Wie kann ich verhindern, dass ich einsam werde? Ein Podium in Wattwil zeigte auf, warum immer mehr Menschen unter Einsamkeit leiden und welche Auswege es gibt.
Mit siebzig Jahren ist man nicht zu alt, um eine neue Beziehung einzugehen», sagt Sonja Ruckli, während die Kamera sie beim Chatten filmt. Sie ist eine von sieben Menschen, die sich im Film «Einsamkeit hat viele Gesichter» porträtieren liessen. Der Film bildet den Einstieg ins Podium im BBZ zum Thema Einsamkeit, das am 7. September unter anderem vom Amt für Gesundheitsfragen des Kantons St. Gallen, der Seelsorgeeinheit Neutoggenburg und der evangelischen Kirchgemeinde Mittleres Toggenburg organisiert wurde. Die Einsamkeit in unserer Gesellschaft nimmt zu. Das nehmen alle Podiumsteilnehmenden wahr. Und: Gefühle der Isolation treten nicht erst im Alter auf. «Ich erlebe in meiner Tätigkeit auch viele junge Menschen, denen Einsamkeit zu schaffen macht», sagt Stefan Rüsch, Psychologe. «Sich einsam zu fühlen, ist mit Scham verbunden.» Doch sich einzugestehen, einsam zu sein, sei oft ein erster Schritt. «Leider ist für viele die Hürde gross, Hilfe anzunehmen», so Tanja Merten. Die Fachärztin rechnet damit, dass die Einsamkeit in den nächsten Jahren durch die Digitalisierung weiter zunehmen wird: Viele Bereiche verlagern sich ins Digitale, auch Einkäufe werden immer mehr online erledigt. So fallen Kontakte wie die Begegnungen in den Geschäften oder der Plausch mit der Kassiererin weg.

Kontakte zu Jüngeren
Agnes Heiniger-Gmür von Pro Senectute Wil & Toggenburg weist darauf hin, dass unter Hochaltrigen Einsamkeit besonders verbreitet sei. «Die Kraft, neue Kontakte aufzubauen lässt mit dem Alter nach. Man tut sich immer schwerer, Kontakte zu pflegen oder aufzubauen.» Ein Mittel gegen Einsamkeit können Hobbys sein: «Für viele ist es eine Hilfe, sich in einem Hobby vertiefen zu können: Malen, schreiben …», hält Karolina Staniszewski vom Amt für Gesundheitsvorsorge fest. «Hilfreich ist auch, regelmässig zu telefonieren oder Brieffreundschaften aufzubauen. Das kann ich auch noch, wenn ich mobil eingeschränkt bin.» Rainer Papst, reformierter Pfarrer der Kirchgemeinde Mittleres Toggenburg, erlebt, dass oft auch Ehrenämter und die Kontakte, die dadurch entstehen, Fundamente bis ins hohe Alter bilden: «Wenn ich mich lange beim Mittagstisch oder beim Kirchencafé engagiert habe, dann kann ich auch später dort hingehen, ich kenne die Leute und fühle mich willkommen.» Der reformierte Pfarrer sieht eine Chance im Generationendialog: «Wer die Möglichkeit hat, sollte unbedingt auch Kontakte zu jüngeren Menschen aufbauen.» Davon würden nicht nur die älteren, sondern auch die jüngeren profitieren: «Ältere Menschen haben so viel Lebenserfahrung, es ist ein Gewinn für alle, wenn sie sich einbringen.»
Aufeinander zugehen
Bei einigen im Film Porträtierten tauchte die Einsamkeit nach der Pensionierung auf – meist nicht direkt, aber ein paar Jahre später: «Wer im Berufsleben steht, hat viele Kontakte und da trainiert man automatisch den Austausch mit anderen Menschen», so Karolina Staniszewski, «wenn die Kontakte wegfallen, dann fehlt auch das Training und man verliert immer mehr die Routine, mit anderen zu interagieren.» Auf eines wollen alle Podiumsteilnehmenden hinweisen: Es muss sich etwas in der Gesellschaft tun. Doch das ist gar nicht so einfach, Einsamkeit sei ein stilles Leiden. «Auf der Strasse sieht man es niemandem an, dass er einsam ist», so Agnes Heiniger-Gmür. «Viele ältere Menschen haben das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Deshalb ist es sicher nicht verkehrt, Fragen in diese Richtung zu stellen.» Das Votum von Rainer Papst geht in eine ähnliche Richtung: «Wir müssen alle Beziehungsfähigkeit einüben. Die ganze Gesellschaft muss aktiver auf andere zugehen. Das ist kein Selbstläufer.»
Text und Bild: Stephan Sigg
Veröffentlicht: 03. Oktober 2022
Film über Einsamkeit
Im 34-minütigen Dokumentarfilm «Einsamkeit hat viele Gesichter» erzählen sieben Personen aus der Deutschschweiz über ihre Erfahrung mit Einsamkeit: Was macht ihnen zu schaffen und was wünschen sie sich? «Allein bin ich ein Mensch ohne Seele», bringt Mohammed Malla seine Gefühle auf den Punkt. Gleichzeitig wird im Film auch sichtbar, wie sie versuchen, sich aus ihrer Isolation zu befreien. Der Film kann online angeschaut werden.