Uni-Seelsorger Thomas Reschke darüber, was junge Menschen während der Pandemie bedrückt.
Thomas Reschke, wir befinden uns im zweiten Jahr des Social Distancing. Mit welchen Themen kommen die Studierenden auf Sie als Uni-Seelsorger zu?
Thomas Reschke: Vor einem Jahr hatte die Coronakrise für die Studierenden noch den Reiz des Neuen und wirkte kaum bedrohlich. Im Vordergrund standen Fragen wie die Prüfungsgerechtigkeit und der Wunsch nach Präsenzprüfungen. Da viele Studierende während des Lockdowns nur ein kleines Zimmer in St.Gallen hatten, zogen sie wieder nach Hause in ihr «Kinderzimmer». Diese «Zwangsinfantilisierung» steht dem Traum von der Studienzeit als schönste Zeit des Lebens mit vielen neuen Begegnungen sehr entgegen. Da in die Studienzeit auch die Phase der Partnerfindung fällt, ist diese durch die Corona-Situation erschwert.
Aktuell hat sich die Situation noch nicht wirklich geändert.
Thomas Reschke: Leider ja. Ich kenne auch keinen Studierenden, an dem die Corona-Pandemie spurlos vorbeigegangen ist. Die Pandemie hat die Vulnerabilität aller Menschen gezeigt: Egal ob arm oder reich. Sie verstärkte zudem die Ängste, die bei manchen Studierenden ohnehin da sind. Beispiele dafür sind die Sorgen, ganz allein oder dem Studium nicht gewachsen zu sein. Hinzu kommen die Angst vor der Klimakatastrophe oder vor einer politisch fatalen Weltsituation, die Sorge um Menschen im Verwandtenkreis, die schwer krank sind oder die Gewissheit, nicht einmal eine Hochzeit verlässlich planen zu können.
Wie wirkt sich diese Unsicherheit auf Ihre Arbeit als Uni-Seelsorger aus?
Thomas Reschke: Die Seelsorge ist in Zeiten von Corona persönlicher und intensiver ge-worden. Auch kommen viele Studierende zu mir, die sich früher wohl nicht an mich gewendet hätten. Einige haben die ablenkungsfreie Zeit während der Pandemie auch als Phase der Entscheidungsfindung genutzt und etwa um Taufe und Firmung gebeten. Die Corona-Zeit ist also auch eine pastorale Chance. Die jungen Menschen erwarten, dass die Kirchen Denkangebote des Glaubens vermitteln, die ihnen Hoffnung und Halt geben.
Um Hoffnung während der Corona-Zeit zu schenken, haben Sie in die Semestergottesdienste Backcasting-Gedankenexperimente eingebaut. Wie funktionieren diese?
Thomas Reschke: Meine Predigt um Backcasting-Experimente zu erweitern, kam bei den Studierenden extrem gut an. Die Methode funktioniert folgenderweise: Man setzt das rettende Handeln Gottes voraus und blickt auf die Gegenwart. Dabei stellt man sich die Frage, worüber man sich nach Corona wundern wird. Das könnte zum Beispiel sein, dass durch die Pandemie Solidarität wichtiger geworden ist statt der Egotrip. Oder dass einem die Bedeutung von Freundschaften neu bewusst wird und man sie wieder stärker wertschätzt.
Wie hat die Pandemie Sie persönlich verändert?
Thomas Reschke: Für jemanden wie mich, der es gewohnt ist, alle Anlässe ein Jahr im voraus zu planen, ist die Corona-Zeit eine spirituelle Herausforderung, zu mehr Gelassenheit und Demut zu finden. Nahe ging mir vor allem, dass Anlässe wie Trauerfeiern nur im kleinsten Kreise stattfinden konnten und das Tröstende der sichtbaren Gemeinschaft fehlte. Auch das etliche Hochzeiten verschoben werden mussten, war berührend. Eine Braut war so untröstlich, dass ich an ihrem geplanten Tag eine Segnung im kleinsten Kreis gemacht habe, sozusagen als ersten Schritt auf die Hochzeit hin. Für mich persönlich gab diese Zeit auch einen Schub, mich mehr mit den digitalen Optionen zu beschäftigen, wie etwa ein Anmeldesystem für Veranstaltungen zu kreieren oder mehr via sozialen Netzwerken zu interagieren.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, welcher wäre das für das aktuelle Jahr?
Thomas Reschke: Eines der wichtigsten Themen 2021 ist sicher die Rückbesinnung auf den Wert der Gemeinschaft. Doch welche Nähe ist in diesem Jahr möglich und welche Distanz ist nötig? Für die Studierenden beinhaltet das beispielsweise die Frage nach Auslandssemestern. Werden sie möglich sein? Was bringt ein Auslandssemester etwa in Harvard, wenn dort online unterrichtet wird und man kaum die Möglichkeit hat, andere kennenzulernen? An der Universität St.Gallen gibt es über hundert Vereine. Auch da stellt sich die Frage, wie Gemeinschaft weiterhin gepflegt werden kann, falls Präsenzveranstaltungen verboten sein sollten. Hätte ich einen Wunsch frei, dann wäre dieser, dass wir 2021 ein grosses unbeschwertes Fest feiern können, weil die Pande-mie überwunden ist und wir uns an der Morgenröte einer neuen Welt erfreuen dürfen. (nar)