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«Beide mussten noch wachsen»

An einem golde­nen Herbst­tag auf die Alp Sell­amatt: Die Lukas-Kapelle hat nicht nur archi­tek­to­nisch eine beson­de­re Ausstrah­lung, auch deren ­Namens­ge­bung ist nicht alltäg­lich. Für die Fami­lie Lötscher, Gast­ge­be­rin auf der Sell­amatt, ist die Berg­ka­pel­le von gros­ser, emotio­na­ler Bedeutung.

Der Bau dieser Kapel­le war ein lang ersehn­ter Wunsch unse­rer Fami­lie», sagt Magda­le­na Lötscher (50). Ihre Eltern Hanni und Valen­tin Lötscher führ­ten den Berg­gast­hof Sell­amatt in zwei­ter Gene­ra­ti­on und woll­ten aus Dank­bar­keit, für das, was sie erreicht haben, eine Kapel­le erbau­en lassen. «Es war aller­dings ein langer Weg, bis alle einver­stan­den waren mit dem Bauvor­ha­ben», erin­nert sich Magda­le­na. «Ich war gera­de mit unse­rem ältes­ten Sohn schwan­ger, als die Bauar­bei­ten im Jahr 2002 star­ten konn­ten. Als es zu einer Früh­ge­burt kam, hatten die Gross­eltern die Idee, die Kapel­le nach dem Namen ihres ersten Enkels zu benen­nen.» Es sei wie ein zufäl­li­ges Zeichen gewe­sen, «beide muss­ten noch wach­sen, Lukas und die Kapelle». 

Nach der Frühgeburt ihres ersten Sohnes haben Magdalena Lötscher und Franz Niederberger auf der Sellamatt in der Lukas-Kapelle geheiratet. Das war vor 20 Jahren. Bis heute prägt dieser Ort ihre Familiengeschichte ganz besonders.
Nach der Früh­ge­burt ihres ersten Sohnes haben Magda­le­na Lötscher und Franz Nieder­ber­ger auf der Alp Sell­amatt in der Lukas-Kapelle geheiratet. 

Stol­zer Namensgeber 

Und beides verlief wie erhofft: Lukas wurde kräf­ti­ger und das Baupro­jekt konn­te im darauf­fol­gen­den Jahr erfolg­reich abge­schlos­sen werden. Zur Krönung heira­te­ten die Eltern Magda­le­na Lötscher und Franz Nieder­ber­ger in eben dieser neu erbau­ten Kapel­le. Lukas Nieder­ber­ger ist mitt­ler­wei­le 21 Jahre alt, ausge­bil­de­ter Schrei­ner und aktu­ell in seiner Zweit­aus­bil­dung zum Zimmer­mann. Was bedeu­tet es für ihn persön­lich, dass die Kapel­le nach ihm benannt ist? «Es ist mir eine Ehre und erfüllt mich schon ein wenig mit Stolz», antwor­tet er. Denn schliess­lich habe nicht jeder eine Kapel­le, die ihm gewid­met sei. Er und seine Fami­lie besu­chen jedes Jahr den Weih­nachts­got­tes­dienst hier in der Kapel­le. «Seit ich grös­ser bin, darf ich manch­mal auch die Lesung lesen.» Beim Alpgot­tes­dienst im Juli komme er auch immer auf die Sell­amatt und als sein Gotti vor drei­zehn Jahren hier oben heira­te­te, durf­te er die Ringe über­ge­ben: «Das war sehr emotio­nal für mich.» Gene­rell bedeu­tet ihm dieser Ort und die Umge­bung sehr viel: «Die Aussicht an diesem Pätz­li ist einfach einma­lig. Im Norden der ganze Alpstein und im Süden die Churfirsten.»

Aus dem «Frühchen» Lukas ist ein lebensfroher, junger Mann geworden.
Aus dem «Früh­chen» Lukas ist ein lebens­fro­her, junger Mann geworden.

«Es ist mir eine Ehre und ­erfüllt mich schon ein wenig mit Stolz.»

Markant und begehrt

Die mit markan­ten Natur­stei­nen gebau­te Berg­ka­pel­le ähnelt einem Tessi­ner Grot­to. Der quadra­ti­sche Baukör­per und der frei­ste­hen­de Turm stehen an ausge­zeich­ne­ter Lage auf einem Vorsprung an der Lich­tung beim Gast­haus Sell­amatt auf 1400 m ü. M. Der gross­zü­gi­ge Fens­ter­kranz lässt die bezau­bern­de Natur durch­bli­cken und der Innen­raum ist mit behag­li­chem Holz ausge­klei­det. Gebaut wurde die Berg­ka­pel­le von der Archi­tek­tur­ge­mein­schaft Güttin­ger und Busch­or aus Watt­wil. Das Berg­gast­haus Sell­amatt verwal­tet und pflegt die Kapel­le. Die Nach­fra­ge für Hoch­zei­ten, Taufen und immer mehr auch für Abdan­kungs­fei­ern ist gross. Letz­te­re bieten sich insbe­son­de­re an, weil es neben der Kapel­le einen unkon­ven­tio­nel­len Fried­hof für Natur­be­stat­tun­gen gibt. Die Asche der Verstor­be­nen wird in die Erde unter einen Fels­stein gestreut. «Auch für Chor­pro­ben ist die Kapel­le sehr gefragt, weil die Akus­tik ideal ist», ergänzt Franz, der selbst im loka­len «Chur­firs­ten­chör­li» mitsingt.

«Erin­ne­rungs­bänk­li»

Seit diesem Sommer hat dieser Ort für die Fami­lie Lötscher noch eine zusätz­li­che Bedeu­tung erhal­ten. Die Gross­mutter von Lukas ist im Früh­jahr verstor­ben und im August hat die Fami­lie in der Kapel­le ihren Abschied gefei­ert und eine Gedenk­stät­te für sie errich­tet. Auf der Anhö­he vor der Kapel­le umrah­men zwei «Erin­ne­rungs­bänk­li» diesen einzig­ar­ti­gen Platz mit einem Ahorn­baum und einem Brun­nen. Toch­ter und Schwie­ger­sohn der Verstor­be­nen sind sich einig: «Es wäre ihr vergönnt gewe­sen, noch ein biss­chen länger den Ruhe­stand genies­sen zu können. Sie war stets hier oben und hat jeden Tag im Betrieb gearbeitet.»

In Gedenken an Hanni Lötscher (Grossmutter von Lukas) ist diese Gedenkstätte mit zwei Erinnerungsbänkli entstanden.
In Geden­ken an Hanni Lötscher (Gross­mutter von Lukas) ist diese Gedenk­stät­te mit zwei Erin­ne­rungs­bänk­li entstanden.

Besinn­li­cher Ort

Ihr Able­ben erin­nert Magda­le­na und Franz auch daran, das eige­ne Leben bewusst zu genies­sen und auch mal inne­zu­hal­ten. Magda­le­na sagt: «Ich gehe gerne in die Kapel­le, um meinen Gedan­ken nach­zu­ge­hen oder zu beten. Ich mag die Stil­le hier.» Für Franz ist die Kapel­le ein Kraft­ort, wo er Ener­gie auftan­ken kann und Distanz zum Alltags­stru­del findet: «Ich stel­le mir manch­mal vor, wie mein Leben und mein Umfeld in zwan­zig Jahren wohl ausse­hen werden. Wenn man über weite Zeit­span­nen voraus- und zurück­schaut, werden die aktu­el­len Sorgen oft kleiner.»

Alp Sell­amatt 

Die Anrei­se mit öffent­li­chen Verkehrs­mit­teln führt mit der Bahn von Wil nach Ness­lau. Ab Ness­lau fährt das Post­au­to nach Alt St. Johann. Die Alp Sell­amatt erreicht man ganz­jäh­rig mit der Berg­bahn. Die Kombi-Bahn mit offe­nen Vierer­ses­seln und geschlos­se­nen Gondeln führt von Alt St. Johann in sechs Minu­ten auf die Sell­amatt (1400 m ü. M.). Während des Sommer­be­trie­bes ist die gebüh­ren­pflich­ti­ge Alps­tras­se bis zur Alp Sell­amatt gut fahr­bar. Die Berg­sta­ti­on befin­det sich unmit­tel­bar neben dem roll­stuhl­gän­gi­gen Berg­ho­tel Sellamatt. 

Wander­emp­feh­lung 

Ausgangs­punkt für diese mode­ra­te Wande­rung ist der kosten­lo­se Park­platz bei der Talsta­ti­on der Sallamatt-Bahn in Alt St. Johann. Von hier aus geht es in 25 Gehmi­nu­ten nach Unter­was­ser. Dann führt ein stün­di­ger Anstieg hinauf zum Schwen­di­see im Natur­schutz­ge­biet. Das Ufer des Schwen­di­sees ist von Schilf gesäumt und bietet an beiden Enden Grill­mög­lich­kei­ten. Weiter geht es über Hinter­seen entlang des Klang­we­ges via Ilti­os zur Alp Sell­amatt (1 h). Der Abstieg zurück nach Alt St. Johann ist mit der Sellamatt-Bahn oder über die Wander­rou­te Chueweid-Pfruendwald (1 h) möglich. 

High­lights

Schwen­di­see, Klang­weg, Berg­pan­ora­ma auf der Sell­amatt mit Blick auf Alpstein mit Säntis und Churfirsten. 

Höhen­dif­fe­renz

500 Höhen­me­ter

Reine Wander­zeit 

3,5 Stun­den inklu­si­ve Abstieg nach Alt ­St.­­ Johann

Text: Katja Hongler

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 25.9.2023

Neue Wege der Mitwirkung

Papst Fran­zis­kus hat mit der Aargaue­rin Hele­na Jeppesen-Spuhler eine von zehn ­Perso­nen ­ernannt, die bei der Welt­syn­ode im Okto­ber in Rom die Kirche Euro­pas vertre­ten. Die ­Fastenaktion-Mitarbeiterin setzt sich für eine glaub­wür­di­ge und parti­zi­pa­ti­ve Kirche ein.

«Ich hoffe, dass die katho­li­sche Kirche dann ein diver­ses Gesicht haben darf, dass wir es schaf­fen, diese Fragen anzu­ge­hen: die Rolle der Frau und auch die des Einbe­zugs der quee­ren Menschen in der katho­li­schen Kirche. Ich hoffe auf mehr Diver­si­tät, mehr Stär­ke und Entschei­dungs­mög­lich­keit auf der loka­len Ebene», sagt Hele­na Jeppe­sen vor der Synode. 364 Perso­nen werden vom 4. bis 29. Okto­ber an der Welt­syn­ode in Rom teil­neh­men. Mit der Welt­syn­ode hat Papst Fran­zis­kus etwas Neues geschaf­fen. Erst­mals haben auch nicht­geweihte Männer und Frau­en ein Stimm­recht, obwohl es sich kirchen­recht­lich um eine Bischofs­synode handelt. Mit Jeppe­sen werden insge­samt 80 nicht bischöf­li­che Perso­nen an der Welt­syn­ode mit Stimm­recht teil­neh­men. Aus der Schweiz sind neben Hele­na Jeppe­sen Bischof Felix Gmür und Clai­re Jonard, Koor­di­na­to­rin für das Zentrum für Beru­fungs­pas­to­ral in der West­schweiz, dabei.«Ich hoffe, dass die katho­li­sche Kirche dann ein diver­ses Gesicht haben darf, dass wir es schaf­fen, diese Fragen anzu­ge­hen: die Rolle der Frau und auch die des Einbe­zugs der quee­ren Menschen in der katho­li­schen Kirche. Ich hoffe auf mehr Diver­si­tät, mehr Stär­ke und Entschei­dungs­mög­lich­keit auf der loka­len Ebene», sagt Hele­na Jeppe­sen vor der Synode. 364 Perso­nen werden vom 4. bis 29. Okto­ber an der Welt­syn­ode in Rom teil­neh­men. Mit der Welt­syn­ode hat Papst Fran­zis­kus etwas Neues geschaf­fen. Erst­mals haben auch nicht­geweihte Männer und Frau­en ein Stimm­recht, obwohl es sich kirchen­recht­lich um eine Bischofs­synode handelt. Mit Jeppe­sen werden insge­samt 80 nicht bischöf­li­che Perso­nen an der Welt­syn­ode mit Stimm­recht teil­neh­men. Aus der Schweiz sind neben Hele­na Jeppe­sen Bischof Felix Gmür und Clai­re Jonard, Koor­di­na­to­rin für das Zentrum für Beru­fungs­pas­to­ral in der West­schweiz, dabei.

Offe­ne Diskussionen

Die Miss­brauchs­kri­se und der Verlust der Glaub­wür­dig­keit der katho­li­schen Kirche sind die Themen, die Hele­na Jeppe­sen nach Rom mitnimmt: «Ich erwar­te, dass die syste­mi­schen Ursa­chen disku­tiert und ange­gan­gen werden.» Dabei hofft sie auf offe­ne Diskus­sio­nen und zukunfts­wei­sen­de Entschei­de. Es brau­che parti­zi­pa­ti­ve Entschei­dungs­pro­zes­se auf allen Ebenen. Katho­li­kin­nen und Katho­li­ken welt­weit hätten bei der synoda­len Befra­gung ausser­dem die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau­en in der Kirche als wich­ti­ges Anlie­gen klar geäussert.

Von Jugend­ar­beit geprägt

Hele­na Jeppe­sen ist stark geprägt von Erfah­run­gen in der kirch­li­chen Jugend­ar­beit. In Wisli­kofen im Kanton Aargau, wo sie aufwuchs, habe es eine sehr gute kirch­li­che Jugend­ar­bei­te­rin gehabt. Dank ihr hätten sie als Jugend­li­che selbst­stän­dig regio­na­le Oster­tref­fen und Jugend­treffs orga­ni­sie­ren können. «Da habe ich das Prin­zip Empower­ment selbst erlebt», sagt Hele­na Jeppe­sen. Das sei auch in der Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit für Fasten­ak­ti­on sehr wich­tig. Sie besuch­te in Luzern das Kate­che­ti­sche Insti­tut, das heuti­ge Reli­gi­ons­päd­ago­gi­sche Insti­tut (RPI) und arbei­te­te als Kate­che­tin und Jugend­ar­bei­te­rin. Dann wurde im Phil­ip­pi­nen­pro­gramm der Fasten­ak­ti­on eine Stel­le frei. Hele­na Jeppe­sen holte für diese Aufga­be berufs­be­glei­tend das Nach­di­plom für Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit an der ETH Zürich nach.

Fokus auf die Schwächsten

Die Synode will sich mit neuen Wege der Mitwir­kung der kirch­li­chen Basis bei wich­ti­gen Entschei­dun­gen in der katho­li­schen Kirche beschäf­ti­gen. Schon vor Beginn wird die Synode in kirch­li­chen Medi­en kontro­vers disku­tiert und Hoff­nun­gen und Befürch­tun­gen geteilt. «Es wird eine gros­se Heraus­for­de­rung sein, Offen­heit zu schaf­fen für lösungs­ori­en­tier­tes Arbei­ten und die Bereit­schaft, frei­mü­tig zu reden.» Dass Hele­na Jeppe­sen selbst keine Angst davor hat, hat sie bei der Vorver­samm­lung im Juni in Rom gezeigt: Bei der Pres­se­kon­fe­renz trat sie selbst­be­wusst auf und ergriff als einzi­ge nicht­ge­weih­te Person das Mikro­fon. «In solchen Situa­tio­nen kommt mir meine Erfah­rung in der Menschen­rechts­ar­beit bei der Fasten­ak­ti­on zugu­te», sagt sie, «das Fokus­sie­ren auf die Schwächs­ten und die Ausge­schlos­se­nen in einem Staat oder einer Orga­ni­sa­ti­on und das Vernet­zen mit ande­ren helfen mir die Angst vor einem über­mäch­ti­gen System zu überwinden.»

Franz Kreissl leitet das Pasto­ral­amt des ­Bistums St. Gallen.

«Menschen warten auf Antworten»

Franz Kreissl, wie blickt das Bistum St. Gallen der Synode entgegen?

Franz Kreissl: Wir hoffen, dass die Synode Grund­la­gen für mehr Synoda­li­tät – also Mitwir­kung und Betei­li­gung aller Gläu­bi­gen – in der Kirche schafft. Bevor konkre­te Themen disku­tiert werden können, muss Grund­sätz­li­ches geklärt werden: Wie kommen wir zu Entschei­dun­gen? Wer ist an Entschei­dun­gen betei­ligt? Wie schaf­fen wir es, entschei­dungs­fä­hig zu werden und zwar auf den verschie­de­nen Ebenen: Welt­kir­che, Bischofs­kon­fe­renz, Bistum?

Im Juni hat der Vati­kan ein ­Arbeits­pa­pier für die Synode veröf­fent­licht. Die Schwei­zer Bistü­mer haben dazu Stel­lung­nah­men verfasst. Welche Anlie­gen gibt das Bistum St. Gallen der Arbeits­grup­pe mit?

Franz Kreissl: Die Menschen warten auf Antwor­ten. Es reicht nicht, an der Synode einfach noch einmal über alles zu reden. Es muss nun darum gehen, entschei­dungs­fä­hig zu werden. Ein Beispiel ist die Frage der Regio­na­li­sie­rung: Die Möglich­keit, bei bestimm­ten Themen regio­na­le Lösun­gen zu finden. An vielen Punk­ten kommen wir nicht weiter, weil die Reali­tät in den verschie­de­nen Regio­nen der Welt nicht über­all die glei­che ist.

Wie präsent wird die Synode und deren Themen im Bistum St. Gallen sein?

Franz Kreissl: Konkret werden wir sie bereits beim Pasto­ral­fo­rum, der Tagung der Diöze­sa­nen Räte, im Novem­ber aufgrei­fen: Da werden wir uns unter ande­rem mit dem Thema kirch­li­che Spra­che beschäf­ti­gen: Wie muss sich die Spra­che in der Kirche verän­dern, damit sie die Menschen erreicht und verstan­den wird? Auch bei der Umfra­ge, die wir im Vorfeld der Synode durch­ge­führt haben, haben viele dieses Thema als eines der drin­gends­ten Anlie­gen genannt.

Text: Stephan Sigg

Bild: Chris­ti­an Merz (oben) / Regi­na Kühne (unten)

Veröf­fent­licht: 21.09.2023

«Es ist erschreckend und beschämend»

Der Bischof des Bistums St. Gallen hat am 13. Septem­ber zur Medi­en­kon­fe­renz in den Saal der Bischofs­woh­nung gela­den. «Es ist erschre­ckend und beschä­mend, was heraus­ge­kom­men ist», sagt Bischof Markus Büchel vor einer Schar Medi­en­schaf­fen­den über die Pilot-Studie – die Kame­ras auf ihn gerich­tet, die Mikro­fo­ne vor ihm auf dem Tisch.

Bischof Markus Büchel stellt sich den Fragen der Medi­en­schaf­fen­den – einen Tag nach­dem die schweiz­wei­te Pilot-Studie der Univer­si­tät Zürich über sexu­el­len Miss­brauch in der katho­li­schen Kirche publik gewor­den ist. «Ich fühle gros­sen Schmerz und werde alles daran­set­zen, dass die beschlos­se­nen Mass­nah­men grei­fen», sagt Bischof Markus Büchel. Die Studie brach­te erschre­cken­de Zahlen zum Vorschein. Zwischen 1950 und heute gab es schweiz­weit 1002 Fälle sexu­el­len Miss­brauchs in der katho­li­schen Kirche.

Fehler gemacht

Die Studie attes­tiert dem Bistum St. Gallen eine profes­sio­nel­le Führung des Archivs und eine voll­um­fäng­li­che Unter­stüt­zung durch den Archi­var. Die Archi­vie­rung der Akten des Fach­gre­mi­ums seien gar vorbild­haft. Die Studie zeigt aber auch zwei Fälle aus dem Bistum St. Gallen. Bischof Markus Büchel wirkt ange­spannt, als er am ovalen Tisch Auskunft gibt und den Anwe­sen­den Red und Antwort steht. «Ich habe Fehler gemacht. Einen gros­sen Fehler», sagt er mit gebro­che­ner Stim­me. «Dazu muss ich stehen.» Durch sein Verhal­ten seien Fälle baga­tel­li­siert und einer Vertu­schung Vorschub geleis­tet worden. «Das tut mir leid. Ich möch­te daraus lernen.» Bischof Ivo Fürer, Büchels Vorgän­ger, unter­liess es – so die Studie – trotz Hinwei­sen, einen beschul­dig­ten Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen zu melden bezie­hungs­wei­se mit Konse­quen­zen zu bele­gen. Büchel seiner­seits wird in der Studie vorge­wor­fen, nicht konse­quent genug gehan­delt zu haben.

Anders handeln

Bei seinem Amts­an­tritt habe er keine offe­nen Fälle über­ge­ben bekom­men, erklärt Büchel am Medi­en­ge­spräch. «Ich bin davon ausge­gan­gen, dass der Fall abge­schlos­sen ist.» Er habe es unter­las­sen, die Vorab­klä­run­gen durch Bischof Ivo Fürer erneut zu prüfen und zu handeln. «Es war der einzi­ge Fall, der mir vom Fach­gre­mi­um gemel­det wurde, den ich aber nicht ange­gan­gen bin.» Der Fall war seiner­zeit einer der ersten, den das 2002 von Bischof Ivo Fürer gegrün­de­te Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe behan­del­te. Seinen Vorgän­ger nimmt Markus Büchel teil­wei­se in Schutz. «Er nahm die Sache ernst und hat mit dem Beschul­dig­ten Gesprä­che geführt. Aber es gab eine Befan­gen­heit.» Zudem bestehe die Pflicht, solche Fälle in Rom zu melden, erst seit 2019. Büchel zeigt sich einsich­tig: «Ich hätte inten­si­ver handeln müssen. Heute hätte ich anders gehandelt.»

Mass­nah­men getroffen

Bei Miss­brauchs­fäl­len muss heute seitens der Kirche Straf­an­zei­ge bei der Poli­zei einge­reicht werden. Am Medi­en­ge­spräch sagt Bischof Markus Büchel, er wisse noch nicht, wer der Beschul­dig­te sei. Die Studie sei stark anony­mi­siert worden – auch zum Schutz der Betrof­fe­nen. Nur kurze Zeit später räumt das Bistum auf noch­ma­li­ge Nach­fra­ge ein: «Der betref­fen­de Pries­ter arbei­tet defi­ni­tiv nicht mehr in der Seel­sor­ge.» Wie Bischof Markus Büchel an der Pres­se­kon­fe­renz mitteilt, ist eine Vorun­ter­su­chung einge­lei­tet und eine Straf­an­zei­ge bei der Staats­an­walt­schaft einge­reicht worden. Er hoffe, dass nun Licht ins Dunkel und eine Rück­mel­dung aus Rom komme, so Büchel. Die Verant­wort­li­chen verwei­sen auf das laufen­de Verfah­ren, weite­re Auskünf­te sind deshalb nicht möglich. Für den Beschul­dig­ten gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Ein Jour­na­list stellt die Frage nach den persön­li­chen Konse­quen­zen für den St. Galler Bischof: Tritt er von seinem Amt zurück? Bischof Markus Büchel verneint, das sei vorerst noch kein Thema. Er wolle zuerst die Ergeb­nis­se der Vorun­ter­su­chung abwar­ten. «Wenn Rom meinen Rück­tritt fordert, werde ich zurücktreten.»

Aufde­cken und aufarbeiten

Wie Bischof Markus Büchel ausführt, wird die Rolle des Bistums St. Gallen im Bezug auf die Zusam­men­ar­beit mit dem Fach­gre­mi­um noch kriti­scher über­prüft. «Es ist beispiels­wei­se nicht rich­tig, wenn das Fach­gre­mi­um nur Bera­tungs­funk­ti­on hat.» Alle beschlos­se­nen Mass­nah­men (siehe Kasten) sollen auch im Bistum St.Gallen umge­setzt werden. Dieses verpflich­tet sich, die für die Umset­zung der Mass­nah­men nöti­gen Ressour­cen bereit­zu­stel­len. Der Bischof setze sich für «ein scho­nungs­lo­ses Aufde­cken und Aufar­bei­ten des sexu­el­len Miss­brauchs im Bistum St. Gallen» ein.

«Ich glau­be dem Bischof»

An der Pres­se­kon­fe­renz ist auch Vreni Pete­rer anwe­send. Die 62-Jährige ist Präsi­den­tin der Inter­es­sen­ge­mein­schaft für Miss­brauchs­be­trof­fe­ne im kirch­li­chen Umfeld (IG-MikU) und selbst Betrof­fe­ne. Aufmerk­sam lauscht sie den Ausfüh­run­gen des St. Galler Bischofs. «Ich nehme ihm die Entschul­di­gung ab und glau­be dem Bischof, wenn er sagt, es täte ihm leid», sagt Pete­rer nach dem Medi­en­ge­spräch auf Nach­fra­ge. «Ja, er hat einen gros­sen Fehler gemacht. Ich denke jedoch, dass er nicht wirk­lich vorsätz­lich vertuscht hat. Er hat aber im entschei­den­den Moment nicht rich­tig gehan­delt bezie­hungs­wei­se nicht hinge­schaut und nicht gehan­delt.» Enttäuscht und scho­ckiert ist sie vom Vorge­hen von Bischof Ivo Fürer, der das Fach­gre­mi­um mehr­mals vertrös­tet habe. «Im Nach­hin­ein wirkt sein dama­li­ger Auftrag zur Grün­dung des Fach­gre­mi­ums auf mich wie eine Alibi­übung.» Wie sie zuvor am Medi­en­ge­spräch ausführt, habe sie in ihrer Funk­ti­on mehr­mals von Betrof­fe­nen gehört, dass deren Glaub­wür­dig­keit in Frage gestellt wurde. «Das darf nicht sein. Wich­tig ist, dass den Betrof­fe­nen geglaubt wird.» Sie erwar­te nun die nöti­ge Profes­sio­na­li­tät der Verant­wor­tungs­trä­ger. «Diese müssen den Mut haben, Fehler einzu­ge­ste­hen und sich und ihr Verhal­ten zu korrigieren.»

Forde­rung der IG-MikU

Vreni Pete­rer begrüsst die Mass­nah­men des Bistums. «Jede Mass­nah­me bringt uns einen Schritt weiter und hilft, die Schwel­le für weite­re Miss­bräu­che höher zu legen.» Dennoch hofft sie, dass noch weite­re Anstren­gun­gen seitens der Katho­li­schen Kirche unter­nom­men werden. Die IG-Miku fordert, dass die Bevöl­ke­rung nun nicht allei­ne gelas­sen wird. Gemeint sind all jene Menschen, die nicht unmit­tel­bar betrof­fen, aber dennoch verun­si­chert und ergrif­fen sind. «Es tun sich nun Fragen auf wie: Wem kann ich über­haupt noch vertrau­en? Diese Menschen müssen aufge­fan­gen werden.» Denk­bar wären etwa Infor­ma­ti­ons­aben­de. Pete­rer sieht auch die Pfar­rei­en in der Pflicht. «Die Ange­bo­te sollen auch von der Basis kommen.» 

Konkre­te Massnahmen

Bischof Joseph Maria Bonn­emain, der bei der Medi­en­kon­fe­renz in Zürich die Bischofs­kon­fe­renz vertrat, kündig­te konkre­te Mass­nah­men an. Unter ande­rem sollen für Betrof­fe­ne schweiz­weit profes­sio­nel­le Ange­bo­te geschaf­fen werden, bei denen sie Miss­bräu­che melden können. Künf­ti­ge Pries­ter, stän­di­ge Diako­ne, Mitglie­der von Ordens­ge­mein­schaf­ten und weite­re Seel­sor­gen­de sollen im Rahmen ihrer Ausbil­dung stan­dar­di­sier­te psycho­lo­gi­sche Abklä­run­gen durch­lau­fen. In einer schrift­li­chen Selbst­ver­pflich­tung erklä­ren alle kirch­li­chen Verant­wort­li­chen an der Spit­ze von Bistü­mern, Landes­kir­chen und Ordens­ge­mein­schaf­ten, keine Akten mehr zu vernich­ten, die im Zusam­men­hang mit Miss­brauchs­fäl­len stehen oder den Umgang damit doku­men­tie­ren. Die Studie wird im Janu­ar 2024 mit einem vier­jäh­ri­gen Folge­pro­jekt fortgesetzt.

Text: Ales­sia Paga­ni / Stephan Sigg

Foto: Regi­na Kühne

Veröf­fent­licht: 14.09.2023

Zeit­zeu­gen gesucht

Die Forsche­rin­nen und Forscher bieten eine öffent­li­che Ring­vor­le­sung an der Univer­si­tät Zürich an (Start: 28. Septem­ber). Ausser­dem rufen sie Zeit­zeu­gin­nen und Zeit­zeu­gen auf, sich für die weite­re Forschung zu melden: forschung-missbrauch@hist.uzh.ch

Anlauf­stel­len für Betrof­fe­ne von sexu­el­len Miss­brauch im kirch­li­chen Umfeld:

www.missbrauch-kath-info.ch

www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch

Infor­ma­tio­nen und Kontakt­adres­sen Fach­gre­mi­um des Bistum St.Gallen

«Zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe»

«So schmerz­haft es sein mag, wir müssen uns den Tatsa­chen stel­len», schreibt Bischof Markus Büchel in einem offe­nen Brief an alle Mitar­bei­ten­de in der Seel­sor­ge sowie frei­wil­lig und ehren­amt­lich Enga­gier­te weni­ge Tage nach Präsen­ta­ti­on der Pilot-Studie zum sexu­el­len Miss­brauch — das Pfar­rei­fo­rum konn­te Auszü­ge aus dem Brief vorab lesen. Der Bischof zeigt sich in seinem Brief selbst­kri­tisch: «Ich ganz persön­lich muss zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe.» Ihm sei «sehr bewusst, dass durch jeden einzel­nen Fall von sexu­el­lem Miss­brauch Menschen in ihrem Leben und Glau­ben verun­si­chert und teil­wei­se aus der Bahn gewor­fen werden.»

Perspek­ti­ven­wech­sel

Wie beim Medi­en­ge­spräch in St. Gallen betont der St. Galler Bischof auch in seinem Brief, «der Respekt vor den Opfern gebie­tet es, sich mit den Ergeb­nis­sen der Studie zu befas­sen», es brau­che einen Perspek­ti­ven­wech­sel. Was er darun­ter versteht und wie das genau gesche­hen soll, führt er nicht aus. Er zählt noch­mals alle Mass­nah­men auf, die die Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz beschlos­sen hat und weist darauf hin, dass sie entschlos­sen seien, «in den Themen der Macht­fra­gen, der Sexu­al­mo­ral, des Priester- und Frau­en­bil­des wie der Ausbil­dung und Perso­nal­aus­wahl konkre­te Schrit­te zu unter­neh­men, die auch in der Studie einge­for­dert werden».

Die Fälle im Bistum St. Gallen

In die Studie wurden zwei Fälle, die das Bistum St. Gallen betref­fen, aufge­nom­men: Idda­heim in Lütis­burg (Studie, S. 69 bis 71): Beschrie­ben sind Meldun­gen zahl­rei­cher Fälle psychi­scher, physi­scher und sexu­el­ler Gewalt unter ande­rem im Zeit­raum zwischen 1978 und 1988, durch einen der Direk­to­ren, ein Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen. Weiter beschreibt die Studie Berich­te von sexu­el­len Über­grif­fen und Gewalt durch einen Erzie­her und einen Gärt­ner (zwischen 1964 bis 1971) sowie durch Menzin­ger Schwes­tern. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Das heuti­ge Kinder­dörf­li Lütis­burg ist seit vielen Jahren nicht mehr unter kirch­li­cher Führung.

Der Fall E.M. (Pseud­onym, S. 96 bis 100): Im Jahr 2002, als das Fach­gre­mi­um erst­mals einge­setzt wurde, melde­te eine Frau länger zurück­lie­gen­de Über­grif­fe des Pries­ters E.M.. Es fanden Gesprä­che mit dem Beschul­dig­ten und Ivo Fürer, dem dama­li­gen Bischof, statt. Da E.M. die gegen ihn erho­be­nen Vorwür­fe bestritt und sich die Anschul­di­gun­gen nicht erhär­te­ten, schie­nen sich diese zu entkräf­ten. Weni­ge Wochen später gab es weite­re Hinwei­se durch eine ehema­li­ge Heim­mit­ar­bei­te­rin, worauf das Fach­gre­mi­um Empfeh­lun­gen an Bischof Fürer aussprach. Das Fach­gre­mi­um stell­te zudem klar, dass es nicht Unter­su­chungs­be­hör­de sein kann. Trotz eindeu­ti­ger Empfeh­lun­gen durch das Fach­gre­mi­um St. Gallen und jenes der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz (SBK) unter­nahm der dama­li­ge Bischof keine weite­ren Schrit­te; E.M. erhielt eine weite­re Stel­le. Bis 2009 war er zusätz­lich in einer Funk­ti­on im Bistum ange­stellt. Im April 2010 feier­te E.M. zusam­men mit dem neuen Bischof Markus Büchel eine Messe. Dies führ­te bei einer betrof­fe­nen Person zu einer hefti­gen emotio­na­len Reak­ti­on, worauf sie sich beim Fach­gre­mi­um melde­te. 2012 wurde E.M. zwar versetzt, aber trotz­dem in verschie­de­nen Gemein­den als Seel­sor­ger einge­setzt. Noch im Janu­ar 2023 sind gemäss Studie Eucha­ris­tie­fei­ern mit E.M. fest­ge­hal­ten. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. (Bistum St.Gallen / ssi)

Hinter­grund: Dossier mit allen Infor­ma­tio­nen zur Pilot-Studie und den bishe­ri­gen Mass­nah­men im Bistum St.Gallen

Studie Aufarbeitung Sexueller Missbrauch

Am 12. Septem­ber 2023 präsen­tiert ein Forschungs­team des Histo­ri­schen Semi­nars der Univer­si­tät Zürich eine Vorstu­die zur Aufar­bei­tung sexua­li­sier­ter Gewalt in der katho­li­schen Kirche seit den 1950er-Jahren.

«Gros­ses Spek­trum von Fällen sexu­el­len Miss­brauchs im Umfeld der katho­li­schen Kirche»

Am 12. Septem­ber stell­te das Forschungs­team der Univer­si­tät Zürich die Ergeb­nis­se der Pilot­stu­die zur sexua­li­sier­ten Gewalt in der katho­li­schen Kirche Schweiz vor.

Resul­ta­te der Studie (Website Univer­si­tät Zürich)

Das Pfar­rei­fo­rum hat in den letz­ten Jahren mehr­mals über das Thema berich­tet (Auswahl):

Infos Histo­ri­sche Studie

Website Fach­gre­mi­ums «Sexu­el­le Über­grif­fe im kirch­li­chen Umfeld» der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz www.missbrauch-kath-info.ch

Kontakt­adres­sen:

Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe des Bistums St.Gallen www.bistum-stgallen.ch/kontakt/fachgremium-uebergriffe/

Inter­es­sen­ge­mein­schaft für miss­brauchs­be­trof­fe­ne Menschen im kirch­li­chen Umfeld (IG Mi-Ku) www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch

Zusam­men­stel­lung: Stephan Sigg

Veröf­fent­li­chung: 23.08.2023 (letz­te Aktua­li­sie­rung: 12.09.2023)

Bananen retten mit dem Smartphone

Es gibt auch gute Nach­rich­ten bezüg­lich Food­was­te: Mit Chats und Apps kann heute jeder Einzel­ne helfen, Obst und Gemü­se sowie Mahl­zei­ten vor der Müll­ton­ne zu retten. So kann «Ernte­dank» ganz konkret gelebt werden.

Kirschen: zu klein für Handel, Eier: zu klei­nes Kali­ber, Blau­bee­ren: Retouren, Bana­nen: zu gelb für Handel», so liest sich die aktu­el­le Mängel­lis­te, die Ivo Streiff (52) von «Foodchat.ch» jeweils seinen Kunden in Gais, Heris­au oder St. Gallen schickt. «Wir verkau­fen Gemü­se und Früch­te mit Mängeln oder aus Über­pro­duk­ti­on und vermei­den so, dass tonnen­wei­se Lebens­mit­tel im Abfall landen.» Der Jurist und ehema­li­ge Versi­che­rungs­ma­na­ger hat seine Geschäfts­idee bei einem Glas Wein mit einem guten Freund und Lebens­mit­tel­händ­ler entwi­ckelt. «Er hat mir an jenem Abend erzählt, dass er zwei Tonnen beste Trau­ben wegschmeis­sen müsse. Ich habe dann kurzer­hand einen Grup­pen­chat für das ganze Dorf orga­ni­siert, um die Früch­te an verschie­de­ne Abneh­mer auszuliefern.» 

Obst und Gemü­se mit Handicap

Die Geschich­te mit den Trau­ben ist leider kein Einzel­fall. Oft wird einwand­frei­es Gemü­se und Obst wegge­wor­fen, nur weil es nicht der Optik entspricht oder über­schüs­sig produ­ziert wurde. Laut Medi­en­mit­tei­lung des Bundes­ra­tes wird fast ein Drit­tel der für den Schwei­zer Konsum produ­zier­ten Lebens­mit­tel verschwen­det oder unnö­tig wegge­wor­fen. Dies entspricht rund 330 Kilo­gramm Abfall pro Kopf und Jahr. Mit dem nach­hal­ti­gen Geschäfts­mo­dell konn­te «Food­chat» im letz­ten Jahr 300 Tonnen Frisch­pro­duk­te retten. Inter­es­sier­te können sich auf der Website für den Gruppen-Chat regis­trie­ren. Streiff infor­miert sie dann über die aktu­el­len Ange­bo­te, inklu­si­ve Herkunft, Preis und «Handi­cap». Mitt­ler­wei­le bedient der Thur­gau­er 20 Stand­or­te in der Ostschweiz und stösst allmäh­lich an seine Kapa­zi­täts­gren­zen. «Ich bin Montag bis Frei­tag unter­wegs und verkau­fe die Frisch­pro­duk­te über die Rampe meines Liefer­wa­gens und abends fülle ich das Lager mit neuen Produk­ten auf, die palet­ten­wei­se ange­lie­fert werden». Nun steht der nächs­te Schritt an: «Ich werde eine zusätz­li­che Person anstel­len und einen grös­se­ren Liefer­wa­gen anschaffen.» Der Erfolg seiner drei­jäh­ri­gen Firma ist auch auf seiner Whatsapp-Liste offen­sicht­lich: «Ich habe mitt­ler­wei­le 10 000 Kontakte.» 

Mahl­zei­ten retten

Im April 2022 hat der Bundes­rat einen Akti­ons­plan verab­schie­det mit dem Ziel, die Lebens­mit­tel­ver­schwen­dung bis 2030 im Vergleich zu 2017 zu halbie­ren. Er rich­tet sich an alle Unter­neh­men und Orga­ni­sa­tio­nen der Lebens­mit­tel­bran­che sowie an Bund, Kanto­ne und Gemein­den. Eine von vielen Akteu­ren ist die welt­wei­te Orga­ni­sa­ti­on «Too Good to Go». Mit Hilfe dieser App können unver­kauf­te Lebens­mit­tel von Geschäf­ten und Restau­rants vor dem Wegwer­fen verschont werden. Die App ist seit 2018 in der Schweiz aktiv und entwi­ckel­te sich in kürzes­ter Zeit zur bekann­tes­ten Marke im Kampf gegen Food­was­te. Laut Unter­neh­men zählt sie über 2 Millio­nen User*innen in der Schweiz und arbei­tet mit mehr als 7100 Part­ner­be­trie­ben zusam­men, darun­ter auch Migros und Coop. In den vergan­gen fünf Jahren konn­ten bereits über acht Millio­nen «Mahl­zei­ten­päck­li» geret­tet werden. 

Bewusst einkau­fen

Was kann ich als einzel­ner schon bewe­gen? Eigent­lich sehr viel! Mit rund einem Drit­tel Anteil am Food­was­te gehört der Endkon­su­ment zu den Haupt­ver­ur­sa­chern. Es liegt letzt­lich in der Verant­wor­tung jedes einzel­nen Haus­halts, einen umsich­ti­gen Umgang mit unse­ren Lebens­mit­teln zu pfle­gen. Bewusst einkau­fen lohnt sich für die Umwelt sowie das Haus­halts­bud­get. Und manch­mal geht es sogar fast ganz gratis: Lässt die Nach­ba­rin an ihren Sträu­chern oder Bäumen das Obst oder das Gemü­se verder­ben? Warum frage ich sie nicht, ob ich das für sie über­neh­men und das Geern­te­te verwen­den darf? 

Herbst­zeit ist Ernte­zeit – in den Pfar­rei­en wird Ernte­dank gefei­ert und die ökume­ni­sche Akti­on «Schöp­fungs­zeit» sensi­bi­li­siert für Schöp­fungs­ver­ant­wor­tung – der idea­le Zeit­punkt, um Apps gegen Food­was­te zu instal­lie­ren oder das Einkaufs­ver­hal­ten unter die Lupe zu nehmen. Tipps von WWF gegen Foodwaste:

– bewusst Gemü­se und Obst kaufen, das nicht perfekt ist: z. B. eine App instal­lie­ren, die unper­fek­tes Gemü­se und Obst verkauft

– Unnö­ti­ge Einkäu­fe vermei­den = Blick in Kühl­schrank vor dem Einkaufen

– Einkäu­fe planen: Menü­plan und Einkaufs­lis­te erstellen

– Frisches kaufen: Lieber häufi­ger, dafür geziel­ter einkaufen

– Verfall­da­tum hinter­fra­gen: Zuerst testen, ob abge­lau­fe­ne Produk­te wirk­lich nicht mehr geniess­bar sind

Text: Katja Hongler

Bild: pixabay.com

Veröf­fent­licht: 11. Septem­ber 2023

Vielfalt fordert und fördert

Eine neue Sitz­bank im Garten des Muse­ums Prest­egg in Altstät­ten soll die Menschen aller ­Reli­gio­nen und Kultu­ren zusam­men­brin­gen. Die Bank wird von Jugend­li­chen gestaltet.

Das Mitein­an­der und Zusam­men­le­ben der Reli­gio­nen ist nicht immer rosa, sondern es ist harte Arbeit. Aber es ist eine schö­ne und wert­vol­le Arbeit», sagt Elias Meile, Seel­sor­ger in Berufs­ein­füh­rung bei der Pfar­rei Altstät­ten. In der Rhein­ta­ler Stadt tref­fen die verschie­dens­ten Kultu­ren und Glau­bens­rich­tun­gen aufein­an­der. Von den 12 248 Einwoh­ne­rin­nen und Einwoh­nern sind gemäss der Stadt Altstät­ten 3719 auslän­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge. Die Grup­pe der Konfes­si­ons­lo­sen bezie­hungs­wei­se der Perso­nen aus einer ande­ren Glau­bens­ge­mein­schaft als der christ­li­chen zählt 4915 Perso­nen. «Altstät­ten ist kein Einheits­brei. Es gibt nicht nur die Glau­bens­rich­tun­gen im klas­si­schen Sinn, sondern eine gros­se Viel­falt darüber hinaus.» Als Beispiel nennt Meile den serbi­schen Kultur­ver­ein Sveti Sava. «Solche Verei­ne spie­len eine wich­ti­ge Rolle im religiös-kulturellen Leben.» Das Mitein­an­der soll am 17. Septem­ber im Zentrum stehen. Dann wird im Rahmen der inter­re­li­giö­sen Dialog- und Akti­ons­wo­che (ida) beim Muse­um Prest­egg eine neue Sitz­bank aufge­stellt. Diese soll die Menschen zusammenbringen.

Reli­gio­nen kennenlernen

«Das Bänk­li soll zum Denken anre­gen, Diskus­sio­nen star­ten und Fragen aufwer­fen», sagt Muse­ums­ku­ra­to­rin Moni­ka Meyer. «Es geht darum, sich mit den ande­ren Reli­gio­nen und Kultu­ren ausein­an­der­zu­set­zen.» Das Projekt ist breit getra­gen. In der Projekt­grup­pe sind unter ande­rem die Stadt, das Muse­um, die Schu­le und die Fach­stel­le Inte­gra­ti­on Verein St. Galler Rhein­tal, aber auch Einzel­per­so­nen und Migrantenvereine.

Die Sitz­bank wird aus sechs Segmen­ten bestehen – je eines für die fünf gros­sen Welt­re­li­gio­nen und eines mit einem Frage­zei­chen. Die Teile werden von Oberstufen-Schulklassen aus Altstät­ten, Ober­riet und Mont­lin­gen gestal­tet, eines von Bewoh­nen­den des Bundes­asyl­zen­trums in Altstät­ten. Einzi­ge Vorga­be: Das charak­te­ris­ti­sche Symbol der jewei­li­gen Reli­gi­on muss gut erkenn­bar sein. «Wir hoffen natür­lich, dass sich auch die Schü­le­rin­nen und Schü­ler mit den Reli­gio­nen und dem Zusam­men­le­ben ausein­an­der­set­zen», sagt Guido Poznicek, Vertre­ter der Schu­le Altstätten.

Berüh­rungs­ängs­te bekämpfen

Am Fest­akt stehen das gemein­sa­me Feiern und der Austausch im Vorder­grund. Es gibt Auftrit­te und kuli­na­ri­sche Häpp­chen der verschie­de­nen kultu­rel­len Grup­pen. Der Hindu­ver­ein, der serbi­sche Kultur­ver­ein, die alba­ni­sche Moschee, die Buddhis­ti­sche Gemein­schaft und die Bevöl­ke­rung Sri Lankas werden eben­so vertre­ten sein wie die Biblio­thek und die Evan­ge­li­sche sowie Katho­li­sche Kirchgemeinde.

Die ida-Woche hat Tradi­ti­on in Altstät­ten und im Ober­rhein­tal. Während mehre­rer Jahre haben die Verant­wort­li­chen Respect-Camps und Zelt­stät­ten orga­ni­siert. Im vergan­ge­nen Jahr wurde der Film «Zeig mir, wie du glaubst – Rhein­ta­ler Jugend­li­che im Dialog» produ­ziert. «Die Förde­rung von Respekt und ein schö­nes Mitein­an­der sind wich­ti­ge Themen. Für uns ist es selbst­ver­ständ­lich, an der ida-Woche mitzu­wir­ken», sagt Toni Loher, Stadt­rat und Mitglied der Kommis­si­on Gesell­schafts­fra­gen. Er verweist auf die Wich­tig­keit solcher Projek­te. «Auch in Altstät­ten haben Teile der Bevöl­ke­rung Berüh­rungs­ängs­te.» Und Elias Meile ergänzt: «Wenn in der Gemein­de alles gut laufen würde, bräuch­ten wir solche Projek­te nicht zu machen. Wir dürfen zwar prokla­mie­ren, dass es läuft mit dem Zusam­men­le­ben, müssen aber auch immer wieder die Erkennt­nis aufbrin­gen, dass dies keine Selbst­ver­ständ­lich­keit ist. Wir alle müssen etwas dafür tun.»

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 6. Septem­ber 2023

Texte sind sein Leben

Der Germa­nist und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mario Andreot­ti hat bereits mehre­re Bücher veröf­fent­licht. Seine neues­te Arbeit widmet sich der Schöpfungsgeschichte.

Wenn Mario Andreot­ti ein Gedan­ke kommt, muss er ihn aufschrei­ben, egal wie spät es ist. «Manch­mal wache ich mitten in der Nacht auf, nehme meinen Text zur Hand und über­ar­bei­te ihn», sagt der 75-Jährige. Dann liest er die Zeilen wieder und wieder, schreibt Passa­gen um und ersetzt Worte. «Ein Text ist nie fertig. Ich bin nie rest­los damit zufrie­den.» Andreot­ti weiss, wovon er spricht. Der studier­te Germa­nist und Histo­ri­ker hat bereits mehre­re Bücher verfasst, 1983 etwa «Die Struk­tur der moder­nen Lite­ra­tur». Das Buch erscheint bereits in der 6. Aufla­ge. Andreot­ti ist unter ande­rem Jury-Mitglied des Bodensee-Literaturpreises, war während 28 Jahren Fach­re­fe­rent für die Fort­bil­dung der Lehr­kräf­te an höhe­ren Schu­len und dürf­te vielen St. Galle­rin­nen und St. Gallern als lang­jäh­ri­ger Gymna­si­al­leh­rer an der Kantons­schu­le am Burg­gra­ben sowie als Lehr­be­auf­trag­ter an der Univer­si­tät St. Gallen ein Begriff sein. Nun hat er sein neues­tes Werk voll­endet: Mario Andreot­ti schrieb die Texte für den Schöp­fungs­got­tes­dienst in der Drei­fal­tig­keits­kir­che in St. Gallen. Der St. Galler Kompo­nist und Diri­gent Erich Schneuw­ly hat die Schöp­fung «Die 7 Tage» für Sologei­ge, zwei Flöten, Streich­or­ches­ter und Orgel kompo­niert. Schneuw­ly hat in der Vergan­gen­heit nebst Messen auch Kompo­si­tio­nen mit reli­giö­sen Texten und über 100 Lieder aus dem Gesangs­buch der katho­li­schen Kirchen orchestriert.

«Wir brau­chen die Natur»

Gemein­sam mit seiner Frau Kata­lin wohnt Mario Andreot­ti in Eggers­riet. In ihrem Garten spries­sen die Blumen und der Feigen­baum trägt erste Früch­te. Auf dem akku­rat geschnit­te­nen Rasen tollt ein schwar­zes Fell­knäu­el umher – der klei­ne Entle­bu­cher Sennen­hund ist seit Kurzem Mitglied der Fami­lie und hält das Ehepaar «ganz schön auf Trab». Mario Andreot­ti blickt auf die Szene­rie. «Wir müssen endlich einse­hen, dass wir die Natur brau­chen. Statt­des­sen schi­cken wir uns an, sie zu zerstö­ren», sagt der Vater von drei erwach­se­nen Kindern. «Wir müssen uns immer wieder klar­ma­chen, dass diese Welt nicht uns, sondern dem Schöp­fer gehört. Wir müssen Sorge tragen zu ihr.» Er nimmt die Kirche in die Pflicht: Diese habe eine beson­de­re Verant­wor­tung in Bezug auf die Bewah­rung der Schöp­fung, nehme diese Verant­wor­tung aller­dings nicht genü­gend wahr. «Das Problem der Kirche ist ihre Spra­che.» Andreot­ti würde sich wünschen, dass die Bedeu­tung reli­giö­ser Texte öfter hinter­fragt und auf die junge Gene­ra­ti­on und die heuti­ge Zeit ange­passt wird. «Die Frage ist doch: Wie kann ich die Jungen errei­chen? Das geht nur über die Spra­che. Die Kirche vermag diese Brücke nicht zu schlagen.»

Von Lehrern geprägt

Mario Andreot­ti ist zwei­spra­chig aufge­wach­sen, der Vater war Tessi­ner, die Mutter stamm­te aus dem Kanton Glarus. Wo die tiefe Liebe zur deut­schen Spra­che herkommt, möch­te man wissen. Andreot­ti klärt auf: «Ich hatte gros­ses Glück und einen hervor­ra­gen­den Deutsch- und Latein­leh­rer. Er hat mich stark beein­flusst.» Auch an seinen Reli­gi­ons­leh­rer erin­nert er sich gut und gerne zurück. «Ein sehr guter Theo­lo­ge» sei er gewe­sen. Germa­nis­tik und Theo­lo­gie – für Andreot­ti zwei Themen, die sein Leben seit Kindes­bei­nen an beglei­ten und prägen: «Für mich als Germa­nis­ten ist es wich­tig, die reli­giö­sen Zusam­men­hän­ge zu sehen und mich mit der Glau­bens­fra­ge zu beschäftigen.»

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 1. Septem­ber 2023

Der St.Galler im Stephansdom

Drei­zehn Jahre wirk­te der St. Galler Pater Felix Sträss­le in Wien. Jetzt kehrt er in die Gallus­stadt zurück. Im Gespräch schil­dert er, warum ihm der Stephans­dom ans Herz gewach­sen ist und was man bei einem Besuch auf keinen Fall verpas­sen sollte.

Mehr als fünf Millio­nen Menschen besu­chen jähr­lich den Stephans­dom in Wien. Der St. Galler Schönstatt-Pater Felix Sträss­le hatte in den vergan­ge­nen drei­zehn Jahren unzäh­li­ge Gele­gen­hei­ten, die bedeu­tends­te Kirche Öster­reichs und deren Menschen kennen­zu­ler­nen. «Der Stephans­dom ist nicht nur eine wich­ti­ge Kirche für Wien, sondern für ganz Öster­reich», sagt er, «jedes Schul­kind macht einmal in seinem Leben eine Reise nach Wien und besucht den Dom. Der Stephans­dom ist Teil der öster­rei­chi­schen Iden­ti­tät und für die Menschen so etwas wie eine Heimat. Das kommt nicht von unge­fähr: Wenn man in dieser Kirche ist, macht es einem das Herz auf nach oben, zum Himmel. Es zieht einen in die Höhe.»

Inter­na­tio­na­ler Mikrokosmos

2010 zog Pater Felix Sträss­le von St. Gallen nach Wien – in eine Pries­ter­woh­nung direkt neben dem Stephans­dom. «Die Schönstatt-Patres haben seit Länge­rem einen Vertre­ter am Stephans­dom, mein Vorgän­ger über­nahm eine neue Aufga­be und deshalb wurde ich ange­fragt.» Pater Felix sagte sofort zu – auch wenn der Wech­sel von der beschau­li­chen Ostschweiz in die 2‑Millionen-Stadt ein Eintau­chen in eine ande­re Reali­tät bedeu­te­te. «Die Bevöl­ke­rung kommt aus verschie­de­nen Ländern, es tref­fen verschie­de­ne Spra­chen, Spiri­tua­li­tä­ten und Kirchen­bil­der aufein­an­der. Es kommen hier ganz viele Einflüs­se zusam­men.» Auch die Seel­sor­ger am Stephans­dom stam­men aus der ganzen Welt: aus den USA, aus Kroa­ti­en … «Als St. Galler hatte ich da keinen Exoten­sta­tus», merkt er an und lacht. Der kultu­rel­le und spiri­tu­el­le Mikro­kos­mos habe ihn geprägt. «Wien ist so etwas wie ein klei­nes Rom. Man erlebt hier die Welt­kir­che ganz konkret. Für die Ordens­ge­mein­schaf­ten und kirch­li­chen Bewe­gun­gen ist es wich­tig, in Wien präsent zu sein.»

Drei­zehn Jahr wirk­te Pater Sträss­le in Wien, jetzt über­nimmt er eine neue Aufga­be in seiner Heimat St.Gallen.

Gefrag­te Aussprache

Von Wien aus war er öster­reich­weit für die Fami­li­en­pas­to­ral der Schönstatt-Bewegung zustän­dig, in der Pfar­re Stephans­dom über­nahm er pries­ter­li­che Diens­te. Als einer von über fünf­zig Pries­tern feier­te er jede Woche Messen im Stephans­dom und hörte die Beich­te – oder die «Ausspra­che», wie sie in Wien auch genannt wird. «Ein Ange­bot, das auf gros­se Nach­fra­ge stösst: Viele haben das Bedürf­nis, über das spre­chen zu können, was sie beschäf­tigt», so Pater Felix. Bewegt hätte ihn aber auch immer wieder die monat­li­che Messe für Leiden­de: «Die Besu­che­rin­nen und Besu­cher des Stephans­doms können ihre persön­li­chen Gebets­an­lie­gen auf Zettel schrei­ben und in eine Box werfen. Einmal im Monat wurden im Gottes­dienst all diese Anlie­gen aufge­nom­men.» Da jeweils stapel­wei­se Anlie­gen einge­reicht wurden, habe er immer nur Auszü­ge vorle­sen können. Eines war für den St. Galler in Wien auch neu: «Viele Gläu­bi­ge wählen sich die Pfar­re, in der sie die Gottes­diens­te besu­chen oder sich ehren­amt­lich enga­gie­ren, bewusst aus. Bei vielen ist es nicht auto­ma­tisch die Pfar­re, in der sie wohn­haft sind.»

Das Inter­na­tio­na­le der Stadt hat den St.Galler Pater geprägt.

Die Heimat kennenlernen

Jetzt möch­te er wieder näher bei seinen zehn Geschwis­tern, die in der Ostschweiz leben, sein. Hier will er neben seinem Enga­ge­ment für die Schönstatt-Bewegung in der Schweiz eine Aufga­be als Pries­ter im Bistum St. Gallen über­neh­men. Doch zunächst gibt er sich ein paar Wochen Zeit, um die alte Heimat neu kennen­zu­ler­nen. «In den drei­zehn Jahren, in denen ich weg war, ist viel passiert. Sowohl Gesell­schaft als auch die Kirche stehen heute an einem ande­ren Punkt.» Leicht sei ihm der Abschied von Wien nicht gefal­len, in den Wochen vor seiner Rück­kehr habe er noch­mals viel Kultur einge­so­gen und zum Beispiel die Wiener Staats­oper besucht. Er hat sich aber auch Zeit genom­men, einfach im Stephans­dom zu sitzen und die Atmo­sphä­re auf sich wirken zu lassen. Auch wenn das Wahr­zei­chen der Stadt täglich gut besucht ist von Touris­ten und Gläu­bi­gen, sei es ein Kraft­ort und ein Ort der Ruhe und Stille.

Was empfiehlt er Touris­tin­nen und Touris­ten, die den Stephans­dom zum ersten Mal besu­chen? «Sich einfach mal in die Kirche setzen und die Atmo­sphä­re genies­sen.» Es gebe eini­ge Klein­ode zu entde­cken. Ihn persön­lich habe immer wieder die «Dienstboten-Madonna» berührt. Es handelt sich um eine der ältes­ten Skulp­tu­ren im Stephans­dom, mit ihr iden­ti­fi­zier­ten sich seit eh und je die einfa­chen Leute.

Text: Stephan Sigg

Bild: Lukas Cioni

Veröf­fent­licht: 29.08.2023

«Die Notwendigkeit erkannt»

Am 12. Septem­ber 2023 präsen­tiert ein Forschungs­team des Histo­ri­schen Semi­nars der ­Univer­si­tät Zürich eine Vorstu­die zur Aufar­bei­tung sexua­li­sier­ter Gewalt in der katho­li­schen Kirche ­seit den 1950er-Jahren. Wie sehen Betrof­fe­ne und das Bistum St. Gallen dieser Studie entgegen?

Vreni Pete­rer aus Appen­zell, Präsi­den­tin der Inter­es­sen­ge­mein­schaft der Miss­brauchs­be­trof­fe­nen im kirch­li­chen Umfeld (IG MiKU) und selbst Betrof­fe­ne, sieht dem 12. Septem­ber 2023 mit gros­ser Span­nung und Hoff­nung entge­gen. «Ich bin sehr gespannt, wo wir nach einem Jahr stehen und wie viel die Pilot-Studie schon zu Tage bringt», sagt sie gegen­über dem Pfar­rei­fo­rum, «ich bin auch gespannt darauf, wie die Betrof­fe­nen im Fokus stehen.» Sie selbst habe die Möglich­keit gehabt, ihre eige­nen Akten beim Bistum St. Gallen anzu­schau­en und sei sich deshalb bewusst, was für ein riesi­ger Aufwand die Studie sei. «Ich erhof­fe mir, dass das Forschungs­team am 12. Septem­ber viele Ratschlä­ge aufzeigt: Wie soll es jetzt weiter­ge­hen? Was braucht es, um die sexu­el­le Gewalt aufzu­ar­bei­ten? Wir erhiel­ten durch­wegs posi­ti­ve Rück­mel­dun­gen von Betrof­fe­nen, die von empa­thi­schen und kompe­ten­ten Mitar­bei­ten­den des Forschungs­teams ange­hört wurden.» Auch Vreni Pete­rer selbst habe die Gesprä­che, die das Forschungs­team mit ihr geführt habe, so erlebt. «Bemer­kens­wert ist auch, dass eini­ge Betrof­fe­ne, die Teil der Studie sind, zum aller­ers­ten Mal über ihre Erfah­run­gen gespro­chen haben.»

Basis für künf­ti­ge Forschung

Die Studie wurde von der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz (SBK), der Römisch-Katholischen Zentral­kon­fe­renz (der Zusam­men­schluss der kanto­nal­kirch­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen, zu dem auch der Kath. Konfes­si­ons­teil des Kantons St. Gallen gehört) und der Konfe­renz der Ordens­ge­mein­schaf­ten in Auftrag gege­ben. Die Forschung arbei­te­te unab­hän­gig von den Auftrag­ge­bern und beschäf­tig­te sich mit allen Bistü­mern in der Schweiz. Sie soll eine Basis schaf­fen für die künf­ti­ge Forschung zur sexua­li­sier­ter Gewalt, die katho­li­sche Kleri­ker, kirch­li­che Ange­stell­te und Ordens­an­ge­hö­ri­ge seit Mitte des 20. Jahr­hun­derts in der Schweiz ausge­übt haben. Was die Ergeb­nis­se für die einzel­nen Bistü­mer bedeu­ten, wird erst am 12. Septem­ber bekannt. «Auch für uns ist das zum jetzi­gen Zeit­punkt noch völlig offen», sagt Sabi­ne Rüthe­mann, Kommu­ni­ka­ti­ons­be­auf­trag­te des Bistums St. Gallen. «Wir erach­ten es als äusserst wich­tig, dass diese Aufar­bei­tung statt­fin­det und begrüs­sen diese Studie sehr.» Das Bistum St. Gallen setzt sich seit zwan­zig Jahren mit der Aufar­bei­tung von Miss­brauchs­fäl­len und der Präven­ti­on ausein­an­der. 2002 wurde im Auftrag des dama­li­gen Bischofs Ivo Fürer ein Fach­gre­mi­um instal­liert – im Fach­gre­mi­um waren von Beginn an bewusst auch nicht­kirch­li­che Fach­per­so­nen, beispiels­wei­se wird aktu­ell das Gremi­um von der Juris­tin Danie­la Sieber präsi­diert. «Das Bistum hat von den Erfah­run­gen der Betrof­fe­nen gelernt», hält Sabi­ne Rüthe­mann fest. Deshalb gebe es seit diesem Jahr neben dem Schutz­gre­mi­um neu mit Pater Martin Werlen und Elisa­beth Fink-Schneider auch zwei Ansprech­per­so­nen für geist­li­chen Missbrauch.

Anlauf­stel­le für Betroffene

Schon bevor die Ergeb­nis­se präsen­tiert werden, steht fest: Die Arbeit wird fort­ge­setzt, SBK, RKZ und KOVOS haben grünes Licht für ein drei­jäh­ri­ges Folge­pro­jekt 2024–2026 gege­ben. Vreni Pete­rer: «Es ist ein Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung und ein Zeichen dafür, dass die Verant­wor­tungs­trä­ger die Notwen­dig­keit erkannt haben, aufzu­de­cken, wieviel Leid kirch­li­che Mitar­bei­ten­de verur­sacht haben.» Trotz­dem sieht Vreni Pete­rer noch viel Hand­lungs­be­darf: «Wir fordern die Schaf­fung einer unab­hän­gi­gen Anlauf­stel­le für Betrof­fe­ne und haben das bereits bei einem Tref­fen mit dem für die Studie zustän­di­gen Bischof Joseph Maria Bonn­emain depo­niert. Wir hoffen sehr, dass sich am 12. Septem­ber Betrof­fe­ne an kompe­ten­te Ansprech­per­so­nen wenden können.» Sie persön­lich habe es nicht befrem­det, sich damals an das Fach­gre­mi­um des Bistums St. Gallen zu wenden. «Doch für Betrof­fe­ne, die keinen Bezug mehr zur Kirche haben, ist es ein No-Go, die brau­chen eine nicht-kirchliche Anlauf­stel­le.» Sie betont, dass Betrof­fe­ne sich auch an die IG MiKU wenden können. Es gebe inzwi­schen in der Ostschweiz auch eine Selbst­hil­fe­grup­pe für Menschen, die sexu­el­le Gewalt im kirch­li­chen Umfeld erfah­ren haben.

Text: Stephan Sigg

Bild: zVg.

Veröf­fent­licht: 21.08.2023

Online

Im Online-Dossier finden Sie Arti­kel, die in den letz­ten Jahren im Pfar­rei­fo­rum zu sexu­el­ler Gewalt im kirch­li­chen Umfeld erschie­nen sind, die Ergeb­nis­se der Studie (ab 12. Septem­ber), Einord­nun­gen, Hinter­grund­ar­ti­kel sowie Kontakt­adres­sen des Fach­gre­mi­ums bzw. der Ansprech­per­so­nen im Bistum St. Gallen.

→ www.pfarreiforum.ch/studiemissbrauch

«Es braucht mehr Menschen, die Fragen stellen»

Dialog mit Chris­ten und Musli­men? Das wäre für den St. Galler Rabbi­ner Shlo­mo Tikoch­in­ski in der Kind­heit undenk­bar gewe­sen: Er wuchs auf in einer ultra­or­tho­do­xen Fami­lie in Isra­el, doch im Studi­um beschäf­tig­te er sich mit dem Chris­ten­tum und dem Islam. Seit einem Jahr ist er Rabbi­ner der Jüdi­schen Gemein­de St. Gallen.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski und Roland Rich­ter, ehema­li­ger Präsi­dent der Jüdi­schen Gemein­de, begrüs­sen herz­lich und neugie­rig, wir tref­fen uns im hellen Saal der Jüdi­schen Gemein­de im 1. Stock neben der Synago­ge am Roten Platz direkt neben der Raiff­ei­sen­bank. Kaum hat die Foto­gra­fin ihr Equip­ment aufge­baut, ist man mitten im Gespräch. Der Rabbi­ner spricht flies­send Deutsch, lässt aber immer wieder hebräi­sche und engli­sche Wörter einflies­sen – die er jeweils flink mit der Über­set­zungs­app auf seinem ­Handy übersetzt.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski, Sie ­besu­chen ab und zu inko­gni­to Gottes­diens­te der katho­li­schen oder refor­mier­ten ­Kirche. Warum?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Weil ich ein sehr neugie­ri­ger Mensch bin. Mich inter­es­siert es, wie die Gläu­bi­gen der ande­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ihren Glau­ben feiern. Nur, inko­gni­to ist inzwi­schen kaum mehr möglich: In den vergan­ge­nen Mona­ten durf­te ich bereits an vielen inter­re­li­giö­sen Anläs­sen oder Anläs­sen der Stadt teil­neh­men und deshalb kenne ich inzwi­schen viele Pfar­re­rin­nen und Pfar­rer persönlich.

Wie leicht ist Ihnen das ­Ankom­men in St. Gallen gefallen?

Shlo­mo Tikochinski: Sowohl die Begeg­nun­gen mit der Jüdi­schen Gemein­de, aber auch mit allen ande­ren Menschen in der Stadt waren von Anfang von Herz­lich­keit und Offen­heit geprägt. Vorher war ich Rabbi­ner in Dres­den, hier ist es weni­ger anonym, alle sind viel freund­li­cher. Die Jüdi­sche Gemein­de mit 120 Mitglie­dern ist klein, aber wir haben ein akti­ves Glaubens- und Gemein­de­le­ben mit vielen Anlässen.

Roland Rich­ter: Für uns ist Rabbi­ner Shlo­mo ein Geschenk. Wir sind zwar eine klei­ne Gemein­de, aber viele sind offen für Expe­ri­men­te. Erfreu­li­cher­wei­se konn­ten wir unse­ren Vorstand verjün­gen: Eine jünge­re Gene­ra­ti­on ist dabei, die Verant­wor­tung für die Gemein­de zu übernehmen.

Wie wich­tig ist der Inter­re­li­giö­se Dialog für Sie? Was tun Sie?

Shlo­mo Tikochinski: Inter­re­li­giö­ser Dialog beginnt für mich im Alltag, bei ganz alltäg­li­chen Begeg­nun­gen. Wenn zum Beispiel eine Zahn­ärz­tin, die in der Nähe unse­rer Synago­ge arbei­tet, mich plötz­lich auf der Stras­se fragt: Darf ich mal die Synago­ge anschau­en? Wir bieten aber auch zahl­rei­che Führun­gen für Schul­klas­sen an und ich nehme an Gesprächs­run­den teil. Es gibt fast jede Woche einen Termin.

Wie offen ist die Ostschweiz gegen­über ande­ren Religionen?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich nehme eine Offen­heit von den Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten wahr – das ist in Isra­el und selbst in Deutsch­land anders. Eindrück­li­che Beispie­le sind für mich der inter­re­li­giö­se Gottes­dienst am 1. August oder das gemein­sa­me Feiern am Bettag. Trotz­dem darf man etwas Zentra­les nicht verges­sen: Ob der inter­re­li­giö­se Dialog gelingt und sich Menschen verschie­de­ner Reli­gio­nen begeg­nen, ist nicht von solch beson­de­ren Veran­stal­tun­gen abhän­gig. Natür­lich braucht es den Austausch und gemein­sa­me Aktio­nen der offi­zi­el­len Vertre­ter der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, Insti­tu­tio­nen wie das «Haus der Reli­gio­nen» in Bern oder das «House of One» in Berlin sind wich­tig. Aber inter­re­li­giö­ser Dialog, der sich auf die Religions-Profis beschränkt, ist keine beson­de­re Leis­tung. Es geht darum, dass alle Gläu­bi­gen Teil davon sind.

Die St.Galler Synago­ge ist mitten in der Stadt zu finden, am Roten Platz.

Wie stel­len Sie sich das ­konkret vor?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich wünsche mir, dass man sich voller Neugier begeg­net und keine Angst hat, dem ande­ren Fragen zu stel­len. Deshalb ist es für mich viel bemer­kens­wer­ter, wenn mir jemand mitten im Alltag voller Offen­heit und Neugier begeg­net, Fragen stellt oder seine eige­nen Vorur­tei­le hinter­fragt. Es braucht mehr Menschen, die Fragen stel­len. Egal zu welcher Reli­gi­on ich gehö­re: Vorur­tei­le haben wir alle. Wir hören heute oft die offi­zi­el­len Vertre­ter der Reli­gio­nen über ihren Glau­ben spre­chen. Es braucht genau­so die ganz norma­len Menschen, die von ihrem eige­nen Glau­ben erzäh­len. Damit würde auch sicht­bar: Den Chris­ten, den Musli­men, den Juden gibt es nicht … Auch inner­halb jeder Reli­gi­ons­ge­mein­schaft gibt es so viele unter­schied­li­che Prägun­gen. Ande­ren vom Glau­ben erzäh­len, das ist sogar ein fester Teil des jüdi­schen Glau­bens: Es ist ein Wunsch Gottes – wir nennen es Kidusch Haschem: Gott gefällt es.

Herr Rich­ter, Sie sind schon viele Jahre Teil der Jüdi­schen Gemein­de in St. Gallen, wie ­erle­ben Sie das Mitein­an­der der Religionen?

Roland Rich­ter: Die Jüdi­sche Gemein­de spürt seit vielen Jahr­zehn­ten eine Begeg­nung auf Augen­hö­he. Ich erin­ne­re mich an ein Beispiel in den 1990er-Jahren: Damals grün­de­ten die Landes­kir­chen die Offe­ne Kirche St. Gallen. Der refor­mier­te Pfar­rer Chris­toph Sigrist, einer der Initi­an­ten dieses Projek­tes, frag­te mich an, ob ich im Vorstand mitwir­ken möch­te. Die öffentlich-rechtliche Aner­ken­nung 1993 durch den St. Galler Kantons­rat war für uns ein wich­ti­ger Schritt. Bis dahin waren wir als Verein orga­ni­siert, mit der Aner­ken­nung wurden wir den Landes­kir­chen gleich­ge­stellt. Das trug dazu bei, dass uns die Kirchen und der Staat auf Augen­hö­he begeg­nen. Heute profi­tie­ren wir sehr vom Schul­fach ERG. Viele Klas­sen behan­deln da die Welt­re­li­gio­nen und lernen das Juden­tum kennen.

Tun die Ostschwei­zer Schu­len genug für die Bildung in Sachen Religionen?

Shlo­mo Tikochinski: Die Nach­fra­ge nach Führun­gen in unse­rer Synago­ge ist gross. Viele Schul­klas­sen, die uns besu­chen, haben sich in einer «Woche der Reli­gio­nen» oder einem «Monat der Reli­gio­nen» mit dem Juden­tum beschäf­tigt. Ich spüre von den Kindern und Jugend­li­chen oft eine gros­se Neugier. Es werden viele Fragen gestellt.

Roland Rich­ter: Auch die ida-Woche jetzt im Septem­ber ist eine gute Platt­form. Das Wissen über die Reli­gio­nen ist eine wich­ti­ge Grund­la­ge für den inter­re­li­giö­sen Austausch: Nur wer den ande­ren ein biss­chen kennt, kann Fragen stel­len, die in die Tiefe gehen. Wenn mir der ande­re fremd ist und ich unsi­cher bin, was tabu ist oder was den ande­ren verletzt, dann bleibt es bei ober­fläch­li­chen Fragen. Wenn ich dem ande­ren begeg­nen möch­te, muss ich bereit sein, mich mit ihm zu beschäftigen.

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Heute ist es so einfach, sich über die Reli­gio­nen zu infor­mie­ren: Wenn ich heute etwas nicht weiss, kann ich ja googeln oder auf Wiki­pe­dia nachlesen.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski, haben Sie noch Kontakt zu Ihren Geschwistern?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich habe vor Kurzem einen meiner Brüder in Isra­el getrof­fen, er ist bis heute Teil der ultra­or­tho­do­xen Gemein­schaft. Als ich ihm erzählt habe, wie ich in St. Gallen mit Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der ande­ren Reli­gio­nen in Kontakt stehe und es auch gemein­sa­me Anläs­se gibt, hat er nur perplex gefragt: Warum tust du das? Für mich ist der inter­re­li­giö­se Dialog eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir glau­ben ja alle an den glei­chen Gott. Viel­leicht lässt sich das mit einem Chor verglei­chen: Es gibt verschie­de­ne Stim­men, aber Gott braucht alle Stim­men, den alle zusam­men machen einen Chor aus.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski ist seit einem Jahr Rabbi­ner der Jüdi­schen Gemein­de St.Gallen.

Shlo­mo Tikochinski

Der promo­vier­te Histo­ri­ker Shlo­mo Tikoch­in­ski, gebo­ren 1966 in Jeru­sa­lem als zweit­äl­tes­tes Kind von elf Geschwis­tern, studier­te Geschich­te, Philo­so­phie und Theo­lo­gie – und dabei auch das Chris­ten­tum und den Islam. Er war Rabbi­ner in Jeru­sa­lem und von 2020 bis 2022 in Dres­den. Er lehr­te und forsch­te in verschie­de­nen akade­mi­schen Posi­tio­nen und hat mehre­re Bücher veröf­fent­licht. Neben seiner Tätig­keit in St. Gallen hat er weiter­hin einen Lehr­auf­trag in Jeru­sa­lem. Er hat vier Kinder und ist inzwi­schen vier­fa­cher Grossvater.

Roland Rich­ter

Roland Rich­ter wurde 1944 in eine jüdi­sche Fami­lie in St. Gallen hinein­ge­bo­ren. Nach dem Medi­zin­stu­di­um und der Ausbil­dung zum Fach­arzt für Geburts­hil­fe und Frau­en­heil­kun­de kam er 1985 zurück nach St. Gallen und grün­de­te seine eige­ne ärzt­li­che Praxis. 1987 – 2009 war er im Vorstand der Jüdi­schen Gemein­de St. Gallen, ab 1994 als Präsident.

Eine kanto­na­le Woche für den inter­re­li­giö­sen Dialog

Die «Inter­re­li­giö­se Dialog- und Akti­ons­wo­che ida» findet alle zwei Jahre statt, dieses Jahr vom 11. bis 17. Septem­ber. Einer der Höhe­punk­te ist die gemein­sa­me Bettags­fei­er auf dem Klos­ter­platz St. Gallen (Sonn­tag, 17. Septem­ber, 15.00 Uhr). Es laden ein: die christ­li­chen Kirchen sowie verschie­de­ne Religions- und Glau­bens­ge­mein­schaf­ten der Stadt und Regi­on St. Gallen. Die rumänisch-orthodoxe Pfarr­ge­mein­de wird bei dieser Feier die «St. Galler Erklä­rung» unter­zeich­nen. Die «St. Galler Erklä­rung für das Zusam­men­le­ben der Reli­gio­nen und den inter­re­li­giö­sen Dialog» ist das Herz­stück der ida. Seit 2005 haben zahl­rei­che Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und auch Einzel­per­so­nen die Erklä­rung unter­schrie­ben: www.pfarreiforum.ch/stgallererklärung. In der ida-Woche gibt es zahl­rei­che Veran­stal­tun­gen im ganzen Kanton St. Gallen.

Text: Stephan Sigg

Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 23.08.2023

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