Die Sozi­al­hil­fe ist das letz­te Netz, wenn jemand keine Arbeit mehr findet, alles Vermö­gen aufge­braucht ist und keine der Sozi­al­ver­si­che­run­gen zustän­dig ist. 

Gefan­gen im System

Aus dieser Situa­ti­on heraus­zu­kom­men, ist nicht einfach. Auch wenn man wieder Arbeit findet, verlan­gen die Sozi­al­äm­ter in eini­gen Kanto­nen das Geld, das ausbe­zahlt wurde, zurück. «Für Betrof­fe­ne ist es deshalb schwie­rig bis aussichts­los, sich aus diesem Kreis­lauf jemals befrei­en zu können», sagt Conrad. Für diese Situa­ti­on ist der Käfig ein passen­des Sinn­bild. In der Armuts­the­ma­tik dürfen die soge­nann­ten «Working Poor» nicht verges­sen werden: Perso­nen, die im Tief­lohn­seg­ment arbei­ten und keinen Anspruch auf Sozi­al­hil­fe haben, aber trotz­dem am Exis­tenz­mi­ni­mum leben. Cari­tas St. Gallen-Appenzell geht davon aus, dass circa 50 000 Menschen im Kanton St. ­Gallen und den beiden Appen­zell  trotz Arbeit in Armut leben oder armuts­ge­fähr­det sind und keine staat­li­che Unter­stüt­zung beziehen.

Die modu­lar aufbau­ba­re Kunst­in­stal­la­ti­on kann für Anläs­se und Aktio­nen in den ­Seel­sor­ge­ein­hei­ten des Bistums St. Gallen ausge­lie­hen werden.

Text: Katja Hong­ler, Bilder: Ana Kontoulis

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