Warum migrieren Menschen? Das «Reisebüro Linth» nimmt die Besuchenden mit auf eine emotionale Reise. Die Ausstellung regt mit überraschenden Interaktionen und Inszenierungen an, die Perspektive von Migrantinnen und Migranten einzunehmen.

«Auswanderung und Einwanderung sind allgegenwärtig. Wir wollen aufzeigen, was sich im Kopf der Menschen abspielt, wenn sie sich entscheiden, die Heimat für immer zu verlassen», sagt Peter Brunner (54), Leiter des Reisebüros Linth und Präsident der Kulturkommission Kaltbrunn. «Was sind ihre Gedanken? Wie stark muss der Wunsch oder die Not sein, um in die Ferne aufzubrechen und das Vertraute hinter sich zu lassen?» In den Ausstellungsräumen dreht sich alles um die Suche nach Glück, Heimatgefühle, Flucht, Abenteuer, Fernweh und fremde Kulturen. «Wir beschränken uns nicht auf einen historischen Rückblick, sondern bearbeiten auch aktuelle Geschehen und möchten die Diversität sowie einen respektvollen Umgang mit fremden Kulturen fördern.»
Nachdenken und Nachfühlen
Im 19. Jahrhundert gab es im Linthgebiet drei grosse Auswanderungswellen. Damals sind unzählige Menschen aufgebrochen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Viele von ihnen sind unter menschenunwürdigen Verhältnissen nach Amerika gereist. Die meisten mit dem Schiff – je nach sozialem Status in unterschiedlichen Klassen: Reisende der dritten Klasse wurden in schäbigen Schiffskabinen eingepfercht. Dieses bedrohliche Gefühl wird den Besuchenden im authentisch inszenierten Schiffsraum vermittelt. Dabei wird die räumliche Wahrnehmung mit Geräuschen eines stürmischen Meers verstärkt. Brunner betont: «Es ist uns wichtig, dass unsere Gäste nicht nur konsumieren, sondern sich auch überlegen, was die Menschen in diesen Situationen gefühlt haben.» Reisende der ersten und zweiten Klasse genossen nicht nur an Bord besonderen Service. Sie wurden auch von den Einwanderungsbehörden in New York bevorzugt behandelt, während die Passagiere der dritten Klasse mit Booten nach Ellis Island verfrachtet wurden. Von dort wurden sie – teilweise aus dubiosen Gründen – entweder direkt ins Heimatland zurückgeschickt oder ihnen stand ein schwieriger Start in einem fremden Land bevor. Letztlich war es reine Glückssache, wie und ob man als Einwanderin oder Einwanderer in einem fremden Land aufgenommen wurde. Dieser Moment der Entscheidung wird in der Ausstellung mit einem Glücksrad symbolisiert.

Sonderausstellung Flucht
Das Reisebüro Linth wurde im Oktober 2021 eröffnet. «Vorher haben wir in diesem Haus ein klassisches Feld-Wald-Wiesen-Museum mit wechselnden Ausstellungen betrieben.» Das neue Konzept und der neue Name fokussieren auf das Mono-Thema Migration. Nebst der Dauerausstellung gibt es im Dachgeschoss eine Sonderausstellung mit Werkkopien des Kaltbrunner Auswanderers Ferdinand Arnold Brader. Der talentierte Zeichner verliess 1870 seine Heimat in Richtung Amerika. Während er in der Schweiz unbekannt blieb, entwickelten sich seine Werke auf dem amerikanischen Kunstmarkt zur grossen Attraktion. «Diese Ausstellung war dank des Kontaktes zur Präsidentin der Schweizer Auswanderer in Amerika möglich», bemerkt Brunner. Für die Sonderausstellung «Flucht», die aufgrund des aktuellen Ukraine-Konfliktes in kürzester Zeit realisiert wurde, war sein Netzwerk ebenfalls von grossem Nutzen. «Auch dank Leih-Exponaten aus dem Lager des Historischen und Völkerkundemuseums St. Gallen konnten wir das Projekt so rasch umsetzen», ergänzt er. Brunner, der zeitlebens in Kaltbrunn wohnt und arbeitet, amtet im Auftrag der Politischen Gemeinde als Leiter des Reisebüros. Doch sein fünfköpfiges Team und er leisten grösstenteils Fronarbeit. Die nächste Sonderausstellung ist schon geplant: «Immigration der Italienerinnen und Italiener in die Schweiz.»





Text: Katja Hongler
Fotos: Ana Kontoulis
Veröffentlicht: 25.09.2022