«Die Reise ist jetzt doppelt so weit»

Nach 18 Stun­den Reise mit dem Zug ist Maria (59) am Ziel in Wein­fel­den TG: Die ­Slowa­kin arbei­tet im Auftrag von Cari­tas jeweils für sechs Wochen als Betreue­rin bei Eva – im Wech­sel mit einer ande­ren Betreue­rin. Dank Maria kann die pfle­ge­be­dürf­ti­ge Senio­rin weiter­hin in ihrem Haus blei­ben. Doch wie fair ist dieses Modell?

Ich arbei­te seit 13 Jahren als Betreue­rin im Ausland», sagt Maria beim Gespräch mit dem Pfar­rei­fo­rum in Wein­fel­den. Wir sitzen im Garten. Mit dabei ist Simo­ne Keller, bei Cari­tas Schweiz verant­wort­lich für die Betreue­rin­nen und Betreu­er aus Osteu­ro­pa. Eva, bei der Maria als Betreue­rin arbei­tet, hat gera­de Besuch von einer Freun­din. Maria erzählt von ihrer Heimat: Sie kommt aus einem Dorf mit 500 Einwoh­nern in der Ost-Slowakei – nur 40 Kilo­me­ter entfernt von der ukrai­ni­schen Gren­ze. Den Ausbruch des Kriegs in der Ukrai­ne hat sie haut­nah mitbe­kom­men. Maria hat die Bilder immer noch vor Augen: «Das Dorf und die Umge­bung waren voll mit Autos von Menschen, die aus der Ukrai­ne geflüch­tet sind.» Maria schätzt ihre Arbeits­stel­le in der Schweiz. Doch die Reise und der Wech­sel zwischen zwei Kultu­ren und Menta­li­tä­ten falle ihr zuneh­mend schwe­rer. «Früher habe ich einfach die Koffer gepackt und dann ging’s los. Jetzt kostet mich das schon mehr Ener­gie. Habe ich alles einge­packt und an alles gedacht? Ist das Haus abge­schlos­sen?» Während Maria in der Schweiz ist, ist ihr Haus leer. «Meine Kinder sind erwach­sen, ich lebe alleine.»

Beim Inter­view in Wein­fel­den spricht Care-MigrantinMaria (59) über das Pendeln zwischen ihrer Heimat Slowa­kei und der Ostschweiz und somit zwischen zwei Kulturen.

Gelern­te Hochbauzeichnerin

Ursprüng­lich mach­te Maria eine Ausbil­dung zur Hoch­bau­zeich­ne­rin und arbei­te­te bis zum Fall des Eiser­nen Vorhangs in diesem Beruf. Dann war sie auf dem Gemein­de­amt tätig. «Es war immer mein Traum, ins Ausland zu gehen», sagt sie. Via Pfle­ge­kurs des Roten Kreu­zes findet sie den Einstieg in die Pfle­ge­ar­beit. Zwölf Jahre lang ist sie in Wien und Nieder­ös­ter­reich tätig. «Da frag­te mich eine Kolle­gin, die in Wein­fel­den als Betreue­rin für die Cari­tas tätig ist, ob ich nicht Lust hätte, in die Schweiz zu kommen und mich mit ihr abzu­wech­seln», erzählt sie. «Zunächst habe ich gezö­gert, aber als ich gehört habe, dass es eine Probe­zeit gibt, habe ich mir gesagt: Das schaffst du und dann kannst du immer noch entschei­den.» Simo­ne Keller von Cari­tas Schweiz ergänzt: «So wie bei Maria ist es eigent­lich selten. Meis­tens vermit­teln uns die Partner-Organisationen in der Slowa­kei und Rumä­ni­en die Betreue­rin­nen und Betreu­er.» Die Kolle­gin, die Maria auf die Stel­le in Wein­fel­den aufmerk­sam mach­te, ist heute auch die Betreue­rin, mit der sich Maria im 6‑Wochen-Rhythmus abwechselt.

Kontakt via WhatsApp

Maria schätzt ihre Arbeit und sie mag die Schweiz. «Ich erle­be die Menschen hier als selbst­be­wusst.» Die Menschen in der Slowa­kei könn­ten sich davon eine Schei­be abschnei­den. Mari­as prag­ma­ti­sche Grund­ein­stel­lung blitzt im Gespräch immer wieder auf. «Die Reise zwischen meiner Heimat und meinem Arbeits­ort in der Schweiz ist jetzt fast doppelt so lang», sagt sie, «dafür kümmert sich die Cari­tas um den ganzen Papier­kram und das Recht­li­che. In Öster­reich war ich selbst­stän­dig tätig und auf mich gestellt.» Sie habe den Wech­sel nie bereut. «Selbst­ver­ständ­lich vermis­se ich ab und zu meine Heimat, meine Freun­din­nen, die Kinder … Aber auch wenn ich stän­dig in der Slowa­kei wäre, würde ich meine Kinder nicht täglich sehen.» Whats­App sei Dank stehe sie mit ihnen in regel­mäs­si­gen Kontakt und bekom­me viel vom Alltag ihrer Fami­lie und Freun­de mit. «Der Sechs-Wochen-Rhythmus ist für meine Kinder und meine Freun­din­nen ganz normal.» Weih­nach­ten und Ostern im Ausland zu verbrin­gen – für viele Betreue­rin­nen oft eine schwe­re Zeit. Doch auch damit geht Maria entspannt um: «Es war für mich gar nicht so schlimm, Weih­nach­ten und Ostern bei Eva zu verbrin­gen, zuhau­se wäre ich dann viel­leicht allei­ne gewe­sen.» Wenn es so laufe wie jetzt, könne sie sich gut vorstel­len, noch bis zu ihrer Pensio­nie­rung als Betreue­rin im Ausland tätig zu sein.

Sprach­li­che Barrieren

Als Betreue­rin hilft Maria ihrer Klien­tin bei der Körper­hy­gie­ne, sie kümmert sich um den Haus­halt, erle­digt Einkäu­fe und leis­tet ihr Gesell­schaft. «Ich schät­ze es, dass ich sehr selbst­stän­dig arbei­ten kann.» Während der sechs Wochen, die Maria jeweils in Wein­fel­den verbringt, lebt sie im Haus von Eva. Die Arbeits­zei­ten sind genau gere­gelt und einmal in der Woche hat Maria einen frei­en Tag. Doch wo Menschen zusam­men­le­ben, kommt es auch zu Reibe­rei­en und Konflik­ten. «Die meis­ten Konflik­te entste­hen, weil gegen­sei­ti­ge Erwar­tun­gen unaus­ge­spro­chen sind und es oft schwer fällt, sich auf eine gute Weise abzu­gren­zen», weiss Simo­ne Keller. Maria nickt zustim­mend. Momen­te, in denen Eva launisch reagiert oder mit ihrer Situa­ton über­for­dert sei, gehö­ren zum Alltag. «Es kann nicht jeder Tag Sonn­tag sein. Wenn immer möglich, versu­che ich humor­voll mit solchen Situa­tio­nen umzu­ge­hen», so Maria. «Ich weiss natür­lich, dass ich so etwas nicht persön­lich nehmen darf, aber trotz­dem verlet­zen solche Äusse­run­gen.» Oft helfe ihr auch eine Haltung, die ihr ihre Mutter beigebracht habe: «Nega­ti­ve Wort­mel­dun­gen sind nicht mehr als ein Zug, der bei einem Ohr hinein­fährt und beim ande­ren wieder hinaus.» Simo­ne Keller ergänzt: «Es wird genau geprüft, welche Betreue­rin zu welcher Kundin oder welchem Kunden passt. Das Mensch­li­che muss stim­men.» Cari­tas klärt auch genau ab, ob die Situa­ti­on und die gesund­heit­li­che Verfas­sung der Klien­tin­nen und Klien­ten für das Betreu­ungs­mo­dell geeig­net ist.

Aus der Zeitung vorlesen

Maria und Eva hätten schnell einen Draht zuein­an­der gefun­den. Dazu beigetra­gen hat auch Lili – Evas Katze, Maria hat sie auf Anhieb ins Herz geschlos­sen. Nur sprach­lich gibt es manch­mal Schwie­rig­kei­ten: Maria spricht zwar flies­send Schrift­deutsch, doch Eva versteht sie oft nicht. Schmun­zelnd erzählt Maria eine Episo­de aus ihrem Alltag: «Ich lese ihr täglich aus der Zeitung vor. Wenn ich sie frage: Verste­hen Sie mich?, schüt­telt sie den Kopf. Aber sie meint: Das ist egal, lesen Sie weiter.» Betreue­rin und Klien­tin prägen sich gegen­sei­tig und im Ideal­fall lernen sie vonein­an­der. «Was ich auch schon von Betreue­rin­nen gehört habe: Ihre Kinder sagen zu ihnen: Wir merken, dass du wieder da bist – jetzt gibt es stän­dig Salat als Vorspei­se. Das ist in der Slowa­kei und Rumä­ni­en nicht üblich.» Umge­kehrt brin­gen Betreue­rin­nen bestimm­te Gewür­ze aus ihrer Heimat mit ober über­ra­schen an Weih­nach­ten mit einem Gulasch.

Mit Abschied konfrontiert

Bevor Maria in die Schweiz wech­sel­te, hat sie zwei Jahre lang ihre Mutter zuhau­se in der Slowa­kei gepflegt – diese starb mit 94 Jahren. In der Slowa­kei sei es noch immer häufig, dass älte­re Menschen von ihrer Fami­lie gepflegt werden und möglichst lange zuhau­se blei­ben. Als Betreue­rin hat Maria schon mehr­mals erlebt, dass sie ihre Klien­ten bis zum letz­ten Tag beglei­tet hat. Die stän­di­ge Konfron­ta­ti­on mit Ster­ben und Tod sei für sie trotz­dem nicht einfa­cher gewor­den. Sie zuckt mit den Achseln und lächelt. «Aber ich habe nun mal diesen Beruf gewählt, ich muss mich dem stel­len.» Was mit ihr sei, wenn sie mal hoch­be­tagt sei, daran möch­te sie jetzt nicht zu viel nach­den­ken: «Mein Motto ist: Es kommt, wie es kommt. Es lohnt sich nicht, sich darüber Gedan­ken zu machen.»

Text: Stephan Sigg

Bilder: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 22. 06. 2023

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