Ohne Ziel herumstreifen, die Richtung würfeln oder Tierspuren folgen? Stefan Paulus, Professor an der Ostschweizer Fachhochschule Ost, erzählt, welche Chancen im ziellosen Unterwegssein stecken und wie sie das Leben erweitern.
«Was kommt als nächstes? Was erwartet mich hinter dem Zaun – ein Hund, eine Kuh? Ziellos unterwegs zu sein ist so etwas wie Unterwegssein in freudiger Erwartung», beschreibt Stefan Paulus im Zoom-Gespräch mit dem Pfarreiforum sein Hobby. Der Sozialwissenschaftler aus Hamburg lebt seit acht Jahren im Appenzellerland und ist Professor an der Fachhochschule Ost. Momentan verbringt er einen Forschungsaufenthalt in den USA, kurz vor dem Zoom-Gespräch hat er eine längere Radtour beendet. Bei dieser Tour hat er wie in seiner Freizeit zuhause im Appenzellerland das «Driften» praktiziert oder auf Deutsch: das Herumstreifen. «Die Idee dahinter stammt aus den 1960er-Jahren», erklärt Stefan Paulus, «Die Situationistische Internationale, eine linke Gruppe europäischer Künstler und Intellektueller, wollte damit einen Gegenpol zu einem streng reglementierten Alltag setzen.»
Dank Tierspuren neuen Ort entdeckt
Der Alltag ist durchgetaktet, man bewegt sich nur zielorientiert: von zuhause zur Arbeit, in den Supermarkt, in die Kirche … «Dabei bewegt man sich immer auf den gleichen Wegen. Es ist ein funktionelles, ein zweckvolles Unterwegssein. Die Zeit für die Musse fehlt.» Wer hingegen mal ziellos herumstreife, erlebe ein Abenteuer und habe die Chance, Neues zu entdecken. Stefan Paulus erinnert sich an einen Besuch in einem Dorf im Saarland, in dem er aufgewachsen ist: «Ich bin spontan Tierspuren gefolgt, sie haben mich in den Wald geführt. Dank ihnen bin ich an einem Ort gelandet, den ich noch gar nicht gekannt habe. Das ziellose Unterwegssein ermöglicht auch Zufallsbegegnungen – man kommt mit unbekannten Menschen in Kontakt.»

Die Richtung würfeln
Ganz ohne «Google Map» und Karte unterwegs sein – und das gerade in einer unbekannten Stadt oder Gegend? Da braucht es schon ein bisschen Mut und Lust auf Abenteuer. Stefan Paulus umschreibt das Driften als ein «Bei Seite treten». Es ermögliche das Ausbrechen aus dem Hamsterrad des Alltags. «Du kommst dabei auf andere Gedanken.» Dabei könne man abschalten. Gleichzeitig sei es möglich, sich selber ganz neu und unabhängig von den üblichen Rollen die man ausübe zu erleben. Vielleicht steckt in der Technik des Driftens sogar eine subversive Kraft: «Es geht ja dabei auch um die Frage von Raum, Territorien und Grenzen. Wer herumstreift, setzt sich auch mal über Grenzen hinweg.»
Kartenspiel als Hilfe
Doch wie funktioniert dieses Driften jetzt genau? «Sich wirklich ohne konkretes Ziel auf den Weg zu machen, ist beim ersten Mal gar nicht so leicht», weiss Stefan Paulus. «Zuerst muss man sich der Herausforderung stellen, ziellos zu werden. Es gibt verschiedene Techniken, die einem helfen. Man kann zum Beispiel würfeln: Der Würfel entscheidet, in welche Richtung man wandert oder auf welche Weise man unterwegs ist – zu Fuss, schwimmend oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Man kann sich auch von Gefühlen leiten lassen oder man folgt Geräuschen.» Inspirationen können auch Bücher liefern wie das legendäre «On the Road» von Jack Kerouac. Stefan Paulus setzt bei seinen Ausflügen ohne Ziel auch gerne das Kartenspiel ein, das er selber entwickelt hat. Um auch andere Menschen für das Driften zu motivieren, stellt er dieses Kartenspiel zum Download zur Verfügung: www.pfarreiforum.ch/driften. Driften funktioniert laut Stefan Paulus sowohl in einer Stadt als auch auf dem Land: «Vielleicht ist auf dem Land die Chance grösser, dass man mit anderen Menschen in Kontakt kommt und sie offen für Gespräche sind.» In den USA habe er gerade das andere Extrem erlebt: «So viele sind nur mit ihren Autos unterwegs, sie verschanzen sich in ihren SUVs. Begegnungen sind da nicht mehr möglich.»

Ein angenehmer Gegenentwurf
Ziellos unterwegs sein – ein inspirierender Gegentrend in einer Gesellschaft, in der alles durchgetaktet, optimiert und auf Effizienz getrimmt ist. «Ich habe mich verlaufen», singt ein Kind im gleichnamigen Lied des deutschen Kinderliedermachers Rolf Zuckowski in den 1990er-Jahren – und hört sich ziemlich verunsichert an. Aber in der zweiten Strophe erinnert es sich, was ihm seine Mutter beigebracht hat: Sich verlaufen ist nicht schlimm – man kann ja jederzeit jemanden nach dem Weg fragen. Wann nehmen Sie sich das nächste Mal Zeit zum Flanieren?
Download Kartenspiel von Stefan Paulus
Text: Stephan Sigg
Bilder: zVg. / istockphoto.com/Marina Demidiuk
23. 05.2022