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«Es ist erschreckend und beschämend»

Der Bischof des Bistums St. Gallen hat am 13. Septem­ber zur Medi­en­kon­fe­renz in den Saal der Bischofs­woh­nung gela­den. «Es ist erschre­ckend und beschä­mend, was heraus­ge­kom­men ist», sagt Bischof Markus Büchel vor einer Schar Medi­en­schaf­fen­den über die Pilot-Studie – die Kame­ras auf ihn gerich­tet, die Mikro­fo­ne vor ihm auf dem Tisch.

Bischof Markus Büchel stellt sich den Fragen der Medi­en­schaf­fen­den – einen Tag nach­dem die schweiz­wei­te Pilot-Studie der Univer­si­tät Zürich über sexu­el­len Miss­brauch in der katho­li­schen Kirche publik gewor­den ist. «Ich fühle gros­sen Schmerz und werde alles daran­set­zen, dass die beschlos­se­nen Mass­nah­men grei­fen», sagt Bischof Markus Büchel. Die Studie brach­te erschre­cken­de Zahlen zum Vorschein. Zwischen 1950 und heute gab es schweiz­weit 1002 Fälle sexu­el­len Miss­brauchs in der katho­li­schen Kirche.

Fehler gemacht

Die Studie attes­tiert dem Bistum St. Gallen eine profes­sio­nel­le Führung des Archivs und eine voll­um­fäng­li­che Unter­stüt­zung durch den Archi­var. Die Archi­vie­rung der Akten des Fach­gre­mi­ums seien gar vorbild­haft. Die Studie zeigt aber auch zwei Fälle aus dem Bistum St. Gallen. Bischof Markus Büchel wirkt ange­spannt, als er am ovalen Tisch Auskunft gibt und den Anwe­sen­den Red und Antwort steht. «Ich habe Fehler gemacht. Einen gros­sen Fehler», sagt er mit gebro­che­ner Stim­me. «Dazu muss ich stehen.» Durch sein Verhal­ten seien Fälle baga­tel­li­siert und einer Vertu­schung Vorschub geleis­tet worden. «Das tut mir leid. Ich möch­te daraus lernen.» Bischof Ivo Fürer, Büchels Vorgän­ger, unter­liess es – so die Studie – trotz Hinwei­sen, einen beschul­dig­ten Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen zu melden bezie­hungs­wei­se mit Konse­quen­zen zu bele­gen. Büchel seiner­seits wird in der Studie vorge­wor­fen, nicht konse­quent genug gehan­delt zu haben.

Anders handeln

Bei seinem Amts­an­tritt habe er keine offe­nen Fälle über­ge­ben bekom­men, erklärt Büchel am Medi­en­ge­spräch. «Ich bin davon ausge­gan­gen, dass der Fall abge­schlos­sen ist.» Er habe es unter­las­sen, die Vorab­klä­run­gen durch Bischof Ivo Fürer erneut zu prüfen und zu handeln. «Es war der einzi­ge Fall, der mir vom Fach­gre­mi­um gemel­det wurde, den ich aber nicht ange­gan­gen bin.» Der Fall war seiner­zeit einer der ersten, den das 2002 von Bischof Ivo Fürer gegrün­de­te Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe behan­del­te. Seinen Vorgän­ger nimmt Markus Büchel teil­wei­se in Schutz. «Er nahm die Sache ernst und hat mit dem Beschul­dig­ten Gesprä­che geführt. Aber es gab eine Befan­gen­heit.» Zudem bestehe die Pflicht, solche Fälle in Rom zu melden, erst seit 2019. Büchel zeigt sich einsich­tig: «Ich hätte inten­si­ver handeln müssen. Heute hätte ich anders gehandelt.»

Mass­nah­men getroffen

Bei Miss­brauchs­fäl­len muss heute seitens der Kirche Straf­an­zei­ge bei der Poli­zei einge­reicht werden. Am Medi­en­ge­spräch sagt Bischof Markus Büchel, er wisse noch nicht, wer der Beschul­dig­te sei. Die Studie sei stark anony­mi­siert worden – auch zum Schutz der Betrof­fe­nen. Nur kurze Zeit später räumt das Bistum auf noch­ma­li­ge Nach­fra­ge ein: «Der betref­fen­de Pries­ter arbei­tet defi­ni­tiv nicht mehr in der Seel­sor­ge.» Wie Bischof Markus Büchel an der Pres­se­kon­fe­renz mitteilt, ist eine Vorun­ter­su­chung einge­lei­tet und eine Straf­an­zei­ge bei der Staats­an­walt­schaft einge­reicht worden. Er hoffe, dass nun Licht ins Dunkel und eine Rück­mel­dung aus Rom komme, so Büchel. Die Verant­wort­li­chen verwei­sen auf das laufen­de Verfah­ren, weite­re Auskünf­te sind deshalb nicht möglich. Für den Beschul­dig­ten gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Ein Jour­na­list stellt die Frage nach den persön­li­chen Konse­quen­zen für den St. Galler Bischof: Tritt er von seinem Amt zurück? Bischof Markus Büchel verneint, das sei vorerst noch kein Thema. Er wolle zuerst die Ergeb­nis­se der Vorun­ter­su­chung abwar­ten. «Wenn Rom meinen Rück­tritt fordert, werde ich zurücktreten.»

Aufde­cken und aufarbeiten

Wie Bischof Markus Büchel ausführt, wird die Rolle des Bistums St. Gallen im Bezug auf die Zusam­men­ar­beit mit dem Fach­gre­mi­um noch kriti­scher über­prüft. «Es ist beispiels­wei­se nicht rich­tig, wenn das Fach­gre­mi­um nur Bera­tungs­funk­ti­on hat.» Alle beschlos­se­nen Mass­nah­men (siehe Kasten) sollen auch im Bistum St.Gallen umge­setzt werden. Dieses verpflich­tet sich, die für die Umset­zung der Mass­nah­men nöti­gen Ressour­cen bereit­zu­stel­len. Der Bischof setze sich für «ein scho­nungs­lo­ses Aufde­cken und Aufar­bei­ten des sexu­el­len Miss­brauchs im Bistum St. Gallen» ein.

«Ich glau­be dem Bischof»

An der Pres­se­kon­fe­renz ist auch Vreni Pete­rer anwe­send. Die 62-Jährige ist Präsi­den­tin der Inter­es­sen­ge­mein­schaft für Miss­brauchs­be­trof­fe­ne im kirch­li­chen Umfeld (IG-MikU) und selbst Betrof­fe­ne. Aufmerk­sam lauscht sie den Ausfüh­run­gen des St. Galler Bischofs. «Ich nehme ihm die Entschul­di­gung ab und glau­be dem Bischof, wenn er sagt, es täte ihm leid», sagt Pete­rer nach dem Medi­en­ge­spräch auf Nach­fra­ge. «Ja, er hat einen gros­sen Fehler gemacht. Ich denke jedoch, dass er nicht wirk­lich vorsätz­lich vertuscht hat. Er hat aber im entschei­den­den Moment nicht rich­tig gehan­delt bezie­hungs­wei­se nicht hinge­schaut und nicht gehan­delt.» Enttäuscht und scho­ckiert ist sie vom Vorge­hen von Bischof Ivo Fürer, der das Fach­gre­mi­um mehr­mals vertrös­tet habe. «Im Nach­hin­ein wirkt sein dama­li­ger Auftrag zur Grün­dung des Fach­gre­mi­ums auf mich wie eine Alibi­übung.» Wie sie zuvor am Medi­en­ge­spräch ausführt, habe sie in ihrer Funk­ti­on mehr­mals von Betrof­fe­nen gehört, dass deren Glaub­wür­dig­keit in Frage gestellt wurde. «Das darf nicht sein. Wich­tig ist, dass den Betrof­fe­nen geglaubt wird.» Sie erwar­te nun die nöti­ge Profes­sio­na­li­tät der Verant­wor­tungs­trä­ger. «Diese müssen den Mut haben, Fehler einzu­ge­ste­hen und sich und ihr Verhal­ten zu korrigieren.»

Forde­rung der IG-MikU

Vreni Pete­rer begrüsst die Mass­nah­men des Bistums. «Jede Mass­nah­me bringt uns einen Schritt weiter und hilft, die Schwel­le für weite­re Miss­bräu­che höher zu legen.» Dennoch hofft sie, dass noch weite­re Anstren­gun­gen seitens der Katho­li­schen Kirche unter­nom­men werden. Die IG-Miku fordert, dass die Bevöl­ke­rung nun nicht allei­ne gelas­sen wird. Gemeint sind all jene Menschen, die nicht unmit­tel­bar betrof­fen, aber dennoch verun­si­chert und ergrif­fen sind. «Es tun sich nun Fragen auf wie: Wem kann ich über­haupt noch vertrau­en? Diese Menschen müssen aufge­fan­gen werden.» Denk­bar wären etwa Infor­ma­ti­ons­aben­de. Pete­rer sieht auch die Pfar­rei­en in der Pflicht. «Die Ange­bo­te sollen auch von der Basis kommen.» 

Konkre­te Massnahmen

Bischof Joseph Maria Bonn­emain, der bei der Medi­en­kon­fe­renz in Zürich die Bischofs­kon­fe­renz vertrat, kündig­te konkre­te Mass­nah­men an. Unter ande­rem sollen für Betrof­fe­ne schweiz­weit profes­sio­nel­le Ange­bo­te geschaf­fen werden, bei denen sie Miss­bräu­che melden können. Künf­ti­ge Pries­ter, stän­di­ge Diako­ne, Mitglie­der von Ordens­ge­mein­schaf­ten und weite­re Seel­sor­gen­de sollen im Rahmen ihrer Ausbil­dung stan­dar­di­sier­te psycho­lo­gi­sche Abklä­run­gen durch­lau­fen. In einer schrift­li­chen Selbst­ver­pflich­tung erklä­ren alle kirch­li­chen Verant­wort­li­chen an der Spit­ze von Bistü­mern, Landes­kir­chen und Ordens­ge­mein­schaf­ten, keine Akten mehr zu vernich­ten, die im Zusam­men­hang mit Miss­brauchs­fäl­len stehen oder den Umgang damit doku­men­tie­ren. Die Studie wird im Janu­ar 2024 mit einem vier­jäh­ri­gen Folge­pro­jekt fortgesetzt.

Text: Ales­sia Paga­ni / Stephan Sigg

Foto: Regi­na Kühne

Veröf­fent­licht: 14.09.2023

Zeit­zeu­gen gesucht

Die Forsche­rin­nen und Forscher bieten eine öffent­li­che Ring­vor­le­sung an der Univer­si­tät Zürich an (Start: 28. Septem­ber). Ausser­dem rufen sie Zeit­zeu­gin­nen und Zeit­zeu­gen auf, sich für die weite­re Forschung zu melden: forschung-missbrauch@hist.uzh.ch

Anlauf­stel­len für Betrof­fe­ne von sexu­el­len Miss­brauch im kirch­li­chen Umfeld:

www.missbrauch-kath-info.ch

www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch

Infor­ma­tio­nen und Kontakt­adres­sen Fach­gre­mi­um des Bistum St.Gallen

«Zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe»

«So schmerz­haft es sein mag, wir müssen uns den Tatsa­chen stel­len», schreibt Bischof Markus Büchel in einem offe­nen Brief an alle Mitar­bei­ten­de in der Seel­sor­ge sowie frei­wil­lig und ehren­amt­lich Enga­gier­te weni­ge Tage nach Präsen­ta­ti­on der Pilot-Studie zum sexu­el­len Miss­brauch — das Pfar­rei­fo­rum konn­te Auszü­ge aus dem Brief vorab lesen. Der Bischof zeigt sich in seinem Brief selbst­kri­tisch: «Ich ganz persön­lich muss zu den Fehlern stehen, die ich gemacht habe.» Ihm sei «sehr bewusst, dass durch jeden einzel­nen Fall von sexu­el­lem Miss­brauch Menschen in ihrem Leben und Glau­ben verun­si­chert und teil­wei­se aus der Bahn gewor­fen werden.»

Perspek­ti­ven­wech­sel

Wie beim Medi­en­ge­spräch in St. Gallen betont der St. Galler Bischof auch in seinem Brief, «der Respekt vor den Opfern gebie­tet es, sich mit den Ergeb­nis­sen der Studie zu befas­sen», es brau­che einen Perspek­ti­ven­wech­sel. Was er darun­ter versteht und wie das genau gesche­hen soll, führt er nicht aus. Er zählt noch­mals alle Mass­nah­men auf, die die Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz beschlos­sen hat und weist darauf hin, dass sie entschlos­sen seien, «in den Themen der Macht­fra­gen, der Sexu­al­mo­ral, des Priester- und Frau­en­bil­des wie der Ausbil­dung und Perso­nal­aus­wahl konkre­te Schrit­te zu unter­neh­men, die auch in der Studie einge­for­dert werden».

Die Fälle im Bistum St. Gallen

In die Studie wurden zwei Fälle, die das Bistum St. Gallen betref­fen, aufge­nom­men: Idda­heim in Lütis­burg (Studie, S. 69 bis 71): Beschrie­ben sind Meldun­gen zahl­rei­cher Fälle psychi­scher, physi­scher und sexu­el­ler Gewalt unter ande­rem im Zeit­raum zwischen 1978 und 1988, durch einen der Direk­to­ren, ein Pries­ter aus dem Bistum St. Gallen. Weiter beschreibt die Studie Berich­te von sexu­el­len Über­grif­fen und Gewalt durch einen Erzie­her und einen Gärt­ner (zwischen 1964 bis 1971) sowie durch Menzin­ger Schwes­tern. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. Das heuti­ge Kinder­dörf­li Lütis­burg ist seit vielen Jahren nicht mehr unter kirch­li­cher Führung.

Der Fall E.M. (Pseud­onym, S. 96 bis 100): Im Jahr 2002, als das Fach­gre­mi­um erst­mals einge­setzt wurde, melde­te eine Frau länger zurück­lie­gen­de Über­grif­fe des Pries­ters E.M.. Es fanden Gesprä­che mit dem Beschul­dig­ten und Ivo Fürer, dem dama­li­gen Bischof, statt. Da E.M. die gegen ihn erho­be­nen Vorwür­fe bestritt und sich die Anschul­di­gun­gen nicht erhär­te­ten, schie­nen sich diese zu entkräf­ten. Weni­ge Wochen später gab es weite­re Hinwei­se durch eine ehema­li­ge Heim­mit­ar­bei­te­rin, worauf das Fach­gre­mi­um Empfeh­lun­gen an Bischof Fürer aussprach. Das Fach­gre­mi­um stell­te zudem klar, dass es nicht Unter­su­chungs­be­hör­de sein kann. Trotz eindeu­ti­ger Empfeh­lun­gen durch das Fach­gre­mi­um St. Gallen und jenes der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz (SBK) unter­nahm der dama­li­ge Bischof keine weite­ren Schrit­te; E.M. erhielt eine weite­re Stel­le. Bis 2009 war er zusätz­lich in einer Funk­ti­on im Bistum ange­stellt. Im April 2010 feier­te E.M. zusam­men mit dem neuen Bischof Markus Büchel eine Messe. Dies führ­te bei einer betrof­fe­nen Person zu einer hefti­gen emotio­na­len Reak­ti­on, worauf sie sich beim Fach­gre­mi­um melde­te. 2012 wurde E.M. zwar versetzt, aber trotz­dem in verschie­de­nen Gemein­den als Seel­sor­ger einge­setzt. Noch im Janu­ar 2023 sind gemäss Studie Eucha­ris­tie­fei­ern mit E.M. fest­ge­hal­ten. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. (Bistum St.Gallen / ssi)

Hinter­grund: Dossier mit allen Infor­ma­tio­nen zur Pilot-Studie und den bishe­ri­gen Mass­nah­men im Bistum St.Gallen

Studie Aufarbeitung Sexueller Missbrauch

Am 12. Septem­ber 2023 präsen­tiert ein Forschungs­team des Histo­ri­schen Semi­nars der Univer­si­tät Zürich eine Vorstu­die zur Aufar­bei­tung sexua­li­sier­ter Gewalt in der katho­li­schen Kirche seit den 1950er-Jahren.

«Gros­ses Spek­trum von Fällen sexu­el­len Miss­brauchs im Umfeld der katho­li­schen Kirche»

Am 12. Septem­ber stell­te das Forschungs­team der Univer­si­tät Zürich die Ergeb­nis­se der Pilot­stu­die zur sexua­li­sier­ten Gewalt in der katho­li­schen Kirche Schweiz vor.

Resul­ta­te der Studie (Website Univer­si­tät Zürich)

Das Pfar­rei­fo­rum hat in den letz­ten Jahren mehr­mals über das Thema berich­tet (Auswahl):

Infos Histo­ri­sche Studie

Website Fach­gre­mi­ums «Sexu­el­le Über­grif­fe im kirch­li­chen Umfeld» der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz www.missbrauch-kath-info.ch

Kontakt­adres­sen:

Fach­gre­mi­um gegen sexu­el­le Über­grif­fe des Bistums St.Gallen www.bistum-stgallen.ch/kontakt/fachgremium-uebergriffe/

Inter­es­sen­ge­mein­schaft für miss­brauchs­be­trof­fe­ne Menschen im kirch­li­chen Umfeld (IG Mi-Ku) www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch

Zusam­men­stel­lung: Stephan Sigg

Veröf­fent­li­chung: 23.08.2023 (letz­te Aktua­li­sie­rung: 12.09.2023)

Vielfalt fordert und fördert

Eine neue Sitz­bank im Garten des Muse­ums Prest­egg in Altstät­ten soll die Menschen aller ­Reli­gio­nen und Kultu­ren zusam­men­brin­gen. Die Bank wird von Jugend­li­chen gestaltet.

Das Mitein­an­der und Zusam­men­le­ben der Reli­gio­nen ist nicht immer rosa, sondern es ist harte Arbeit. Aber es ist eine schö­ne und wert­vol­le Arbeit», sagt Elias Meile, Seel­sor­ger in Berufs­ein­füh­rung bei der Pfar­rei Altstät­ten. In der Rhein­ta­ler Stadt tref­fen die verschie­dens­ten Kultu­ren und Glau­bens­rich­tun­gen aufein­an­der. Von den 12 248 Einwoh­ne­rin­nen und Einwoh­nern sind gemäss der Stadt Altstät­ten 3719 auslän­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge. Die Grup­pe der Konfes­si­ons­lo­sen bezie­hungs­wei­se der Perso­nen aus einer ande­ren Glau­bens­ge­mein­schaft als der christ­li­chen zählt 4915 Perso­nen. «Altstät­ten ist kein Einheits­brei. Es gibt nicht nur die Glau­bens­rich­tun­gen im klas­si­schen Sinn, sondern eine gros­se Viel­falt darüber hinaus.» Als Beispiel nennt Meile den serbi­schen Kultur­ver­ein Sveti Sava. «Solche Verei­ne spie­len eine wich­ti­ge Rolle im religiös-kulturellen Leben.» Das Mitein­an­der soll am 17. Septem­ber im Zentrum stehen. Dann wird im Rahmen der inter­re­li­giö­sen Dialog- und Akti­ons­wo­che (ida) beim Muse­um Prest­egg eine neue Sitz­bank aufge­stellt. Diese soll die Menschen zusammenbringen.

Reli­gio­nen kennenlernen

«Das Bänk­li soll zum Denken anre­gen, Diskus­sio­nen star­ten und Fragen aufwer­fen», sagt Muse­ums­ku­ra­to­rin Moni­ka Meyer. «Es geht darum, sich mit den ande­ren Reli­gio­nen und Kultu­ren ausein­an­der­zu­set­zen.» Das Projekt ist breit getra­gen. In der Projekt­grup­pe sind unter ande­rem die Stadt, das Muse­um, die Schu­le und die Fach­stel­le Inte­gra­ti­on Verein St. Galler Rhein­tal, aber auch Einzel­per­so­nen und Migrantenvereine.

Die Sitz­bank wird aus sechs Segmen­ten bestehen – je eines für die fünf gros­sen Welt­re­li­gio­nen und eines mit einem Frage­zei­chen. Die Teile werden von Oberstufen-Schulklassen aus Altstät­ten, Ober­riet und Mont­lin­gen gestal­tet, eines von Bewoh­nen­den des Bundes­asyl­zen­trums in Altstät­ten. Einzi­ge Vorga­be: Das charak­te­ris­ti­sche Symbol der jewei­li­gen Reli­gi­on muss gut erkenn­bar sein. «Wir hoffen natür­lich, dass sich auch die Schü­le­rin­nen und Schü­ler mit den Reli­gio­nen und dem Zusam­men­le­ben ausein­an­der­set­zen», sagt Guido Poznicek, Vertre­ter der Schu­le Altstätten.

Berüh­rungs­ängs­te bekämpfen

Am Fest­akt stehen das gemein­sa­me Feiern und der Austausch im Vorder­grund. Es gibt Auftrit­te und kuli­na­ri­sche Häpp­chen der verschie­de­nen kultu­rel­len Grup­pen. Der Hindu­ver­ein, der serbi­sche Kultur­ver­ein, die alba­ni­sche Moschee, die Buddhis­ti­sche Gemein­schaft und die Bevöl­ke­rung Sri Lankas werden eben­so vertre­ten sein wie die Biblio­thek und die Evan­ge­li­sche sowie Katho­li­sche Kirchgemeinde.

Die ida-Woche hat Tradi­ti­on in Altstät­ten und im Ober­rhein­tal. Während mehre­rer Jahre haben die Verant­wort­li­chen Respect-Camps und Zelt­stät­ten orga­ni­siert. Im vergan­ge­nen Jahr wurde der Film «Zeig mir, wie du glaubst – Rhein­ta­ler Jugend­li­che im Dialog» produ­ziert. «Die Förde­rung von Respekt und ein schö­nes Mitein­an­der sind wich­ti­ge Themen. Für uns ist es selbst­ver­ständ­lich, an der ida-Woche mitzu­wir­ken», sagt Toni Loher, Stadt­rat und Mitglied der Kommis­si­on Gesell­schafts­fra­gen. Er verweist auf die Wich­tig­keit solcher Projek­te. «Auch in Altstät­ten haben Teile der Bevöl­ke­rung Berüh­rungs­ängs­te.» Und Elias Meile ergänzt: «Wenn in der Gemein­de alles gut laufen würde, bräuch­ten wir solche Projek­te nicht zu machen. Wir dürfen zwar prokla­mie­ren, dass es läuft mit dem Zusam­men­le­ben, müssen aber auch immer wieder die Erkennt­nis aufbrin­gen, dass dies keine Selbst­ver­ständ­lich­keit ist. Wir alle müssen etwas dafür tun.»

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 6. Septem­ber 2023

Texte sind sein Leben

Der Germa­nist und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mario Andreot­ti hat bereits mehre­re Bücher veröf­fent­licht. Seine neues­te Arbeit widmet sich der Schöpfungsgeschichte.

Wenn Mario Andreot­ti ein Gedan­ke kommt, muss er ihn aufschrei­ben, egal wie spät es ist. «Manch­mal wache ich mitten in der Nacht auf, nehme meinen Text zur Hand und über­ar­bei­te ihn», sagt der 75-Jährige. Dann liest er die Zeilen wieder und wieder, schreibt Passa­gen um und ersetzt Worte. «Ein Text ist nie fertig. Ich bin nie rest­los damit zufrie­den.» Andreot­ti weiss, wovon er spricht. Der studier­te Germa­nist und Histo­ri­ker hat bereits mehre­re Bücher verfasst, 1983 etwa «Die Struk­tur der moder­nen Lite­ra­tur». Das Buch erscheint bereits in der 6. Aufla­ge. Andreot­ti ist unter ande­rem Jury-Mitglied des Bodensee-Literaturpreises, war während 28 Jahren Fach­re­fe­rent für die Fort­bil­dung der Lehr­kräf­te an höhe­ren Schu­len und dürf­te vielen St. Galle­rin­nen und St. Gallern als lang­jäh­ri­ger Gymna­si­al­leh­rer an der Kantons­schu­le am Burg­gra­ben sowie als Lehr­be­auf­trag­ter an der Univer­si­tät St. Gallen ein Begriff sein. Nun hat er sein neues­tes Werk voll­endet: Mario Andreot­ti schrieb die Texte für den Schöp­fungs­got­tes­dienst in der Drei­fal­tig­keits­kir­che in St. Gallen. Der St. Galler Kompo­nist und Diri­gent Erich Schneuw­ly hat die Schöp­fung «Die 7 Tage» für Sologei­ge, zwei Flöten, Streich­or­ches­ter und Orgel kompo­niert. Schneuw­ly hat in der Vergan­gen­heit nebst Messen auch Kompo­si­tio­nen mit reli­giö­sen Texten und über 100 Lieder aus dem Gesangs­buch der katho­li­schen Kirchen orchestriert.

«Wir brau­chen die Natur»

Gemein­sam mit seiner Frau Kata­lin wohnt Mario Andreot­ti in Eggers­riet. In ihrem Garten spries­sen die Blumen und der Feigen­baum trägt erste Früch­te. Auf dem akku­rat geschnit­te­nen Rasen tollt ein schwar­zes Fell­knäu­el umher – der klei­ne Entle­bu­cher Sennen­hund ist seit Kurzem Mitglied der Fami­lie und hält das Ehepaar «ganz schön auf Trab». Mario Andreot­ti blickt auf die Szene­rie. «Wir müssen endlich einse­hen, dass wir die Natur brau­chen. Statt­des­sen schi­cken wir uns an, sie zu zerstö­ren», sagt der Vater von drei erwach­se­nen Kindern. «Wir müssen uns immer wieder klar­ma­chen, dass diese Welt nicht uns, sondern dem Schöp­fer gehört. Wir müssen Sorge tragen zu ihr.» Er nimmt die Kirche in die Pflicht: Diese habe eine beson­de­re Verant­wor­tung in Bezug auf die Bewah­rung der Schöp­fung, nehme diese Verant­wor­tung aller­dings nicht genü­gend wahr. «Das Problem der Kirche ist ihre Spra­che.» Andreot­ti würde sich wünschen, dass die Bedeu­tung reli­giö­ser Texte öfter hinter­fragt und auf die junge Gene­ra­ti­on und die heuti­ge Zeit ange­passt wird. «Die Frage ist doch: Wie kann ich die Jungen errei­chen? Das geht nur über die Spra­che. Die Kirche vermag diese Brücke nicht zu schlagen.»

Von Lehrern geprägt

Mario Andreot­ti ist zwei­spra­chig aufge­wach­sen, der Vater war Tessi­ner, die Mutter stamm­te aus dem Kanton Glarus. Wo die tiefe Liebe zur deut­schen Spra­che herkommt, möch­te man wissen. Andreot­ti klärt auf: «Ich hatte gros­ses Glück und einen hervor­ra­gen­den Deutsch- und Latein­leh­rer. Er hat mich stark beein­flusst.» Auch an seinen Reli­gi­ons­leh­rer erin­nert er sich gut und gerne zurück. «Ein sehr guter Theo­lo­ge» sei er gewe­sen. Germa­nis­tik und Theo­lo­gie – für Andreot­ti zwei Themen, die sein Leben seit Kindes­bei­nen an beglei­ten und prägen: «Für mich als Germa­nis­ten ist es wich­tig, die reli­giö­sen Zusam­men­hän­ge zu sehen und mich mit der Glau­bens­fra­ge zu beschäftigen.»

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 1. Septem­ber 2023

Der St.Galler im Stephansdom

Drei­zehn Jahre wirk­te der St. Galler Pater Felix Sträss­le in Wien. Jetzt kehrt er in die Gallus­stadt zurück. Im Gespräch schil­dert er, warum ihm der Stephans­dom ans Herz gewach­sen ist und was man bei einem Besuch auf keinen Fall verpas­sen sollte.

Mehr als fünf Millio­nen Menschen besu­chen jähr­lich den Stephans­dom in Wien. Der St. Galler Schönstatt-Pater Felix Sträss­le hatte in den vergan­ge­nen drei­zehn Jahren unzäh­li­ge Gele­gen­hei­ten, die bedeu­tends­te Kirche Öster­reichs und deren Menschen kennen­zu­ler­nen. «Der Stephans­dom ist nicht nur eine wich­ti­ge Kirche für Wien, sondern für ganz Öster­reich», sagt er, «jedes Schul­kind macht einmal in seinem Leben eine Reise nach Wien und besucht den Dom. Der Stephans­dom ist Teil der öster­rei­chi­schen Iden­ti­tät und für die Menschen so etwas wie eine Heimat. Das kommt nicht von unge­fähr: Wenn man in dieser Kirche ist, macht es einem das Herz auf nach oben, zum Himmel. Es zieht einen in die Höhe.»

Inter­na­tio­na­ler Mikrokosmos

2010 zog Pater Felix Sträss­le von St. Gallen nach Wien – in eine Pries­ter­woh­nung direkt neben dem Stephans­dom. «Die Schönstatt-Patres haben seit Länge­rem einen Vertre­ter am Stephans­dom, mein Vorgän­ger über­nahm eine neue Aufga­be und deshalb wurde ich ange­fragt.» Pater Felix sagte sofort zu – auch wenn der Wech­sel von der beschau­li­chen Ostschweiz in die 2‑Millionen-Stadt ein Eintau­chen in eine ande­re Reali­tät bedeu­te­te. «Die Bevöl­ke­rung kommt aus verschie­de­nen Ländern, es tref­fen verschie­de­ne Spra­chen, Spiri­tua­li­tä­ten und Kirchen­bil­der aufein­an­der. Es kommen hier ganz viele Einflüs­se zusam­men.» Auch die Seel­sor­ger am Stephans­dom stam­men aus der ganzen Welt: aus den USA, aus Kroa­ti­en … «Als St. Galler hatte ich da keinen Exoten­sta­tus», merkt er an und lacht. Der kultu­rel­le und spiri­tu­el­le Mikro­kos­mos habe ihn geprägt. «Wien ist so etwas wie ein klei­nes Rom. Man erlebt hier die Welt­kir­che ganz konkret. Für die Ordens­ge­mein­schaf­ten und kirch­li­chen Bewe­gun­gen ist es wich­tig, in Wien präsent zu sein.»

Drei­zehn Jahr wirk­te Pater Sträss­le in Wien, jetzt über­nimmt er eine neue Aufga­be in seiner Heimat St.Gallen.

Gefrag­te Aussprache

Von Wien aus war er öster­reich­weit für die Fami­li­en­pas­to­ral der Schönstatt-Bewegung zustän­dig, in der Pfar­re Stephans­dom über­nahm er pries­ter­li­che Diens­te. Als einer von über fünf­zig Pries­tern feier­te er jede Woche Messen im Stephans­dom und hörte die Beich­te – oder die «Ausspra­che», wie sie in Wien auch genannt wird. «Ein Ange­bot, das auf gros­se Nach­fra­ge stösst: Viele haben das Bedürf­nis, über das spre­chen zu können, was sie beschäf­tigt», so Pater Felix. Bewegt hätte ihn aber auch immer wieder die monat­li­che Messe für Leiden­de: «Die Besu­che­rin­nen und Besu­cher des Stephans­doms können ihre persön­li­chen Gebets­an­lie­gen auf Zettel schrei­ben und in eine Box werfen. Einmal im Monat wurden im Gottes­dienst all diese Anlie­gen aufge­nom­men.» Da jeweils stapel­wei­se Anlie­gen einge­reicht wurden, habe er immer nur Auszü­ge vorle­sen können. Eines war für den St. Galler in Wien auch neu: «Viele Gläu­bi­ge wählen sich die Pfar­re, in der sie die Gottes­diens­te besu­chen oder sich ehren­amt­lich enga­gie­ren, bewusst aus. Bei vielen ist es nicht auto­ma­tisch die Pfar­re, in der sie wohn­haft sind.»

Das Inter­na­tio­na­le der Stadt hat den St.Galler Pater geprägt.

Die Heimat kennenlernen

Jetzt möch­te er wieder näher bei seinen zehn Geschwis­tern, die in der Ostschweiz leben, sein. Hier will er neben seinem Enga­ge­ment für die Schönstatt-Bewegung in der Schweiz eine Aufga­be als Pries­ter im Bistum St. Gallen über­neh­men. Doch zunächst gibt er sich ein paar Wochen Zeit, um die alte Heimat neu kennen­zu­ler­nen. «In den drei­zehn Jahren, in denen ich weg war, ist viel passiert. Sowohl Gesell­schaft als auch die Kirche stehen heute an einem ande­ren Punkt.» Leicht sei ihm der Abschied von Wien nicht gefal­len, in den Wochen vor seiner Rück­kehr habe er noch­mals viel Kultur einge­so­gen und zum Beispiel die Wiener Staats­oper besucht. Er hat sich aber auch Zeit genom­men, einfach im Stephans­dom zu sitzen und die Atmo­sphä­re auf sich wirken zu lassen. Auch wenn das Wahr­zei­chen der Stadt täglich gut besucht ist von Touris­ten und Gläu­bi­gen, sei es ein Kraft­ort und ein Ort der Ruhe und Stille.

Was empfiehlt er Touris­tin­nen und Touris­ten, die den Stephans­dom zum ersten Mal besu­chen? «Sich einfach mal in die Kirche setzen und die Atmo­sphä­re genies­sen.» Es gebe eini­ge Klein­ode zu entde­cken. Ihn persön­lich habe immer wieder die «Dienstboten-Madonna» berührt. Es handelt sich um eine der ältes­ten Skulp­tu­ren im Stephans­dom, mit ihr iden­ti­fi­zier­ten sich seit eh und je die einfa­chen Leute.

Text: Stephan Sigg

Bild: Lukas Cioni

Veröf­fent­licht: 29.08.2023

«Die Notwendigkeit erkannt»

Am 12. Septem­ber 2023 präsen­tiert ein Forschungs­team des Histo­ri­schen Semi­nars der ­Univer­si­tät Zürich eine Vorstu­die zur Aufar­bei­tung sexua­li­sier­ter Gewalt in der katho­li­schen Kirche ­seit den 1950er-Jahren. Wie sehen Betrof­fe­ne und das Bistum St. Gallen dieser Studie entgegen?

Vreni Pete­rer aus Appen­zell, Präsi­den­tin der Inter­es­sen­ge­mein­schaft der Miss­brauchs­be­trof­fe­nen im kirch­li­chen Umfeld (IG MiKU) und selbst Betrof­fe­ne, sieht dem 12. Septem­ber 2023 mit gros­ser Span­nung und Hoff­nung entge­gen. «Ich bin sehr gespannt, wo wir nach einem Jahr stehen und wie viel die Pilot-Studie schon zu Tage bringt», sagt sie gegen­über dem Pfar­rei­fo­rum, «ich bin auch gespannt darauf, wie die Betrof­fe­nen im Fokus stehen.» Sie selbst habe die Möglich­keit gehabt, ihre eige­nen Akten beim Bistum St. Gallen anzu­schau­en und sei sich deshalb bewusst, was für ein riesi­ger Aufwand die Studie sei. «Ich erhof­fe mir, dass das Forschungs­team am 12. Septem­ber viele Ratschlä­ge aufzeigt: Wie soll es jetzt weiter­ge­hen? Was braucht es, um die sexu­el­le Gewalt aufzu­ar­bei­ten? Wir erhiel­ten durch­wegs posi­ti­ve Rück­mel­dun­gen von Betrof­fe­nen, die von empa­thi­schen und kompe­ten­ten Mitar­bei­ten­den des Forschungs­teams ange­hört wurden.» Auch Vreni Pete­rer selbst habe die Gesprä­che, die das Forschungs­team mit ihr geführt habe, so erlebt. «Bemer­kens­wert ist auch, dass eini­ge Betrof­fe­ne, die Teil der Studie sind, zum aller­ers­ten Mal über ihre Erfah­run­gen gespro­chen haben.»

Basis für künf­ti­ge Forschung

Die Studie wurde von der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz (SBK), der Römisch-Katholischen Zentral­kon­fe­renz (der Zusam­men­schluss der kanto­nal­kirch­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen, zu dem auch der Kath. Konfes­si­ons­teil des Kantons St. Gallen gehört) und der Konfe­renz der Ordens­ge­mein­schaf­ten in Auftrag gege­ben. Die Forschung arbei­te­te unab­hän­gig von den Auftrag­ge­bern und beschäf­tig­te sich mit allen Bistü­mern in der Schweiz. Sie soll eine Basis schaf­fen für die künf­ti­ge Forschung zur sexua­li­sier­ter Gewalt, die katho­li­sche Kleri­ker, kirch­li­che Ange­stell­te und Ordens­an­ge­hö­ri­ge seit Mitte des 20. Jahr­hun­derts in der Schweiz ausge­übt haben. Was die Ergeb­nis­se für die einzel­nen Bistü­mer bedeu­ten, wird erst am 12. Septem­ber bekannt. «Auch für uns ist das zum jetzi­gen Zeit­punkt noch völlig offen», sagt Sabi­ne Rüthe­mann, Kommu­ni­ka­ti­ons­be­auf­trag­te des Bistums St. Gallen. «Wir erach­ten es als äusserst wich­tig, dass diese Aufar­bei­tung statt­fin­det und begrüs­sen diese Studie sehr.» Das Bistum St. Gallen setzt sich seit zwan­zig Jahren mit der Aufar­bei­tung von Miss­brauchs­fäl­len und der Präven­ti­on ausein­an­der. 2002 wurde im Auftrag des dama­li­gen Bischofs Ivo Fürer ein Fach­gre­mi­um instal­liert – im Fach­gre­mi­um waren von Beginn an bewusst auch nicht­kirch­li­che Fach­per­so­nen, beispiels­wei­se wird aktu­ell das Gremi­um von der Juris­tin Danie­la Sieber präsi­diert. «Das Bistum hat von den Erfah­run­gen der Betrof­fe­nen gelernt», hält Sabi­ne Rüthe­mann fest. Deshalb gebe es seit diesem Jahr neben dem Schutz­gre­mi­um neu mit Pater Martin Werlen und Elisa­beth Fink-Schneider auch zwei Ansprech­per­so­nen für geist­li­chen Missbrauch.

Anlauf­stel­le für Betroffene

Schon bevor die Ergeb­nis­se präsen­tiert werden, steht fest: Die Arbeit wird fort­ge­setzt, SBK, RKZ und KOVOS haben grünes Licht für ein drei­jäh­ri­ges Folge­pro­jekt 2024–2026 gege­ben. Vreni Pete­rer: «Es ist ein Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung und ein Zeichen dafür, dass die Verant­wor­tungs­trä­ger die Notwen­dig­keit erkannt haben, aufzu­de­cken, wieviel Leid kirch­li­che Mitar­bei­ten­de verur­sacht haben.» Trotz­dem sieht Vreni Pete­rer noch viel Hand­lungs­be­darf: «Wir fordern die Schaf­fung einer unab­hän­gi­gen Anlauf­stel­le für Betrof­fe­ne und haben das bereits bei einem Tref­fen mit dem für die Studie zustän­di­gen Bischof Joseph Maria Bonn­emain depo­niert. Wir hoffen sehr, dass sich am 12. Septem­ber Betrof­fe­ne an kompe­ten­te Ansprech­per­so­nen wenden können.» Sie persön­lich habe es nicht befrem­det, sich damals an das Fach­gre­mi­um des Bistums St. Gallen zu wenden. «Doch für Betrof­fe­ne, die keinen Bezug mehr zur Kirche haben, ist es ein No-Go, die brau­chen eine nicht-kirchliche Anlauf­stel­le.» Sie betont, dass Betrof­fe­ne sich auch an die IG MiKU wenden können. Es gebe inzwi­schen in der Ostschweiz auch eine Selbst­hil­fe­grup­pe für Menschen, die sexu­el­le Gewalt im kirch­li­chen Umfeld erfah­ren haben.

Text: Stephan Sigg

Bild: zVg.

Veröf­fent­licht: 21.08.2023

Online

Im Online-Dossier finden Sie Arti­kel, die in den letz­ten Jahren im Pfar­rei­fo­rum zu sexu­el­ler Gewalt im kirch­li­chen Umfeld erschie­nen sind, die Ergeb­nis­se der Studie (ab 12. Septem­ber), Einord­nun­gen, Hinter­grund­ar­ti­kel sowie Kontakt­adres­sen des Fach­gre­mi­ums bzw. der Ansprech­per­so­nen im Bistum St. Gallen.

→ www.pfarreiforum.ch/studiemissbrauch

«Es braucht mehr Menschen, die Fragen stellen»

Dialog mit Chris­ten und Musli­men? Das wäre für den St. Galler Rabbi­ner Shlo­mo Tikoch­in­ski in der Kind­heit undenk­bar gewe­sen: Er wuchs auf in einer ultra­or­tho­do­xen Fami­lie in Isra­el, doch im Studi­um beschäf­tig­te er sich mit dem Chris­ten­tum und dem Islam. Seit einem Jahr ist er Rabbi­ner der Jüdi­schen Gemein­de St. Gallen.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski und Roland Rich­ter, ehema­li­ger Präsi­dent der Jüdi­schen Gemein­de, begrüs­sen herz­lich und neugie­rig, wir tref­fen uns im hellen Saal der Jüdi­schen Gemein­de im 1. Stock neben der Synago­ge am Roten Platz direkt neben der Raiff­ei­sen­bank. Kaum hat die Foto­gra­fin ihr Equip­ment aufge­baut, ist man mitten im Gespräch. Der Rabbi­ner spricht flies­send Deutsch, lässt aber immer wieder hebräi­sche und engli­sche Wörter einflies­sen – die er jeweils flink mit der Über­set­zungs­app auf seinem ­Handy übersetzt.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski, Sie ­besu­chen ab und zu inko­gni­to Gottes­diens­te der katho­li­schen oder refor­mier­ten ­Kirche. Warum?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Weil ich ein sehr neugie­ri­ger Mensch bin. Mich inter­es­siert es, wie die Gläu­bi­gen der ande­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ihren Glau­ben feiern. Nur, inko­gni­to ist inzwi­schen kaum mehr möglich: In den vergan­ge­nen Mona­ten durf­te ich bereits an vielen inter­re­li­giö­sen Anläs­sen oder Anläs­sen der Stadt teil­neh­men und deshalb kenne ich inzwi­schen viele Pfar­re­rin­nen und Pfar­rer persönlich.

Wie leicht ist Ihnen das ­Ankom­men in St. Gallen gefallen?

Shlo­mo Tikochinski: Sowohl die Begeg­nun­gen mit der Jüdi­schen Gemein­de, aber auch mit allen ande­ren Menschen in der Stadt waren von Anfang von Herz­lich­keit und Offen­heit geprägt. Vorher war ich Rabbi­ner in Dres­den, hier ist es weni­ger anonym, alle sind viel freund­li­cher. Die Jüdi­sche Gemein­de mit 120 Mitglie­dern ist klein, aber wir haben ein akti­ves Glaubens- und Gemein­de­le­ben mit vielen Anlässen.

Roland Rich­ter: Für uns ist Rabbi­ner Shlo­mo ein Geschenk. Wir sind zwar eine klei­ne Gemein­de, aber viele sind offen für Expe­ri­men­te. Erfreu­li­cher­wei­se konn­ten wir unse­ren Vorstand verjün­gen: Eine jünge­re Gene­ra­ti­on ist dabei, die Verant­wor­tung für die Gemein­de zu übernehmen.

Wie wich­tig ist der Inter­re­li­giö­se Dialog für Sie? Was tun Sie?

Shlo­mo Tikochinski: Inter­re­li­giö­ser Dialog beginnt für mich im Alltag, bei ganz alltäg­li­chen Begeg­nun­gen. Wenn zum Beispiel eine Zahn­ärz­tin, die in der Nähe unse­rer Synago­ge arbei­tet, mich plötz­lich auf der Stras­se fragt: Darf ich mal die Synago­ge anschau­en? Wir bieten aber auch zahl­rei­che Führun­gen für Schul­klas­sen an und ich nehme an Gesprächs­run­den teil. Es gibt fast jede Woche einen Termin.

Wie offen ist die Ostschweiz gegen­über ande­ren Religionen?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich nehme eine Offen­heit von den Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten wahr – das ist in Isra­el und selbst in Deutsch­land anders. Eindrück­li­che Beispie­le sind für mich der inter­re­li­giö­se Gottes­dienst am 1. August oder das gemein­sa­me Feiern am Bettag. Trotz­dem darf man etwas Zentra­les nicht verges­sen: Ob der inter­re­li­giö­se Dialog gelingt und sich Menschen verschie­de­ner Reli­gio­nen begeg­nen, ist nicht von solch beson­de­ren Veran­stal­tun­gen abhän­gig. Natür­lich braucht es den Austausch und gemein­sa­me Aktio­nen der offi­zi­el­len Vertre­ter der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, Insti­tu­tio­nen wie das «Haus der Reli­gio­nen» in Bern oder das «House of One» in Berlin sind wich­tig. Aber inter­re­li­giö­ser Dialog, der sich auf die Religions-Profis beschränkt, ist keine beson­de­re Leis­tung. Es geht darum, dass alle Gläu­bi­gen Teil davon sind.

Die St.Galler Synago­ge ist mitten in der Stadt zu finden, am Roten Platz.

Wie stel­len Sie sich das ­konkret vor?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich wünsche mir, dass man sich voller Neugier begeg­net und keine Angst hat, dem ande­ren Fragen zu stel­len. Deshalb ist es für mich viel bemer­kens­wer­ter, wenn mir jemand mitten im Alltag voller Offen­heit und Neugier begeg­net, Fragen stellt oder seine eige­nen Vorur­tei­le hinter­fragt. Es braucht mehr Menschen, die Fragen stel­len. Egal zu welcher Reli­gi­on ich gehö­re: Vorur­tei­le haben wir alle. Wir hören heute oft die offi­zi­el­len Vertre­ter der Reli­gio­nen über ihren Glau­ben spre­chen. Es braucht genau­so die ganz norma­len Menschen, die von ihrem eige­nen Glau­ben erzäh­len. Damit würde auch sicht­bar: Den Chris­ten, den Musli­men, den Juden gibt es nicht … Auch inner­halb jeder Reli­gi­ons­ge­mein­schaft gibt es so viele unter­schied­li­che Prägun­gen. Ande­ren vom Glau­ben erzäh­len, das ist sogar ein fester Teil des jüdi­schen Glau­bens: Es ist ein Wunsch Gottes – wir nennen es Kidusch Haschem: Gott gefällt es.

Herr Rich­ter, Sie sind schon viele Jahre Teil der Jüdi­schen Gemein­de in St. Gallen, wie ­erle­ben Sie das Mitein­an­der der Religionen?

Roland Rich­ter: Die Jüdi­sche Gemein­de spürt seit vielen Jahr­zehn­ten eine Begeg­nung auf Augen­hö­he. Ich erin­ne­re mich an ein Beispiel in den 1990er-Jahren: Damals grün­de­ten die Landes­kir­chen die Offe­ne Kirche St. Gallen. Der refor­mier­te Pfar­rer Chris­toph Sigrist, einer der Initi­an­ten dieses Projek­tes, frag­te mich an, ob ich im Vorstand mitwir­ken möch­te. Die öffentlich-rechtliche Aner­ken­nung 1993 durch den St. Galler Kantons­rat war für uns ein wich­ti­ger Schritt. Bis dahin waren wir als Verein orga­ni­siert, mit der Aner­ken­nung wurden wir den Landes­kir­chen gleich­ge­stellt. Das trug dazu bei, dass uns die Kirchen und der Staat auf Augen­hö­he begeg­nen. Heute profi­tie­ren wir sehr vom Schul­fach ERG. Viele Klas­sen behan­deln da die Welt­re­li­gio­nen und lernen das Juden­tum kennen.

Tun die Ostschwei­zer Schu­len genug für die Bildung in Sachen Religionen?

Shlo­mo Tikochinski: Die Nach­fra­ge nach Führun­gen in unse­rer Synago­ge ist gross. Viele Schul­klas­sen, die uns besu­chen, haben sich in einer «Woche der Reli­gio­nen» oder einem «Monat der Reli­gio­nen» mit dem Juden­tum beschäf­tigt. Ich spüre von den Kindern und Jugend­li­chen oft eine gros­se Neugier. Es werden viele Fragen gestellt.

Roland Rich­ter: Auch die ida-Woche jetzt im Septem­ber ist eine gute Platt­form. Das Wissen über die Reli­gio­nen ist eine wich­ti­ge Grund­la­ge für den inter­re­li­giö­sen Austausch: Nur wer den ande­ren ein biss­chen kennt, kann Fragen stel­len, die in die Tiefe gehen. Wenn mir der ande­re fremd ist und ich unsi­cher bin, was tabu ist oder was den ande­ren verletzt, dann bleibt es bei ober­fläch­li­chen Fragen. Wenn ich dem ande­ren begeg­nen möch­te, muss ich bereit sein, mich mit ihm zu beschäftigen.

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Heute ist es so einfach, sich über die Reli­gio­nen zu infor­mie­ren: Wenn ich heute etwas nicht weiss, kann ich ja googeln oder auf Wiki­pe­dia nachlesen.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski, haben Sie noch Kontakt zu Ihren Geschwistern?

Shlo­mo Tikoch­in­ski: Ich habe vor Kurzem einen meiner Brüder in Isra­el getrof­fen, er ist bis heute Teil der ultra­or­tho­do­xen Gemein­schaft. Als ich ihm erzählt habe, wie ich in St. Gallen mit Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der ande­ren Reli­gio­nen in Kontakt stehe und es auch gemein­sa­me Anläs­se gibt, hat er nur perplex gefragt: Warum tust du das? Für mich ist der inter­re­li­giö­se Dialog eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir glau­ben ja alle an den glei­chen Gott. Viel­leicht lässt sich das mit einem Chor verglei­chen: Es gibt verschie­de­ne Stim­men, aber Gott braucht alle Stim­men, den alle zusam­men machen einen Chor aus.

Rabbi­ner Tikoch­in­ski ist seit einem Jahr Rabbi­ner der Jüdi­schen Gemein­de St.Gallen.

Shlo­mo Tikochinski

Der promo­vier­te Histo­ri­ker Shlo­mo Tikoch­in­ski, gebo­ren 1966 in Jeru­sa­lem als zweit­äl­tes­tes Kind von elf Geschwis­tern, studier­te Geschich­te, Philo­so­phie und Theo­lo­gie – und dabei auch das Chris­ten­tum und den Islam. Er war Rabbi­ner in Jeru­sa­lem und von 2020 bis 2022 in Dres­den. Er lehr­te und forsch­te in verschie­de­nen akade­mi­schen Posi­tio­nen und hat mehre­re Bücher veröf­fent­licht. Neben seiner Tätig­keit in St. Gallen hat er weiter­hin einen Lehr­auf­trag in Jeru­sa­lem. Er hat vier Kinder und ist inzwi­schen vier­fa­cher Grossvater.

Roland Rich­ter

Roland Rich­ter wurde 1944 in eine jüdi­sche Fami­lie in St. Gallen hinein­ge­bo­ren. Nach dem Medi­zin­stu­di­um und der Ausbil­dung zum Fach­arzt für Geburts­hil­fe und Frau­en­heil­kun­de kam er 1985 zurück nach St. Gallen und grün­de­te seine eige­ne ärzt­li­che Praxis. 1987 – 2009 war er im Vorstand der Jüdi­schen Gemein­de St. Gallen, ab 1994 als Präsident.

Eine kanto­na­le Woche für den inter­re­li­giö­sen Dialog

Die «Inter­re­li­giö­se Dialog- und Akti­ons­wo­che ida» findet alle zwei Jahre statt, dieses Jahr vom 11. bis 17. Septem­ber. Einer der Höhe­punk­te ist die gemein­sa­me Bettags­fei­er auf dem Klos­ter­platz St. Gallen (Sonn­tag, 17. Septem­ber, 15.00 Uhr). Es laden ein: die christ­li­chen Kirchen sowie verschie­de­ne Religions- und Glau­bens­ge­mein­schaf­ten der Stadt und Regi­on St. Gallen. Die rumänisch-orthodoxe Pfarr­ge­mein­de wird bei dieser Feier die «St. Galler Erklä­rung» unter­zeich­nen. Die «St. Galler Erklä­rung für das Zusam­men­le­ben der Reli­gio­nen und den inter­re­li­giö­sen Dialog» ist das Herz­stück der ida. Seit 2005 haben zahl­rei­che Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und auch Einzel­per­so­nen die Erklä­rung unter­schrie­ben: www.pfarreiforum.ch/stgallererklärung. In der ida-Woche gibt es zahl­rei­che Veran­stal­tun­gen im ganzen Kanton St. Gallen.

Text: Stephan Sigg

Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­licht: 23.08.2023

«Der Islam gehört auch zur Schweiz»

Das erste Feld­ge­bet für musli­mi­sche Armee­an­ge­hö­ri­ge Ende Juni hat für Aufmerk­sam­keit ­gesorgt. Armee­seel­sor­ger Stefan Staub über die Hinter­grün­de und die Kritik.

Als «miss­ver­ständ­lich» bezeich­net Stefan Staub das Foto von beten­den musli­mi­schen Armee­an­ge­hö­ri­gen. «Das Bild kann falsche Asso­zia­tio­nen auslö­sen.» Das Foto ist Ende Juni in der Ostschweiz entstan­den und zeigt eine Premie­re: das erste offi­zi­el­le Feld­ge­bet für Armee­an­ge­hö­ri­ge mit musli­mi­schem Glau­ben in der Schweiz. Anlass war eines der höchs­ten isla­mi­schen Feste, Bayram, mit dem das Ende des Fasten­mo­nats gefei­ert wird. Es fand auf Wunsch eini­ger Armee­an­ge­hö­ri­ger in einer Pause statt. Durch das Gebet führ­te der Armee­seel­sor­ger mit musli­mi­schem Hinter­grund und ausge­bil­de­te Iman Muris Bego­vic. Er hat – mit zwei Seel­sor­gern mit jüdi­schem Hinter­grund – Anfang Jahr den Dienst aufge­nom­men. Durch das Foto nahm auch die brei­te Öffent­lich­keit erst­mals Kennt­nis davon – und es hat medi­al viel Aufmerk­sam­keit gene­riert. «Damit war zu rech­nen», sagt Stefan Staub. Der Teufe­ner ist seit 17 Jahren Armee­seel­sor­ger und war als Dienst­chef Terri­to­ri­al­di­vi­si­on 4 am besag­ten Gebet zuge­gen. Das Thema beschäf­tigt die Bevöl­ke­rung. Stefan Staub hat teil­wei­se Verständ­nis. «Der Islam und die staat­li­che Orga­ni­sa­ti­on ‹Schweiz› vertra­gen sich manch­mal etwas schwer. Es sind noch immer viele Ängs­te vorhan­den», so der 55-Jährige. «Islam, Isla­mis­mus, Extre­mis­mus – wir werfen manch­mal alles in den glei­chen Topf, was falsch ist. Manch­mal steht die Globa­li­sie­rung unse­rer Welt im Wider­spruch zu unse­ren Erfah­run­gen und Emotio­nen.» Für Staub ist klar: «Der Islam gehört auch zur Schweiz.»

Erst­mals eige­ne Seelsorge

Stefan Staub kann die Aufre­gung um die knien­den Solda­ten nicht verste­hen. Dass in diesem Jahr ein Armee­seel­sor­ger mit musli­mi­schem Hinter­grund den Dienst aufge­nom­men hat, ist für ihn eine Selbst­ver­ständ­lich­keit: «Mit welcher Begrün­dung und welchem Recht wollen wir Musli­men denn weiter­hin vorent­hal­ten, dass auch ihr Hinter­grund in der Armee­seel­sor­ge vertre­ten ist?» Es gehe um Wert­schät­zung gegen­über ande­ren Menschen. «Menschen, die nota­be­ne Schwei­zer Bürge­rin­nen und Bürger sind.» Die Armee­füh­rung habe sich expli­zit für mehr Tole­ranz und Akzep­tanz ausge­spro­chen. «Die Armee will keine star­re Forma­ti­on sein, sondern die gesell­schaft­li­chen Entwick­lun­gen mittra­gen. Wir müssen die Menschen mit musli­mi­schem Glau­ben in die Gemein­schaft aufneh­men. Wir dürfen als Gesell­schaft nicht die Augen davor verschlies­sen, dass es Menschen gibt, die eine ande­re Spiri­tua­li­tät pfle­gen.» Das 20-minütige Gebet bezeich­net Staub als «unspek­ta­ku­lär». «Es hatte nichts Extre­mis­ti­sches an sich, war sehr berüh­rend und stand in Bezug zum Dienst an der Schweiz.» 

Die Thema­tik von beten­den Musli­men in der Armee hat Kritik laut werden lassen. Staub wird emotio­na­ler: «Es ist nicht fair und nicht fein, wenn ein Gebet dazu benutzt wird, um Menschen zu mani­pu­lie­ren. Das ist ein Miss­brauch der Reli­gi­on und der Menschen.» Für Aussa­gen wie «es braucht keine musli­mi­sche Seel­sor­ge», hat er kein Verständ­nis. «Es handelt sich um Menschen, die Mili­tär­dienst leis­ten und sich für die Sicher­heit und Frei­heit in unse­rem Land einset­zen. Wenn sie das nach­voll­zieh­ba­re Bedürf­nis haben, ihre Reli­gi­on im Rahmen des Mögli­chen auch in der Armee zu leben, gebührt ihnen das glei­che Recht dazu wie Ange­hö­ri­gen ande­rer Reli­gio­nen auch.»

Diesel­ben Anliegen

Müssen die Kriti­ker nun Angst haben, dass die Musli­me in der Armee fünf­mal täglich den Gebets­tep­pich ausrol­len? Stefan Staub beschwich­tigt: «Sie machen den Dienst wie alle ande­ren auch.» Das Beten in der Armee sei keines­falls neu. Man habe immer schon Rahmen­be­din­gun­gen geschaf­fen, dass Armee­an­ge­hö­ri­ge – egal welchen Glau­bens – ihre Reli­gi­on leben können, sofern sie den Dienst­be­trieb nicht beein­träch­ti­gen. Das Feld­ge­bet wird denn wohl auch keine einma­li­ge Sache blei­ben. Staub verweist auf den Stel­len­wert des Festes. «Ich kann mir gut vorstel­len, dass das Bedürf­nis sich wieder­ho­len wird.»

Wenn Staub als Armee­seel­sor­ger tätig ist, errei­chen ihn die unter­schied­lichs­ten Anfra­gen. Ob Christ oder Muslim, die Sorgen sind diesel­ben. Rund 80 Prozent der Anfra­gen bezie­hen sich auf Bezie­hungs­pro­ble­me oder Proble­me in der Lebens­füh­rung. «Es sind selten reli­giö­se Themen», so Staub. Aber gera­de bei solchen sei ein Fach­mann sehr hilf­reich. Die Coro­na­pan­de­mie, der Ukraine-Krieg, die verän­der­ten Lebens­be­din­gun­gen – gemäss Stefan Staub ist die Seel­sor­ge wich­ti­ger denn je. Die Anfra­gen stei­gen. «Der Mensch ist ein seeli­sches Wesen und hat nicht nur psychi­sche und körper­li­che Einhei­ten. Dieser Dimen­si­on des Mensch­seins gilt es, Rech­nung zu tragen. Die Seel­sor­ge ist eine riesi­ge Chan­ce für uns alle.»

Am 17. Septem­ber, 10 Uhr, empfängt Stefan Staub in der katho­li­schen Kirche Teufen den ersten ausge­bil­de­ten Seel­sor­ger mit musli­mi­schem Hinter­grund zum «Gespräch an der Kanzel». Thema: «Glei­che Wurzeln und doch unter­schied­lich gewach­sen: Islam und Chris­ten­tum in der Schweiz».

Text: Ales­sia Paga­ni
Bild: Ana Kontoulis

Veröf­fent­li­chung: 23. August 2023

Was bewirkt die ida-Woche wirklich?

Im Rahmen der inter­re­li­giö­sen Dialog- und Akti­ons­wo­che ida finden alle zwei Jahre verschie­de­ne Veran­stal­tun­gen wie zum Beispiel Film­aben­de oder Diskus­si­ons­run­den statt. Diese bieten die Gele­gen­heit, über unter­schied­li­che Welt­an­schau­un­gen ins Gespräch zu kommen, sich ­kennen­zu­ler­nen und ein Zeichen für Offen­heit gegen­über ­ande­ren Reli­gio­nen und Kultu­ren zu setzen.

Damit fördert die ida das fried­li­che Zusam­men­le­ben und baut Vorur­tei­le sowie Ängs­te gegen­über Menschen mit ande­rem Glau­ben oder ande­ren Haltun­gen ab. Sie trägt zudem zur Vernet­zung und Öffnung der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten bei. Gleich­zei­tig wird mit der ida die «St. Galler Erklä­rung für das Zusam­men­le­ben der Reli­gio­nen und den inter­re­li­giö­sen Dialog» sozu­sa­gen zum Leben erweckt. Diese bestimmt die Grund­sät­ze für ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben in reli­giö­ser und welt­an­schau­li­cher Viel­falt im Kanton St. Gallen. Sie verur­teilt Abschot­tung und Ausgren­zung. Zu ihren Werten beken­nen sich zahl­rei­che Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und Einzel­per­so­nen im ganzen Kanton.

Die ida-Woche ist also eine wich­ti­ge Platt­form für Begeg­nung und Austausch. Sie ist die wesent­li­che Basis des inter­re­li­giö­sen Dialogs in unse­rem Kanton und rich­tet sich mit ihren verschie­de­nen Ange­bo­ten an ein brei­tes Publi­kum, nämlich an die ganze Bevölkerung.

Dane­ben hat sich in den letz­ten Jahren auch die St. Galler Konfe­renz zu Fragen von Reli­gi­on und Staat etabliert, die eben­falls von meinem Depar­te­ment koor­di­niert wird. In regel­mäs­si­gen Zusam­men­künf­ten disku­tie­ren kanto­na­le Stel­len dabei mit Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern von gros­sen und klei­ne­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten aktu­el­le Themen. Immer im ida-Jahr orga­ni­siert die Konfe­renz einen öffent­li­chen Anlass. Dieses Jahr findet der Anlass am Donners­tag, 14. Septem­ber 2023, um 17.30 Uhr im Kantons­rats­saal statt. Das Thema der öffent­li­chen Konfe­renz lautet «Reli­gi­on und Alter – braucht es neue Wege?». Dabei werden die aktu­el­len Heraus­for­de­run­gen und Leis­tun­gen der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten im Kontext alters­po­li­ti­scher Fragen thema­ti­siert. In den letz­ten Jahren haben wir auf eine ähnli­che Weise die Rolle der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten bei der Bekämp­fung von Armut disku­tiert und zusätz­lich in einer Weiter­bil­dungs­ver­an­stal­tung vertieft. Dabei hat sich gezeigt, dass die verschie­de­nen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten in der Sozi­al­po­li­tik eine wich­ti­ge Rolle spie­len, aber eine vermehr­te Koor­di­na­ti­on zwischen staat­li­chen Stel­len und den verschie­de­nen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten sinn­voll ist.

Die Arbeit in diesen Gefäs­sen und die Veran­stal­tun­gen haben mir auch gezeigt, dass inter­re­li­giö­ser Dialog nicht nur eine Sache des Glau­bens oder ein Diskurs unter Theo­lo­gin­nen und Theo­lo­gen ist, sondern wich­ti­ge Impul­se für konkre­te gesell­schaft­li­che Entwick­lun­gen leis­ten kann.

Text: Laura Bucher
Regie­rungs­rä­tin Kanton St. Gallen

Veröf­fent­li­chung: 21. August 2023

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