Viele kennen die Situation nur allzu gut: Man läuft durch die Stadt und trifft auf Menschen, die einen nach Geld fragen. Etwas geben oder nicht? Die Entscheidung ist nicht einfach – und hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Ich persönlich gebe meistens den Bettelnden etwas: Manchmal Geld, aber nicht immer.
Gute Erfahrung habe ich gemacht, indem ich Menschen auch Essen kaufe, nach dem sie verlangen. Dies bot ich zum Beispiel einem jungen Mann am Bahnhof an, der mich nach Geld fragte. Er nahm das Angebot dankend an und es machte mir auch Freude, ihm etwas zu schenken, von dem ich wusste, dass es ihm wirklich dient. Ich denke, das ist meistens das Problem bei Bettel-Anfragen: Man ist sich nicht sicher, wofür die bettelnden Menschen das verlangte Geld ausgeben. Man möchte sicher sein, dass es wirklich für die Befriedigung von Grundbedürfnissen ausgegeben und nicht einfach als Taschengeld benutzt wird. Einem bettelnden Menschen Naturalien oder einen konkreten Einkauf anzubieten, erachte ich als einen guten Kompromiss.
Das Erlebnis mit dem jungen Mann am Bahnhof hat in mir ein paar Überlegungen ausgelöst: Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn man grosse Bedenken hat, jemandem Geld zu geben, damit er sich etwas kaufen kann? Wir sind gegenüber Menschen, die betteln, kritisch eingestellt. Oft vertrauen wir ihnen nicht und haben ihnen gegenüber viele Vorurteile. Das ist ganz normal und menschlich. Aber wieso soll man nicht gerade die Vorurteile überwinden und etwas geben? Gerade uns Christen kann in diesem Zusammenhang das Gebot der Goldenen Regel ein Leitgedanke sein: Alles nun, was Ihr wollt, dass Euch die Menschen tun, das tut auch Ihr ihnen ebenso (Matthäus 7,12).
Das Gebot fordert uns auf und lehrt uns, jemanden so zu behandeln, wie wir selbst gerne behandelt werden wollen. In solchen Situationen sollten wir uns immer wieder fragen: Wie sollen die Menschen uns behandeln, wenn wir in Not sind? Wenn wir selber im Alltag in irgendeiner Weise Hilfe benötigen, sind wir ebenfalls froh, wenn uns geholfen wird, ohne gross zu fragen oder von uns etwas zu verlangen. Bei manchen sind sie offensichtlicher (wie zum Beispiel bei bettelnden Menschen) und bei manchen verborgener. Warum also sollten wir nicht auch helfen, wenn andere in Not sind?
Und Hand aufs Herz: Die meisten von uns haben genug Geld, dass ein oder zwei Franken wirklich entbehrlich sind und man diese den bettelnden Menschen gut geben kann. Letztlich bleibt es aber natürlich die freie Entscheidung jeder einzelnen Person, wie er oder sie in solchen Momenten reagiert.
Pascal Graf
Jugendseelsorger St. Gallen
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Veröffentlichung: 11. Oktober 2023