Jemanden eine Zeit lang nur für sich haben

Ob Bräteln, ein Muse­ums­be­such oder eine Velo­fahrt: Regel­mäs­sig tref­fen sich Mosa­na (9) und Dona­ta Züger im Rahmen des Paten­schafts­pro­jek­tes «mit mir», um gemein­sam Zeit zu verbrin­gen. Frei­wil­li­ge, die sich als Patin­nen und Paten enga­gie­ren, werden immer wichtiger.

«Aarau, Lenz­burg, Sommer­la­ger, Luzern, Verkehrs­haus!» Die neun­jäh­ri­ge Mosa­na sitzt auf einem Gymnas­tik­ball, hüpft hoch und runter und ruft bei jedem Hüpfer Erleb­nis­se ihrer Sommer­fe­ri­en durch den Raum. Dann steht sie auf und rennt davon in ihr Geheim­ver­steck, das sie nieman­dem verra­ten möch­te. «So geht das immer. Sie ist ein rich­ti­ger Wirbel­wind», sagt die St. Galle­rin Dona­ta Züger. Draus­sen regnet es. Daher verbrin­gen die beiden ihren gemein­sa­men Nach­mit­tag in der Wohnung. Regel­mäs­sig tref­fen sich die beiden im Rahmen des Paten­schafts­pro­jekts «mit mir» von der Cari­tas St. Gallen Appen­zell und den katho­li­schen Sozi­al­diens­ten St.Gallen. In diesem enga­gie­ren sich Frei­wil­li­ge für benach­tei­lig­te Kinder und schen­ken ihnen Zeit und Aufmerk­sam­keit. Oft gehen Dona­ta Züger und Mosa­na zusam­men in den Wald und machen ein Feuer, gehen zum Feri­en­häus­chen in Lömmen­schwil, spie­len Feder­ball, schlit­teln oder besu­chen ein Museum.

Für Paten­schaft ange­fragt
«Die Idee des Projek­tes ist, dass die Kinder eine Zeit lang jeman­den nur für sich haben», sagt Dona­ta Züger. Dann erzählt die 76-Jährige, wie sie Mosa­na und ihre Fami­lie vor zwei Jahren kennen­lern­te. Damals wurde sie von den katho­li­schen Sozi­al­diens­ten der Stadt St. Gallen ange­fragt, ob sie nicht Inter­es­se an einer Paten­schaft habe. Dona­ta Züger hatte sich eini­ge Zeit zuvor als Frei­wil­li­ge gemel­det. Nach einem ersten Kennen­ler­nen zusam­men mit einer Sozi­al­ar­bei­te­rin besuch­te Dona­ta Züger die Fami­lie in ihrem Quar­tier. Mosa­na zeig­te ihr den Hort, die Schu­le, die Migros und stell­te ihre beste Freun­din vor.

Auf Lebens­wel­ten einlas­sen
Mitt­ler­wei­le kenne sich die Fami­lie und Dona­ta Züger so gut, dass sie auch bei den Eltern­ge­sprä­chen an der Schu­le mit dabei ist oder hin und wieder einge­la­den wird. «Das ist aber nicht Teil des Projek­tes, sondern hat sich einfach so erge­ben», sagt Dona­ta Züger und fügt an, dass nicht nur Mosa­na, sondern auch sie selbst von «mit mir» profi­tie­ren würde. Früher hütetet Dona­ta Züger, die zunächst als Sozi­al­ar­bei­te­rin und später als selb­stän­di­ge Super­vi­so­rin gear­bei­tet hatte, regel­mäs­sig die Kinder ihrer Nich­te. Da diese nun älter seien und da sie selbst keine eige­nen Enkel­kin­der habe, sei die Anfra­ge zum rich­ti­gen Zeit­punkt gekom­men. «Ich mag es, mich auf das Leben­di­ge und das Verspiel­te von Kindern einzu­las­sen. Da macht man Dinge, die man schon lange nicht mehr getan hat und ist voll und ganz in der Gegen­wart präsent», sagt sie. Ausser­dem tue es ihr gut, sich auf ande­re Lebens­wel­ten einzulassen.

Anfra­gen von weitherum

«mit mir» habe in jüngs­ter Zeit stark ange­zo­gen, sagt Roma­na Haas von den Katho­li­schen Sozi­al­diens­ten St.Gallen. Sie leitet das Projekt zusam­men mit einer Kolle­gin im Lebens­raum St. Gallen. «Lange Zeit haben wir im Schnitt zehn Paten­schaf­ten pro Jahr beglei­tet. Diese nehmen nun aber deut­lich zu», sagt sie. Anfra­gen inter­es­sier­ter Frei­wil­li­ger bekommt Roma­na Haas mitt­ler­wei­le aus dem ganzen Bistum. Leben die Inter­es­sier­ten in der Regi­on St.Gallen, nimmt sie selbst Kontakt mit den jewei­li­gen Perso­nen auf. Alle übri­gen Anfra­gen leitet sie an die Cari­tas St.Gallen-Appenzell weiter. Diese plant, das Projekt in diesem Herbst auf das ganze Bistum aus-zuweiten, zunächst in der Regi­on Sargans. Ziel ist es, benach­tei­lig­ten Kindern Zeit und Aufmerk­sam­keit zu schen­ken. In der Schweiz sind gemäss Cari­tas rund 230 000 Kinder von Armut betrof­fen. Das Projekt «mit mir» helfe, den Kindern und deren Eltern aus dieser Situa­ti­on auszubrechen.

In St.Gallen werden die Paten­schaf­ten durch die katho­li­schen Sozi­al­diens­te St. Gallen offi­zi­ell während drei Jahren beglei­tet. Mitma­chen können Kinder ab drei Jahren sowie Paten und Patin­nen ab 25 Jahren. Letz­te­re verpflich­ten sich unter ande­rem, zwei Mal im Jahr an einem Austausch- sowie an einem Weiter­bil­dungs­an­lass teil­zu­neh­men. Die Erfah­run­gen aus dem mitt­ler­wei­le sieb­zehn­jäh­ri­gen Ange­bot zeigen, dass die Paten­schaf­ten meis­tens länger als drei Jahre bestehen. Wert­voll ist das laut Roma­na Haas gera­de deshalb, weil die Paten und Patin­nen die Jugend­li­chen in heraus­for­dern­den Lebens­si­tua­tio­nen wie die Lehr­stel­len­su­che mit ihren eige­nen Erfah­run­gen unter­stüt­zen können.

Neue Regeln erfinden

Mitt­ler­wei­le hat Mosa­na beschlos­sen, dass es Zeit für ein Karten­spiel sei. Wer verliert, bekommt mit einem ange­ko­kel­ten Kork­zap­fen russi­ge Punk­te auf das Gesicht gemalt. Nach zwei Runden ist Mosa­na die eindeu­ti­ge Gewin­ne­rin, betupft begeis­tert zunächst die Verlie­re­rin Dona­ta Züger und dann sich selbst. «Es gibt eine neue Regel. Wer gewinnt bekommt die meis­ten Punk­te aufge­malt», ruf sie und lacht. Oft versu­che Mosa­na die Regeln zu ihren Guns­ten zu ändern, sagt Dona­ta Züger. Und Mosa­na fügt an, dass sie in der Schu­le immer dann flüs­te­re und mit ande­ren rede, wenn eigent­lich alle ruhig eine Aufga­be lösen sollen. «Aber dafür hatte ich eine 5 in Mathe», sagt sie stolz.

Berührt von Lebensgeschichte

Gegen­sei­ti­ges Vertrau­en haben und die ande­re Kultur respek­tie­ren, das gehört zu den Grundsät-zen des Paten­schafts­pro­jek­tes «mit mir». Mosa-nas Fami­lie stammt aus Eritrea, gehört einer christ­li­chen Kirche an und spricht die Landespra-che Tigri­nya. Mosa­na ist als mitt­le­res von drei Kindern in der Schweiz gebo­ren. Ihr Vater, der in Eritrea als Lehrer und Schul­lei­ter gear­bei­tet hatte, war einst über das Mittel­meer in die Schweiz geflüch­tet. «Wenn ich sehe, wie posi­tiv die Fami­lie trotz harter Lebens­ge­schich­te einge-stellt ist, dann berührt mich das sehr», sagt Do-nata Züger und erzählt, wie gut sich die Fami­lie inte­griert habe, deutsch spre­che und versu­che, hier etwas aufzu­bau­en. Aus dem Neben­zim­mer erklingt ein Klavier­stück. Mosa­na sitzt konzent-riert vor dem Instru­ment und übt die Melo­die. «Eigent­lich spie­le ich ja Geige», sagt sie. «Aber auf dem Klavier möch­te ich spie­len können wie Dona­ta.» (nar)

25.08.2021

www.caritas-stgallen.ch/was-wir-tun/mit-mir

AUCH «MIA & MAX» SUCHT PATINNEN UND PATEN

Nebst «mit mir» befin­det sich mit «Mia & Max» ein weite­res Patenschafts-projekt in der Aufbau­pha­se. Initi­iert hat es der St. Galli­sche Hilfs­ver­ein SGHV. Es unter­schei­det sich inso­fern von «mit mir», dass es ausschliess­lich Kinder von Eltern mit einer psychi­schen Beein­träch­ti­gung unter­stützt. Laut André Calleg­a­ri, Mitar­bei­ter Kommu­ni­ka­ti­on und Fund­rai­sing beim St. Galli­schen Hilfs­ver­ein, wird damit eine Lücke im Ange­bot geschlos­sen. «Es gibt keine spezi­fi­sche Unter­stüt­zung für diese Kinder. Aus der Forschung wissen wir aber, dass gera­de Kinder von Eltern mit einer psychi­schen Beein­träch­ti­gung spezi­el­le Präven­ti­on bräuch­ten, um nicht selbst zu erkran­ken», sagt er. Betrof­fe­nen Kindern fehle oftmals Konti­nui­tät. Trag­fä­hi­ge, lang­fris­tig ange­leg­te Bezie­hun­gen zu Nicht-Betroffenen mindern das Risi­ko. Das Paten­schafts­pro­jekt «Mia & Max» wird von OST – Ostschwei­zer Fach­hoch­schu­le wissen­schaft­lich beglei­tet. Im Ideal­fall verbrin­gen die Paten und Patin­nen einen Nach­mit­tag pro Woche mit dem Kind und nehmen sich bewusst Zeit, auf es einzu­ge­hen. Dadurch sollen die Kinder neue Sicht­wei­sen erhal­ten und Akti­vi­tä­ten wie Backen, Basteln oder Ausflü­ge in die Natur nach­ge­hen können, für die Zuhau­se womög­lich die Zeit fehlt. Während drei Jahren beglei­tet eine Fach­per­son die Paten­schaf­ten. «Mia & Max» befin­det sich derzeit in der Pilot­pha­se. Ziel ist, inner­halb von fünf Jahren 30 Paten­schaf­ten vermit­telt zu haben. Ausser­dem soll «Mia & Max» auf den ganzen Kanton ausge-weitet werden. (nar)

www.miaundmax.ch

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