Ich kann mich gut an meine eigenen ersten Gebetserfahrungen erinnern. Meine Eltern haben mit meiner Schwester und mir jeden Abend «I ghöre es Glöggli» gesungen. Dieses Lied hat mir Halt gegeben, besonders die Zeile «de lieb Gott im Himmel wird au bi mir si». Ich war froh, dass Gott bei mir ist, wenn das Licht gelöscht wurde.
Im Primarschulalter hatte ich ein schweizerdeutsches Hörspiel auf Kassette, das ich mir sehr oft angehört habe: «Die Abenteuer des Tom Sawyer und Huckleberry Finn». Die gruselige Szene nachts auf dem Friedhof, während der die beiden Verbrecher beobachten, hat mir immer wieder Schauer über den Rücken gejagt. Die beiden Buben haben Angst und Finn fragt Tom mit klappernden Zähnen: «Kannst Du beten?» Tom verneint und stimmt dann doch das Lied an, das ihm abends Halt gibt: «I ghöre es Glöggli».
Ein Schatz im Herz
Auswendig gelernte Gebete und Lieder helfen Kindern (und Erwachsenen) in vielen Situationen, zu Gott zu sprechen. Ein kurzes Tischgebet vor dem Essen kann schon mit kleinen Kindern eingeübt werden. Die häufige Wiederholung des gleichen Gebetes oder Liedes macht das Lernen leicht. So wird das Gebet verinnerlicht und zu einem Schatz im Herzen. Nicht umsonst heisst auswendig lernen im Englischen «learning by heart», im Französischen «apprendre par cœur». Auch Gebete wie das «Vater unser» können mit Kindern gesprochen werden. Selbst wenn sie noch nicht alles erfassen, sind sie doch stolz darauf, dass sie mitbeten können. Es gibt mehrere gute Erklärungsbilderbücher für ein erstes Verständnis dieses Gebetes. Genauso wichtig scheint mir, dass Kinder lernen, ihre Erlebnisse zu erzählen und in Worte zu fassen, was sie bewegt. So erfahren sie Gott und Jesus als ein DU, dem sie alles anvertrauen können. Z. B. haben wir mit unseren Kindern einander beim Gute-Nacht-Sagen die Frage gestellt:
– Wofür möchte ich Gott heute danken?
– Worum möchte ich Gott heute bitten?
Zur Ruhe kommen lassen
Unsere Erfahrung ist, dass dieses Ritual Kinder und Erwachsene zur Ruhe kommen lässt und beim Einschlafen hilft. Wir werden uns bewusst, wenn ein Erlebnis noch nicht verarbeitet ist und unseren Schlaf stören könnte. Ich nenne dies das freie Gebet und versuche es auch im Religionsunterricht mit den Kindern zu üben. Viele Kinder haben grossen Spass daran. Gebete dürfen nicht zum Zwang werden. Kindern soll nicht das Gefühl gegeben werden, dass sie etwas leisten müssen, damit Gott zufrieden gestellt wird. Ein solches Gottesbild würde Kinder belasten und nicht zu innerer Ruhe führen. Wenn ein Gebet freiwillig ist, kann es von Herzen kommen.
Kurze, kindgerechte Gebete finden Sie z. B. im Buch Margot und Lea Kässmann, Du gibst immer auf mich acht. Mit Kindern beten, empfohlen ab 4 Jahren, 2019. Oder: Das Vaterunser den Kindern erzählt, Georg Schwikart, 2014.
Daniela Gremminger Seelsorgerin Katholische Kirche Uzwil und Umgebung
Stefan Hollenstein lebt den christlichen Glauben seit seiner Kindheit. Vor zwei Jahren wurde er zum Präsidenten des Kirchenverwaltungsrates Amden gewählt. Obwohl er das Amt nie angestrebt hat, tritt er im September zur Wiederwahl an.
Hoch oben über dem Walensee sitzt Stefan Hollenstein in seinem Büro in Amden. Über den Telefonhörer gib er einem Angestellten exakte Anweisungen. Der Betriebsleiter des Autobetriebes Weesen-Amden (AWA) hat an diesem sonnigen Vormittag viel zu tun. Auf den Strassen herrscht reger Betrieb, die Gegend gilt als Wanderparadies. Viele Auswärtige und Einheimische nutzen die AWA. «Wir haben genug Arbeit. Eigentlich wollte ich keine weiteren Verpflichtungen eingehen», sagt Hollenstein und spricht damit sein Ehrenamt an: Der 39-Jährige wurde Ende 2020 in einer Ersatzwahl zum Präsidenten des Kirchenverwaltungsrates (KVR) Amden gewählt. Damit gehört Hollenstein zu den jüngsten KVR-Präsidenten im Bistum St. Gallen. Zuvor war er Mitglied im KVR beziehungsweise Vizepräsident.
Tagsüber fährt er die Busse oder erledigt im Betrieb die Administration. An den Wochenenden wiederum stehen oft kirchliche Termine an. Ohne die Unterstützung seiner Frau und der 12 Angestellten im Geschäft sowie der KVR-Mitglieder wäre das Pensum nicht machbar, so Hollenstein. Und dennoch sagt er: «Jeder, der kann, soll einen Beitrag leisten. Leider sind immer weniger Menschen bereit, ihre Freizeit zu opfern.»
Vakanzen besetzen
Zu seinem Amt kam der gebürtige Mühlrütner eher unfreiwillig. Er sei zwar mit dem katholischen Glauben gross geworden, habe diesen immer schon gelebt – Hollensteins Vater war während 26 Jahren selber KVR-Mitglied – und habe sich schon immer in der Kirche engagiert. «Aber ich wollte nie in den Kirchenverwaltungsrat. Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen», sagt Hollenstein. Warum aber bekleidet er das Amt nun doch? Der Grund für den Sinneswandel ist einfach. Wie in vielen anderen Gemeinden auch, hatte der Kirchenverwaltungsrat in Amden Mühe, Freiwillige zu finden. So «rutschte» Hollenstein 2019 als Mitglied in den KVR und schliesslich in das Amt des Präsidenten. «Als sich niemand für das Amt meldete, war für mich klar: Wir müssen eine Lösung finden.»
Gelebte Traditionen
Wenn Stefan Hollenstein in die Zukunft blickt, freut er sich. Die Kirchgebäude sind in einem guten Zustand und die Reorganisation des Seelsorgeteams ist auf gutem Weg. Die Orgel erstrahlt nach einer Revision wieder in neuem Glanz. Hollenstein fühlt sich wohl in Amden. «Wir haben eine lebendige Kirchgemeinde und die Traditionen werden gelebt», sagt er, verschweigt aber nicht, dass auch in seiner Wohngemeinde die Gottesdienste heute nur noch spärlich und vor allem von älteren Menschen besucht werden. «Wir müssen einen Weg finden, die Traditionen der Vergangenheit mit der Moderne zusammenzubringen.» Dies sei eine grosse Herausforderung und seine wohl grösste Aufgabe. Stefan Hollenstein wird sich dieser stellen. Am 10. September stehen im Kanton St. Gallen die Erneuerungswahlen in den Kirchenverwaltungsrat an, und für den 39-Jährigen ist klar: Er wird nochmals kandidieren.
Text und Bild: Alessia Pagani Veröffentlichung: 2. August 2023
Die Fachstelle infoSekta bekommt mehr Anfragen zu kleinen, unbekannten Gruppen. Dazu tragen auch Digitalisierung und Soziale Medien bei: Besorgte Eltern melden sich, weil sich ihre Söhne von Onlinekursen und umstrittenen Vorbildern wie Andrew Tate blenden lassen.
Grosse Gemeinschaften wie jene der Zeugen Jehovas, viele kleine und unbekannte Gemeinschaften, aber auch Konzepte, die vor allem jungen Männern Erfolg versprechen: Der neue Jahresbericht von infoSekta zeigt, welche Themen die Zürcher Fachstelle für Sektenfragen im vergangenen Jahr beschäftigt hat. Diese hat 2022 rund 3000 Beratungskontakte verzeichnet, der Beratungsbedarf ist damit ungebrochen. Zwei Drittel davon bezogen sich auf rund 300 kleinere Gruppen. «Viele sind eher unbekannt und erscheinen selten in den Schlagzeilen», heisst es im Jahresbericht. Darin lässt sich beispielsweise auch der Leidensweg dreier Aussteigerinnen aus der Gruppe Komaja, «die Gemeinschaft der Erleuchteten» des Gründers und Leiters Franjo Milicevic alias Guru Makaja nachlesen. Gemäss seiner Lehre «Verliebtheit als geistige Methode» wird Sex zur Befreiung von alten Mustern und zur Überwindung des Ego eingesetzt.
Eigene moralische Vorstellungen
«Bereits vor 30 Jahren, als wir mit unserer Arbeit begannen, spiegelten die Anfragen die Vielfalt der Weltanschauungslandschaft wider», sagt Susanne Schaaf von infoSekta. Diese Pulverisierung habe im Rahmen der Individualisierung nun aber noch zugenommen. Während früher exotische Gemeinschaften wie die Hare-Krishna-Bewegung oder die Organisation von Bhagwan oder auch auffällige Gruppen wie Fiat Lux Interesse geweckt hätten, stehe heute oft die Selbstoptimierung im Zentrum. «Es geht dabei um Fragen, wie man sein Potenzial ausschöpfen kann, um erfolgreich und glücklich zu werden», sagt sie. Explizit im Jahresbericht erwähnt wird ein Phänomen, das vor allem junge Männer betrifft. Es handelt sich um die manipulative Sogwirkung von umstrittenen Schulungsangeboten und Multi-Level-Marketing-Systemen wie von der Online-Finanzakademie IM Mastery Academy oder von sogenannten Influencern. Letzteres sind Personen, die in den Sozialen Medien einen hohen Bekanntheitsgrad haben und dadurch andere beeinflussen. Die jungen Menschen kommen ebenfalls über die Sozialen Medien mit den entsprechenden Plattformen und Personen in Kontakt. «Im vergangenen Jahr hatten wir vermehrt Anfragen von besorgten Eltern, weil sich der Sohn einem solchen System zugewandt hatte und unzugänglich für Kritik und Warnungen geworden war», sagt Susanne Schaaf. «Die Vertreter der Systeme treten betont lässig und selbstbewusst auf, lassen sich vor teuren Autos oder am Pool ablichten. Sie vermitteln die Botschaft, dass es einfach sei, sein eigener Herr zu sein, selbstbestimmt arbeiten zu können und schnell viel Geld zu verdienen.» Als Beispiel nennt sie den ehemaligen Kickboxer und Influencer Andrew Tate, der einer breiten Öffentlichkeit durch seine frauenfeindlichen Aussagen bekannt geworden ist. «Sein Erfolg bei vielen jungen Männern könnte damit zusammenhängen, dass er das Bild eines vermeintlich starken Mannes vermittelt. Dieser lässt sich von niemandem etwas vorschreiben und lebt nach eigenen moralischen Vorstellungen, unabhängig und angstfrei», sagt sie.
An enges Milieu verlieren
Doch wie geht die Fachstelle vor, wenn sie Anfragen zu kleineren oder unbekannten Gruppen bekommt? «In solchen Fällen recherchieren wir, sichten die Website und Videoclips der Organisation, setzen uns mit dem Lehrgebäude auseinander und suchen nach personellen Verflechtungen, um eine erste Einschätzung machen zu können», sagt Susanne Schaaf. InfoSekta stehe auch mit anderen Fachstellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich im Austausch. Dieses Netzwerk könne bei den Recherchen sehr hilfreich sein. In einem weiteren Schritt gehe es dann um eine umfassenden Auslegeordnung mit den Angehörigen. Wie soll man mit einem Familienmitglied umgehen, das in ein sektenhaftes Milieu abgedriftet ist? Wie weit kann man in seiner Argumentation gehen, ohne die Beziehung zu gefährden? Wohin mit der Angst vor dem Verlust des geliebten Menschen? «Die Mechanismen sind bei kleinen Gruppen oft ähnlich wie bei bekannten Organisationen», sagt sie und fügt an: «Die Probleme der Angehörigen sind über all die Jahre ähnlich geblieben. Sie verlieren einen geliebten Menschen an ein enges Milieu.»
→ Jahresbericht sowie Infos zu Selbsthilfegruppen und Prävention auf www.infosekta.ch
Text: Nina Rudnicki Bild: pixabay.com Veröffentlichung: 25. Juli 2023
Mit einer Velo-Rikscha und einem Team von 28 ehrenamtlichen Pilotinnen und Piloten ermöglicht der Rorschacher Paul Zünd Hochbetagten Ausfahrten zu deren Lieblingsorten. Das Schönste daran sei, miterleben zu können, wie seine Fahrgäste aufblühen, sagt der Religionspädagoge. Seine Leidenschaft für’s Velofahren entdeckte er einst als Velokurier.
Zum Velofahren bin ich erst spät gekommen», sagt Paul Zünd, der bei der Katholischen Kirche der Region Rorschach für das Ressort Erwachsene zuständig ist. Im Schatten des Parks vor der Herz-Jesu-Kirche hat er seine Rikscha parkiert, mit der er regelmässig Seniorinnen und Senioren ausfährt. «Als 12-Jähriger habe ich zwar gearbeitet und mir von dem Geld ein Rennvelo gekauft. Danach wurde ich aber erst mal ein richtiger Töfflibueb», sagt der 51-Jährige. Zum Velofahren brachte ihn in seinen Zwanzigerjahren schliesslich ein Freund, der vorschlug, dass sie beide doch Velokuriere werden sollten. Später leitete und baute er unter anderem den Velokurier Die Fliege in St. Gallen aus. «Das Gefühl, auf dem Velo mit der Umwelt und den Menschen verbunden zu sein, fasziniert mich bis heute. Es gibt keine Glasscheibe dazwischen und ich bin in einer Geschwindigkeit unterwegs, in der ich mich auf das Geschehen um mich herum einlassen kann», sagt er.
Ausfahrt zum Hochzeitstag
Dieses Gefühl, auszufahren, den Wind in den Haaren zu spüren, unterwegs spontan Bekannten zu begegnen: Das sollen mittels der Rikscha auch die Fahrgäste von Paul Zünd erleben. Vor vier Monaten hat er daher das Rikscha-Projekt gestartet und ein Team von 28 ehrenamtlichen Pilotinnen und Piloten zusammengestellt.
An diesem Vormittag trifft er das Ehepaar Elfi und Peter Künzle aus Rorschach. Die beiden sind um die 80 Jahre alt und eigentlich selbst täglich auf dem Velo unterwegs. Da die Katholische Kirche der Region Rorschach aktuell auf ihrer Homepage mit neuen Fotos verschiedene Projekte vorstellt, haben sich die beiden bereiterklärt, als Fotomodelle bei einer Tour dabei zu sein. «Ausserdem haben wir gerade unseren 57. Hochzeitstag gefeiert. Wir fanden, aus diesem Anlass könnten wir uns gut auf etwas Neues wie eine Rikscha-Fahrt einlassen», sagt Elfi Künzle. Sie fügt an, sie freue sich vor allem darauf, in der Natur zu sein und den Fahrtwind zu spüren.
Teil des Glücks sein
Elfi und Peter Künzle nehmen in der Rikscha Platz und befestigen den Anschnallgurt. Paul Zünd steigt hinter ihnen auf den Sattel und tritt in die Pedale. Maximal 15 Kilometer pro Stunde schnell wird er fahren. Ein elektrischer Motor unterstützt ihn dabei. Die Rikscha hat er über den Verein «Radeln ohne Alter Schweiz» gemietet. Elfi und Peter Künzle sind in Rorschach gut vernetzt und haben viele Bekannte. Schon nach wenigen Metern wird klar, worin der Vorteil einer solchen Ausfahrt liegt: Ein Winken hier, ein paar Zurufe dort und immer wieder wird das Ehepaar von Bekannten auf dem Velo oder im Auto überholt. «Miterleben zu können, wie meine Fahrgäste unterwegs aufblühen, und Teil ihres Glücks zu sein, ist das Schönste für mich als Pilot», sagt Paul Zünd. In den Alters- und Pflegeheimen spreche man bei dieser Art der Tagesgestaltung von Aktivierung.
Die Rückmeldungen, die Paul Zünd und sein Team von den Betreuungs- und Pflegefachpersonen erhalten, sind positiv. Den Fahrgästen sei anzumerken, wie gut ihnen die Ausfahrt getan habe. Mittlerweile machen das Seniorenzentrum La Vita in Goldach, das Altersheim Rorschach und das Haus zum Seeblick im Rorschacherberg bei dem Projekt mit. Im Durchschnitt 20 Buchungen für seine Rikscha-Ausflüge erhält Paul Zünd von diesen im Monat. Ein bis zwei Stunden dauert eine Fahrt und führt zu Lieblingsorten der jeweiligen Fahrgäste. «Eine Frau wünschte sich zum Beispiel einmal eine Tour zum Hotel Bad Horn, um dort am See etwas zu trinken», sagt Paul Zünd. Und ein Ehepaar wollte noch einmal zu jenem Haus fahren, in dem es gelebt hatte. Manchmal komme es allerdings auch vor, dass ein Fahrgast zu unruhig sei oder aus verschiedenen Gründen die Fahrt nicht geniessen könne. «In solchen Situationen kehre ich um und bringe die Person zurück», sagt er.
Eine eigene Rikscha kaufen
«Recht auf Wind im Haar», so hat Paul Zünd sein Rikscha-Projekt benannt. Erfunden habe er diese Bezeichnung aber nicht. Vielmehr sei es ein weltweit bekannter Spruch unter Rikschafahrerinnen und ‑fahrern. Seit Anfang Juli ist auch klar, wie es mit dem Projekt weitergeht. Das Pastoralteam hat sich einstimmig für den Kauf einer Rikscha ausgesprochen und möchte das Projekt nach den Sommerferien weiterführen. Nun liegt der Ball bei der Geschäftsleitung und dem Kirchenverwaltungsrat. Letzterer muss für einen Kauf einen ausserordentlichen Kredit sprechen.
Elfi und Peter Künzle kehren derweil mit Paul Zünd an den Startpunkt zurück. Sie hatten Spass und Paul Zünd verspricht ihnen beim Abschied nochmals eine richtige Tour – ganz ohne Kameras. Er selbst wird sich am Abend auf sein Velo schwingen und nach Hause fahren. Ein Auto besitzt er nicht. «Auf dem Velo unterwegs zu sein ist für mich der perfekte Ausgleich», sagt er. «Mehr brauche ich nicht.»
Text: Nina Rudnicki Bilder: Ana Kontoulis Veröffentlichung: 24. Juli 2023
Wer gerne den Wind in den Haaren spürt, fährt ohne: Sonst schützt die Fahrgäste aber ein Dach vor dem Wetter. Paul Zünd befestigt es an der Rikscha.
Mit einer Velo-Rikscha und einem Team von 28 ehrenamtlichen Pilotinnen und Piloten ermöglicht der Rorschacher Paul Zünd Hochbetagten Ausfahrten zu deren Lieblingsorten. Das Schönste daran sei, miterleben zu können, wie seine Fahrgäste aufblühen, sagt der Religionspädagoge. Seine Leidenschaft für’s Velofahren entdeckte er einst als Velokurier.
Wer gerne den Wind in den Haaren spürt, fährt ohne: Sonst schützt die Fahrgäste aber ein Dach vor dem Wetter. Paul Zünd befestigt es an der Rikscha.
Zum Velofahren bin ich erst spät gekommen», sagt Paul Zünd, der bei der Katholischen Kirche der Region Rorschach für das Ressort Erwachsene zuständig ist. Im Schatten des Parks vor der Herz-Jesu-Kirche hat er seine Rikscha parkiert, mit der er regelmässig Seniorinnen und Senioren ausfährt. «Als 12-Jähriger habe ich zwar gearbeitet und mir von dem Geld ein Rennvelo gekauft. Danach wurde ich aber erst mal ein richtiger Töfflibueb», sagt der 51-Jährige. Zum Velofahren brachte ihn in seinen Zwanzigerjahren schliesslich ein Freund, der vorschlug, dass sie beide doch Velokuriere werden sollten. Später leitete und baute er unter anderem den Velokurier Die Fliege in St. Gallen aus. «Das Gefühl, auf dem Velo mit der Umwelt und den Menschen verbunden zu sein, fasziniert mich bis heute. Es gibt keine Glasscheibe dazwischen und ich bin in einer Geschwindigkeit unterwegs, in der ich mich auf das Geschehen um mich herum einlassen kann», sagt er.
Eigentlich sind Elfi und Peter Künzle selbst täglich mit ihren Velos unterwegs. Zu ihrem 57. Hochzeitstag gönnen sie sich aber eine Ausfahrt mit der Rikscha.
Ausfahrt zum Hochzeitstag
Dieses Gefühl, auszufahren, den Wind in den Haaren zu spüren, unterwegs spontan Bekannten zu begegnen: Das sollen mittels der Rikscha auch die Fahrgäste von Paul Zünd erleben. Vor vier Monaten hat er daher das Rikscha-Projekt gestartet und ein Team von 28 ehrenamtlichen Pilotinnen und Piloten zusammengestellt. An diesem Vormittag trifft er das Ehepaar Elfi und Peter Künzle aus Rorschach. Die beiden sind um die 80 Jahre alt und eigentlich selbst täglich auf dem Velo unterwegs. Da die Katholische Kirche der Region Rorschach aktuell auf ihrer Homepage mit neuen Fotos verschiedene Projekte vorstellt, haben sich die beiden bereiterklärt, als Fotomodelle bei einer Tour dabei zu sein. «Ausserdem haben wir gerade unseren 57. Hochzeitstag gefeiert. Wir fanden, aus diesem Anlass könnten wir uns gut auf etwas Neues wie eine Rikscha-Fahrt einlassen», sagt Elfi Künzle. Sie fügt an, sie freue sich vor allem darauf, in der Natur zu sein und den Fahrtwind zu spüren.
Teil des Glücks sein
Elfi und Peter Künzle nehmen in der Rikscha Platz und befestigen den Anschnallgurt. Paul Zünd steigt hinter ihnen auf den Sattel und tritt in die Pedale. Maximal 15 Kilometer pro Stunde schnell wird er fahren. Ein elektrischer Motor unterstützt ihn dabei. Die Rikscha hat er über den Verein «Radeln ohne Alter Schweiz» gemietet. Elfi und Peter Künzle sind in Rorschach gut vernetzt und haben viele Bekannte. Schon nach wenigen Metern wird klar, worin der Vorteil einer solchen Ausfahrt liegt: Ein Winken hier, ein paar Zurufe dort und immer wieder wird das Ehepaar von Bekannten auf dem Velo oder im Auto überholt. «Miterleben zu können, wie meine Fahrgäste unterwegs aufblühen, und Teil ihres Glücks zu sein, ist das Schönste für mich als Pilot», sagt Paul Zünd. In den Alters- und Pflegeheimen spreche man bei dieser Art der Tagesgestaltung von Aktivierung.
Die Rückmeldungen, die Paul Zünd und sein Team von den Betreuungs- und Pflegefachpersonen erhalten, sind positiv. Den Fahrgästen sei anzumerken, wie gut ihnen die Ausfahrt getan habe. Mittlerweile machen das Seniorenzentrum La Vita in Goldach, das Altersheim Rorschach und das Haus zum Seeblick im Rorschacherberg bei dem Projekt mit. Im Durchschnitt 20 Buchungen für seine Rikscha-Ausflüge erhält Paul Zünd von diesen im Monat. Ein bis zwei Stunden dauert eine Fahrt und führt zu Lieblingsorten der jeweiligen Fahrgäste. «Eine Frau wünschte sich zum Beispiel einmal eine Tour zum Hotel Bad Horn, um dort am See etwas zu trinken», sagt Paul Zünd. Und ein Ehepaar wollte noch einmal zu jenem Haus fahren, in dem es gelebt hatte. Manchmal komme es allerdings auch vor, dass ein Fahrgast zu unruhig sei oder aus verschiedenen Gründen die Fahrt nicht geniessen könne. «In solchen Situationen kehre ich um und bringe die Person zurück», sagt er.
Paul Zünd ist mit seinen Fahrgästen mit maximal 15 Kilometern pro Stunde auf den Velowegen unterwegs. Immer im Einsatz sind Glocke und Geschwindigkeitsanzeige.
Eine eigene Rikscha kaufen
«Recht auf Wind im Haar», so hat Paul Zünd sein Rikscha-Projekt benannt. Erfunden habe er diese Bezeichnung aber nicht. Vielmehr sei es ein weltweit bekannter Spruch unter Rikschafahrerinnen und ‑fahrern. Seit Anfang Juli ist auch klar, wie es mit dem Projekt weitergeht. Das Pastoralteam hat sich einstimmig für den Kauf einer Rikscha ausgesprochen und möchte das Projekt nach den Sommerferien weiterführen. Nun liegt der Ball bei der Geschäftsleitung und dem Kirchenverwaltungsrat. Letzterer muss für einen Kauf einen ausserordentlichen Kredit sprechen.
Elfi und Peter Künzle kehren derweil mit Paul Zünd an den Startpunkt zurück. Sie hatten Spass und Paul Zünd verspricht ihnen beim Abschied nochmals eine richtige Tour – ganz ohne Kameras. Er selbst wird sich am Abend auf sein Velo schwingen und nach Hause fahren. Ein Auto besitzt er nicht. «Auf dem Velo unterwegs zu sein ist für mich der perfekte Ausgleich», sagt er. «Mehr brauche ich nicht.»
Ob Rosenkränze, Kreuze, Medaillen oder Reliquien: Räumt man das Haus oder die Wohnung von Angehörigen, hält man diese Gegenstände oft in der Hand. Doch wohin damit?
Auch religiöser Geschmack verändert sich», sagt Jürg Wüst, Seelsorger in Gommiswald. «Es gibt Bilder oder Statuen, die etwa den Eltern sehr wichtig waren. Der nachfolgenden Generation gefallen sie aber nicht mehr wirklich oder sie hat dafür keine Verwendung.» Damit spricht Jürg Wüst einen Punkt an, vor dem Angehörige häufig stehen, wenn sie beispielsweise das Haus ihrer Eltern räumen: Darf man religiöse Gegenstände einfach entsorgen? Oder gibt es Alternativen dazu? Auch das SRF berichtete in einem Beitrag über das Bistum Basel vor einiger Zeit darüber, dass in vielen Kirchen anonym und absichtlich religiöse Gegenstände deponiert würden. «In der Seelsorgeeinheit Obersee kommt das nur selten vor», sagt Jürg Wüst. Vielmehr sei bekannt, dass man religiöse Gegenstände offiziell den zuständigen Pfarreimitarbeitenden übergeben könne. «Wichtig ist, dass keine religiösen Gefühle verletzt werden», sagt er. Viele Personen seien daher froh, wenn sie erfahren würden, dass die abgegebenen Gegenstände wiederverwertet werden können. In seiner Seelsorgeeinheit würden diese an verschiedene Kirchen in Südosteuropa weitergegeben. «Nur weil den Menschen hier etwas nicht mehr gefällt, muss das nicht pauschal für alle Länder gelten.»
Spenden und weitergeben
Josef Manser ist Pfarrer in der Seelsorgeeinheit Gaster. Er erzählt, dass er stets einen kleinen Vorrat an Rosenkränzen und Bibeln habe, die bei ihm abgegeben wurden. «Manchmal kommt es vor, dass mich Personen nach solchen Gegenständen fragen. Dann gebe ich diese weiter.» Dass Dinge bei der Kirche oder beim Pfarreiheim anonym deponiert werden, erlebe er selten. Häufiger erhalte er hingegen Anfragen, was man mit religiösen Gegenständen tun könne. Zudem empfiehlt er die Möglichkeit, Gegenstände wie Kerzenständer und Kerzen, Statuen, Heiligenbilder, Kreuze, Kreuzwegtafeln, Reliquien, Rosenkränze und Medaillen an die Osteuropahilfe «Triumph des Herzens» zu spenden. Der Hauptsitz befindet sich in Zuzwil, eine Geschäftsstelle in Einsiedeln. Auch an der Tonhallenstrasse 50 in Wil gibt es laut Manser ein Sammellager, das jeweils am Mittwoch und Samstag von 9 bis 11 Uhr geöffnet hat.
Mit Erinnerung und Dank
Im Kirchenrecht CIC 1171 heisst es: Heilige Sachen, die durch Weihung oder Segnung für den Gottesdienst bestimmt sind, sind ehrfürchtig zu behandeln und dürfen nicht zu profanem oder ihnen fremdem Gebrauch verwendet werden, selbst dann nicht, wenn sie Eigentum von Privatpersonen sind. Josef Manser erwähnt als Beispiel Andachtsgegenständen. «Sie sind gesegnet, und Menschen haben eine persönliche Beziehung dazu. Von daher fällt es meist schwer, diese Dinge zu entsorgen. Trotzdem finde ich, müssen wir uns auch da von gewissen Dingen trennen.» Er selbst schmeisse diese nicht einfach offen in einen Abfallsack, sondern verabschiede sie etwa mit einem Gebet, mit Erinnerungen und Dank oder packe sie ein. «Ausserdem dürfen wir nicht vergessen, dass religiöse Dinge lediglich ein Verweis auf Gott und sein Wirken sind», sagt er. «Wenn keine subjektive Beziehung zum Gegenstand mehr besteht, ist die Segenswirkung nicht mehr da. Statuen, Bilder, Amulette zu verehren, wäre Aberglaube.»
Text: Nina Rudnicki Bilder: pixabay.com Veröffentlichung: 21. Juli 2023
Der neue Domorganist Christoph Schönfelder sagt, was ihn am Orgelspielen fasziniert und wieso er dafür von München nach St. Gallen gezogen ist.
Abends, wenn die Kathedrale in St. Gallen ihre Türen für die Öffentlichkeit schliesst, setzt sich Christoph Schönfelder jeweils an die Orgel und übt. «Es ist die Zeit, in der ich mich ohne Nebengeräusche auf das Instrument einlassen und es kennenlernen kann», sagt der neue Domorganist. Der 31-Jährige hat die Stelle Anfang August angetreten. Im vergangenen Jahr hat er sich dafür gegen 26 Mitbewerbende durchgesetzt. In der Kathedrale befinden sich die zwei historischen Bossard-Orgeln sowie die Kuhn-Orgel von 1968. Für Christoph Schönfelder war das ein Grund, sich in St. Gallen zu bewerben und dafür seine Stelle als Dozent für Liturgisches Orgelspiel und Orgelimprovisation an der Hochschule für Musik und Theater in München aufzugeben.
Was Menschsein ausmacht
Was fasziniert ihn an dem pompösen Instrument? «Klar, je mehr Register man zieht, desto mächtiger erklingt die Orgel», sagt er und fügt an: «Gleichzeitig ist es aber auch ein sehr inniges und feines Instrument mit vielen verschiedenen Klangfarben.» Als Organist fühle er sich wie ein Dirigent, dessen Orchester die Orgel ist. «Mit der Zeit lernt man dieses Orchester sehr gut kennen. Setzt man sich dann aber an eine andere Orgel, ist das so, als ob man mit einem komplett neuen Orchester arbeitet», sagt er. Das Orgelspielen ist für Christoph Schönfelder auch ein Weg, sich mit dem Thema «Menschsein» auseinanderzusetzen. Viele der Komponisten wie etwa Bach, Reger oder Messiaen würden in ihren Werken Gottesbegegnungen beschreiben. «Es geht um Themen wie Glaube, Zweifel und Hoffnung. Als Musiker, der ein neues Stück einstudiert, setzt man sich also automatisch mit diesen grossen Fragen der Menschheit auseinander und damit, was der Komponist mit dem Stück sagen will», sagt er.
Von den Eltern inspiriert
Für die Orgel begeistert sich Christoph Schönfelder seit seiner Kindheit. Aufgewachsen ist er im bayrischen Landshut. Seine Eltern sind Organisten beziehungsweise Kirchenmusiker. «Ich sass schon als Fünfjähriger in der Kirche, sah meinem Vater beim Spielen zu und wusste, dass ich das auch machen will», sagt er. Später studierte er Orgel, katholische Kirchenmusik und Klavier in München und gewann zahlreiche Orgelimprovisationswettbewerbe. Die Freude bei seiner Familie überwiegt, dass Christoph Schönfelder für die neue Stelle nun nach St. Gallen gezogen ist. Bei seinem Antrittskonzert als neuer Domorganist am 24. September 2023 in der Kathedrale werden sie auch mit dabei sein. Er sagt: «Mit der neuen Stelle ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen. Ich kann sowohl an der Diözesanen Kirchenmusikschule in St. Gallen unterrichten als auch bei der musikalischen Mitgestaltung der Liturgie Teil sein.»
Das Kreuz ist ein wichtiges christliches Symbol für den Tod und für die Hoffnung auf ein Leben ganz bei Gott. Es gibt über zehn Varianten von Kreuzen: 1. Andreaskreuz, 2. Antoniuskreuz oder T(au)-kreuz, 3. Griechisches Kreuz, 4. Jerusalemkreuz, 5. Kardinalskreuz, 6. Kleeblattkreuz, 7. Lateinisches Kreuz, 8. Malteser- oder Johanniterkreuz, 9. Papstkreuz, 10. Petruskreuz und Doppelkreuze.
Auf Kirchen sind manchmal Doppelkreuze zu sehen; so etwa auf dem Kirchturm von Schänis, wo ich als Pfarrer neu tätig bin. Neben der Pfarrkirche steht das Kreuzstift. Über die Schweiz hinaus bekannt ist das Kloster Einsiedeln; beide Türme tragen ein Doppelkreuz. Ein Doppelkreuz weist darauf hin, dass im Gotteshaus eine Kreuzreliquie aufbewahrt wird, also ein Teilchen vom angeblichen Kreuz, an dem Jesus Christus gestorben ist. Nach der Legende hat Kaiserin Helena, die Mutter von Kaiser Konstantin I., nach 325 bei ihrer Reise ins Heilige Land dieses Kreuz gefunden. Die Kirche gedenkt am 3. Mai der Auffindung des Kreuzes, und am 14. September feiert sie das Fest Kreuzerhöhung.
Bei Dorfbrand zerstört
Reliquiare, Gefässe für Kreuzpartikel, wurden aus Jerusalem meistens doppelarmig ausgeführt, um die Authentizität der Reliquie und deren Herkunft zu bekräftigen. Das doppelbalkige Kreuz ist entstanden aus dem Querbalken und dem darüber angebrachten Kreuztitel «Jesus von Nazareth, König der Juden» (INRI = Iesus Nazarenus, Rex Iudaeorum). Darum zeichnen sich Orte, an denen Kreuzpartikel sind, oft durch ein Kreuz mit zwei Balken aus. Leider ist die Kreuzreliquie in Schänis beim Dorfbrand 1610 zerstört worden.
Bedeutung des Kreuzes
Doppelkreuze erlangten während den Kreuzzügen eine besondere Bedeutung. Der Zugang zu den heiligen Stätten war versperrt. Christen machten grosse Anstrengungen, mithilfe der Kreuzritter wieder freien Zugang nach Jerusalem zu bekommen. Es gelang ihnen kurzfristig. Aber die innere Zerstrittenheit der europäischen Fürsten war hinderlich. Also begnügte man sich damit, Kreuzreliquien zu verehren.
Egal, welche Form ein Kreuz hat, wichtig ist, was ein Kreuzzeichen im Menschen weckt: Wir Christinnen und Christen verbinden das Kreuz mit dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu. Das Kreuz steht einerseits für das Leiden, aber mehr noch für die universelle, kosmische, heilende und alles verbindende Liebe, welche Gott schenkt. Das Kreuz verbindet Erde und Himmel, und im Glauben verbindet es Menschen miteinander.
Text: Josef Manser, Pfarrer Seelsorgeeinheit Gaster
Wer im hohen Alter zuhause wohnen möchte, ist oft auf Betreuung angewiesen. Was es braucht, um faire und nachhaltige Care-Migration zu ermöglichen, zeigt ein Caritas-Projekt.
Frau Michel, was ist die Herausforderung in der Betreuung von Seniorinnen und Senioren?
Gudrun Michel: Das Modell der Caritas ist die Live-in-Betreuung. Dies bezeichnet die Form der Betreuung, bei der die Betreuungsperson im Haushalt der zu betreuenden Person lebt. Dieses Modell ist sehr individuell und es steckt viel Beziehungsarbeit darin. Zudem gibt es im Gegensatz zur Pflege keine klare Definition dazu, was Betreuungsarbeit ist. Im Prinzip gehört hier alles dazu, was Seniorinnen und Senioren in ihrem Alltag unterstützt wie Einkaufen, den Haushalt erledigen, Kochen aber auch gemeinsam Mittag essen und spazieren. Daher ist es wichtig, die Erwartungen an die Betreuung gut zu besprechen und dabei auch stets die Machbarkeit und die Einhaltung der Arbeitszeit im Auge zu behalten.
Gudrun Michel, Leiterin Caritas-Care
Caritas vermittelt Betreuungspersonen aus Osteuropa in die Schweiz, neu auch ins Bistum St. Gallen. Wie kommt das?
Gudrun Michel: Ein Hauptgrund ist der Wandel der Gesellschaft. Wir werden immer älter, was bedeutet, dass auch die fragile Lebensphase länger wird. Sehr viele hochaltrige Personen brauchen nur in ihren letzten zwei bis drei Lebensjahren Pflege, können davor aber lange Zeit gut zuhause leben, sofern sie im Alltag unterstützt werden. Nun nimmt der Wunsch zuhause wohnen zu bleiben zu, aber auch die Einsamkeit im Alter. Nicht alle haben ein Familiennetz, das die Betreuungsaufgaben übernehmen kann. Hier kommen die Betreuungspersonen aus Osteuropa zum Zug, auch wegen des Fachkräftemangels.
Viele Care-Migrantinnen und ‑Migranten arbeiten hier unter prekären Bedingungen. Was macht Caritas anders?
Gudrun Michel: Als wir mit dem Projekt vor über zehn Jahren starteten, war es unser Ziel, ein nachhaltiges Care-Angebot aufzubauen. Konkret bedeutet das, die Abwanderung von Fachkräften in den Herkunftsländern zu verringern und faire Arbeitsbedingungen zu schaffen. Wir arbeiten mit der Caritas in Rumänien und der Slowakei zusammen. Alle, die als Betreuungsperson in der Schweiz arbeiten, bleiben bei der Caritas in ihren Herkunftsländern eingebunden. Sie arbeiten einige Wochen in der Schweiz und kehren dann an ihren Arbeitsplatz zuhause zurück. Der wichtigste Punkt ist, dass sie in beiden Ländern begleitet werden. In der Schweiz werden sie durch die Einsatzleitenden, also diplomierte Pflegefachkräfte, unterstützt. Mit diesem Modell heben wir uns von anderen Organisationen ab.
Wie finden Sie Klientinnen und Klienten für Caritas Care, und wie die Betreuungspersonen?
Gudrun Michel: Einige Personen stossen bei Recherchen im Internet selbst auf unser Angebot. Andere werden über die Altersstellen in den Gemeinden, Spitex, Hausarztpraxen oder Spitäler auf uns aufmerksam gemacht. Am Telefon besprechen wir dann die Rahmenbedingungen. Anschliessend besucht eine unserer Fachkräfte die Person zuhause. Potenzielle Klientinnen und Klienten müssen sich bewusst sein, dass in der Schweiz Betreuungsleistungen privat finanziert werden müssen. Pflegeleistungen, welche in der Regel von einer Spitex-Organisation geleistet werden, werden hingegen über die Krankenkassen abgerechnet. Die Betreuungspersonen kommen wie gesagt über die Caritas in den Herkunftsländern zu uns. Die meisten haben eine Ausbildung in der Altenpflege oder Sozialarbeit absolviert.
Eine gute Ausbildung garantiert aber noch nicht, dass es bei der Live-in-Betreuung auch zwischenmenschlich passt.
Gudrun Michel: Genau, das ist eine Herausforderung. Zusammen in einem Haushalt zu leben, erfordert viel Sensibilität und Beziehungsarbeit. Das benötigt Offenheit von beiden Seiten. Wenn es nicht passt, suchen wir Lösungen. In wenigen Fällen muss schon mal eine Betreuungsperson ausgetauscht werden. Umso wichtiger sind die Abklärungen, Unterstützung und Rücksprachen, die Caritas Care durch die diplomierten Pflegefachpersonen sowohl den Klientinnen und Klienten als auch den Betreuungspersonen bietet. In Zukunft wird es generell eine Herausforderung sein, Betreuungs- und Care-Arbeit in unser immer älter werdenden Gesellschaft sicherzustellen. Es wird Ansätze wie unsere für die Unterstützung zuhause brauchen.
Faire Betreuung Im vergangenen Jahr arbeiteten 37 Betreuungspersonen der rumänischen Caritas-Organisation Alba Iulia in der Schweiz. Hinzu kamen 17 Betreuungspersonen von Caritas Spis in der Slowakei. In der Schweiz sind gemäss Caritas Care 620 000 ältere Menschen auf Betreuung angewiesen. Viele von ihnen wünschen sich, so lang wie möglich zuhause wohnen zu bleiben. Nachhaltige und faire Lösungen in Bezug auf Care-Migration haben allerdings ihren Preis. Im Schnitt 7000 Franken kostet etwa die sogenannte Live-in-Betreuung von Caritas Care.
Nach 18 Stunden Reise mit dem Zug ist Maria (59) am Ziel in Weinfelden TG: Die Slowakin arbeitet im Auftrag von Caritas jeweils für sechs Wochen als Betreuerin bei Eva – im Wechsel mit einer anderen Betreuerin. Dank Maria kann die pflegebedürftige Seniorin weiterhin in ihrem Haus bleiben. Doch wie fair ist dieses Modell?
Ich arbeite seit 13 Jahren als Betreuerin im Ausland», sagt Maria beim Gespräch mit dem Pfarreiforum in Weinfelden. Wir sitzen im Garten. Mit dabei ist Simone Keller, bei Caritas Schweiz verantwortlich für die Betreuerinnen und Betreuer aus Osteuropa. Eva, bei der Maria als Betreuerin arbeitet, hat gerade Besuch von einer Freundin. Maria erzählt von ihrer Heimat: Sie kommt aus einem Dorf mit 500 Einwohnern in der Ost-Slowakei – nur 40 Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze. Den Ausbruch des Kriegs in der Ukraine hat sie hautnah mitbekommen. Maria hat die Bilder immer noch vor Augen: «Das Dorf und die Umgebung waren voll mit Autos von Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind.» Maria schätzt ihre Arbeitsstelle in der Schweiz. Doch die Reise und der Wechsel zwischen zwei Kulturen und Mentalitäten falle ihr zunehmend schwerer. «Früher habe ich einfach die Koffer gepackt und dann ging’s los. Jetzt kostet mich das schon mehr Energie. Habe ich alles eingepackt und an alles gedacht? Ist das Haus abgeschlossen?» Während Maria in der Schweiz ist, ist ihr Haus leer. «Meine Kinder sind erwachsen, ich lebe alleine.»
Beim Interview in Weinfelden spricht Care-MigrantinMaria (59) über das Pendeln zwischen ihrer Heimat Slowakei und der Ostschweiz und somit zwischen zwei Kulturen.
Gelernte Hochbauzeichnerin
Ursprünglich machte Maria eine Ausbildung zur Hochbauzeichnerin und arbeitete bis zum Fall des Eisernen Vorhangs in diesem Beruf. Dann war sie auf dem Gemeindeamt tätig. «Es war immer mein Traum, ins Ausland zu gehen», sagt sie. Via Pflegekurs des Roten Kreuzes findet sie den Einstieg in die Pflegearbeit. Zwölf Jahre lang ist sie in Wien und Niederösterreich tätig. «Da fragte mich eine Kollegin, die in Weinfelden als Betreuerin für die Caritas tätig ist, ob ich nicht Lust hätte, in die Schweiz zu kommen und mich mit ihr abzuwechseln», erzählt sie. «Zunächst habe ich gezögert, aber als ich gehört habe, dass es eine Probezeit gibt, habe ich mir gesagt: Das schaffst du und dann kannst du immer noch entscheiden.» Simone Keller von Caritas Schweiz ergänzt: «So wie bei Maria ist es eigentlich selten. Meistens vermitteln uns die Partner-Organisationen in der Slowakei und Rumänien die Betreuerinnen und Betreuer.» Die Kollegin, die Maria auf die Stelle in Weinfelden aufmerksam machte, ist heute auch die Betreuerin, mit der sich Maria im 6‑Wochen-Rhythmus abwechselt.
Kontakt via WhatsApp
Maria schätzt ihre Arbeit und sie mag die Schweiz. «Ich erlebe die Menschen hier als selbstbewusst.» Die Menschen in der Slowakei könnten sich davon eine Scheibe abschneiden. Marias pragmatische Grundeinstellung blitzt im Gespräch immer wieder auf. «Die Reise zwischen meiner Heimat und meinem Arbeitsort in der Schweiz ist jetzt fast doppelt so lang», sagt sie, «dafür kümmert sich die Caritas um den ganzen Papierkram und das Rechtliche. In Österreich war ich selbstständig tätig und auf mich gestellt.» Sie habe den Wechsel nie bereut. «Selbstverständlich vermisse ich ab und zu meine Heimat, meine Freundinnen, die Kinder … Aber auch wenn ich ständig in der Slowakei wäre, würde ich meine Kinder nicht täglich sehen.» WhatsApp sei Dank stehe sie mit ihnen in regelmässigen Kontakt und bekomme viel vom Alltag ihrer Familie und Freunde mit. «Der Sechs-Wochen-Rhythmus ist für meine Kinder und meine Freundinnen ganz normal.» Weihnachten und Ostern im Ausland zu verbringen – für viele Betreuerinnen oft eine schwere Zeit. Doch auch damit geht Maria entspannt um: «Es war für mich gar nicht so schlimm, Weihnachten und Ostern bei Eva zu verbringen, zuhause wäre ich dann vielleicht alleine gewesen.» Wenn es so laufe wie jetzt, könne sie sich gut vorstellen, noch bis zu ihrer Pensionierung als Betreuerin im Ausland tätig zu sein.
Sprachliche Barrieren
Als Betreuerin hilft Maria ihrer Klientin bei der Körperhygiene, sie kümmert sich um den Haushalt, erledigt Einkäufe und leistet ihr Gesellschaft. «Ich schätze es, dass ich sehr selbstständig arbeiten kann.» Während der sechs Wochen, die Maria jeweils in Weinfelden verbringt, lebt sie im Haus von Eva. Die Arbeitszeiten sind genau geregelt und einmal in der Woche hat Maria einen freien Tag. Doch wo Menschen zusammenleben, kommt es auch zu Reibereien und Konflikten. «Die meisten Konflikte entstehen, weil gegenseitige Erwartungen unausgesprochen sind und es oft schwer fällt, sich auf eine gute Weise abzugrenzen», weiss Simone Keller. Maria nickt zustimmend. Momente, in denen Eva launisch reagiert oder mit ihrer Situaton überfordert sei, gehören zum Alltag. «Es kann nicht jeder Tag Sonntag sein. Wenn immer möglich, versuche ich humorvoll mit solchen Situationen umzugehen», so Maria. «Ich weiss natürlich, dass ich so etwas nicht persönlich nehmen darf, aber trotzdem verletzen solche Äusserungen.» Oft helfe ihr auch eine Haltung, die ihr ihre Mutter beigebracht habe: «Negative Wortmeldungen sind nicht mehr als ein Zug, der bei einem Ohr hineinfährt und beim anderen wieder hinaus.» Simone Keller ergänzt: «Es wird genau geprüft, welche Betreuerin zu welcher Kundin oder welchem Kunden passt. Das Menschliche muss stimmen.» Caritas klärt auch genau ab, ob die Situation und die gesundheitliche Verfassung der Klientinnen und Klienten für das Betreuungsmodell geeignet ist.
Aus der Zeitung vorlesen
Maria und Eva hätten schnell einen Draht zueinander gefunden. Dazu beigetragen hat auch Lili – Evas Katze, Maria hat sie auf Anhieb ins Herz geschlossen. Nur sprachlich gibt es manchmal Schwierigkeiten: Maria spricht zwar fliessend Schriftdeutsch, doch Eva versteht sie oft nicht. Schmunzelnd erzählt Maria eine Episode aus ihrem Alltag: «Ich lese ihr täglich aus der Zeitung vor. Wenn ich sie frage: Verstehen Sie mich?, schüttelt sie den Kopf. Aber sie meint: Das ist egal, lesen Sie weiter.» Betreuerin und Klientin prägen sich gegenseitig und im Idealfall lernen sie voneinander. «Was ich auch schon von Betreuerinnen gehört habe: Ihre Kinder sagen zu ihnen: Wir merken, dass du wieder da bist – jetzt gibt es ständig Salat als Vorspeise. Das ist in der Slowakei und Rumänien nicht üblich.» Umgekehrt bringen Betreuerinnen bestimmte Gewürze aus ihrer Heimat mit ober überraschen an Weihnachten mit einem Gulasch.
Mit Abschied konfrontiert
Bevor Maria in die Schweiz wechselte, hat sie zwei Jahre lang ihre Mutter zuhause in der Slowakei gepflegt – diese starb mit 94 Jahren. In der Slowakei sei es noch immer häufig, dass ältere Menschen von ihrer Familie gepflegt werden und möglichst lange zuhause bleiben. Als Betreuerin hat Maria schon mehrmals erlebt, dass sie ihre Klienten bis zum letzten Tag begleitet hat. Die ständige Konfrontation mit Sterben und Tod sei für sie trotzdem nicht einfacher geworden. Sie zuckt mit den Achseln und lächelt. «Aber ich habe nun mal diesen Beruf gewählt, ich muss mich dem stellen.» Was mit ihr sei, wenn sie mal hochbetagt sei, daran möchte sie jetzt nicht zu viel nachdenken: «Mein Motto ist: Es kommt, wie es kommt. Es lohnt sich nicht, sich darüber Gedanken zu machen.»
Text: Stephan Sigg
Bilder: Ana Kontoulis
Veröffentlichung: 22. 06. 2023
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