Wertschätzen, aber wie?

Nordlicht über der Bucht von Flakstad-Lofoten: Ist Jugendseelsorger Mauro Callegari mit seiner Kamera unterwegs, nimmt er seine Umgebung bewusst war. ­Es lohne sich, mit diesem «Weitwinkelblick» auch durchs Leben zu gehen, sagt er. (Bild: zVg)

Ob am Arbeitsplatz, in der Schule oder zu Hause: Mehr Menschlichkeit tut gut und motiviert. Eine Beziehungsberaterin und ein Jugendseelsorger sagen, wie uns das gelingt.

Ob Medienbericht oder Kommentare: Manchmal erscheint es, als ob wir uns gegenseitig immer weniger respektieren und wertschätzen. Mauro Callegari, wie können wir dagegenhalten?

Wir können überall dort dagegenhalten, wo menschliche Begegnung stattfindet. In meinem Fall ist das die kirchliche Jugendarbeit. Wenn Jugendliche zu uns in den Jugendtreff kommen, möchte ich sie immer als Menschen sehen und sie so kennenlernen, wie sie sind. Es geht mir nicht um Noten oder darum, was sie gelernt haben.

 

Wie gelingt das?

Das gelingt mir, indem ich einfach ich selber, also authentisch und offen, bin. Jugendliche merken schnell, ob jemand ein ehrliches Interesse an ihnen hat. Wir Erwachsene sind da etwas abgestumpfter, aber Jugendlichen kann man nichts vormachen. Als Jugendseelsorger begleite ich sie ein Stück weit auf ihrem Lebensweg und möchte ihnen zeigen, dass man durch Offenheit, Begegnung, Wertschätzung und Glaube selbst vieles gewinnt. Es muss auch nicht alles auf Anhieb klappen, was man im Leben ausprobiert.

Mauro Callegari, Jugendseelsorger in der Seelsorgeeinheitüber dem Bodensee (Bild: zVg)

Fehler sind also erlaubt?

Unbedingt. Und sie passieren uns allen ständig. Ein Beispiel: Ich war einmal knapp dran auf meinem Weg mit dem Auto zum Jugendtreff in Grub SG. Natürlich hatte ich dann auch noch zu Hause den Schlüssel für den Jugendtreff vergessen. Dort warteten bereits rund zwanzig Jugendliche. Sie sagten dann zu mir: «Mauro, das darf nicht wahr sein.» Ich organisierte einen Kollegen, der einsprang, während ich den Schlüssel holte. Dann war das Thema erledigt. Wir alle dürfen Fehler machen und müssen nicht perfekt sein. Alles andere löst Stress und Druck aus. Fehler bringen uns ausserdem weiter. Und weiter kommt nur, wer ausprobiert und sich auf Neues einlässt.

 

Haben Sie Tipps, wie wir uns das bewusst machen können?

Wir sollen uns selbst sein und keine Angst vor Interaktionen haben. Ich treffe immer wieder auf junge Menschen, die das Gefühl haben, sie können nichts. Aber das stimmt nicht. Jede und jeder von uns kann sehr viel. So sollten wir auch durchs Leben gehen: Offen, engagiert und hinschauen, wenn jemand Hilfe benötigt. Das bedeutet für mich, den Glauben nicht nur im Kopf, sondern auch im Herz zu tragen. Wir müssen uns auf Dinge einlassen und diese ausprobieren. Wenn von zwanzig Projekten nur zwei oder drei klappen, hat sich das schon mehr als gelohnt.

 

Haben Sie persönliche Beispiele?

Nehmen wir die Fotografie. Neben der kirchlichen Jugendarbeit ist das mein zweiter Beruf. Persönlich habe ich da hohe Ziele, die teils schwer zu erreichen sind. Im Februar reise ich etwa auf die japanische Insel Hokkaido in den Shiretoko National Park. Ich möchte dort einen seltenen Adler fotografieren. Das braucht viel Geduld und es ist nicht garantiert, dass es mir gelingen wird. In dieser Gegend ist es im Winter sehr kalt, es hat kaum Menschen und ich werde allein unterwegs sein. Das erfordert ein gutes Risikomanagement. Um mich darauf einlassen zu können, darf ich mich von der Angst nicht blockieren lassen.

 

Hat sich durch die Kamera Ihr Blick auf die Welt ­verändert?

Die Kamera hat meinen Blick definitiv beeinflusst. Wenn ich mit der Kamera unterwegs bin, schaue ich gezielt und nehme bewusst wahr. Ich nenne das den Weitwinkelblick. Es lohnt sich, mit diesem durchs Leben zu gehen und sich nicht mit dem Erstbesten zu begnügen, sondern zu versuchen, dahinter zu schauen. Folge ich einer Ameise auf dem Boden, wird sie mich zu ihrem Ameisenbau führen, wo es noch viel mehr zu beobachten gibt.

 

Sich drauf einzulassen, ist schwierig. Ich denke an den schnelllebigen Alltag und die gleichzeitige Mehrfach­beanspruchung von uns allen.

Ja. Daher fordere ich, dass wir uns Stress abgewöhnen. Das können wir uns bis zu einem bestimmten Grad auch abtrainieren. Wir müssen lernen, zu entscheiden und zu priorisieren. Haben wir drei Termine gleichzeitig, sind zwei zu viel. Ein Beispiel ist der Firmweg, der hier bald wieder beginnt. Jedes Mal sind einige junge Erwachsene dabei, die keine Zeit für die alle paar Wochen stattfindenden Treffen während des Firmwegs haben. Ich sage ihnen dann: Ihr müsst euch entscheiden und anderes halt absagen. Das fällt vielen zunehmend sehr schwerer.

 

Woran liegt das?

Womöglich an unserer Erziehung. Wir können immer alles haben und vieles wird schon für uns entschieden. Das führt zu Stress. In meiner Jugendarbeit möchte ich einen Gegenpol dazu setzen. Oft höre ich von Jugendlichen: «Was ist, wenn es die falsche Entscheidung ist?» Aber eine falsche Entscheidung ist oft besser als gar keine Entscheidung. Denn wenn man sich nicht bewegt, passiert gar nichts. Respekt und Wertschätzung ist also auch eine Frage davon, ob wir den Menschen im Gegenüber so annehmen, wie er ist, und dabei den Mut haben, Menschlichkeit über Leistung zu stellen.

«Echtes Zuhören»

 

Beatrice Tardino, Sie leiten die Beratungsstelle für Beziehungsfragen in St. Gallen. Wie zeigt sich Wertschätzung in Beziehungen?

Wertschätzung bedeutet, den Partner bewusst wahrzunehmen und kleine Gesten nicht als selbstverständlich abzutun. Das kann ein ehrliches Dankeschön sein, ein Kompliment oder eine kleine Aufmerksamkeit. Zum Beispiel: Nach einem langen Tag dem Partner zulächeln und sagen: «Danke, dass du gekocht hast.»

Beatrice Tardino, Leiterin Beratungsstelle für Beziehungsfragen St. Gallen (Bild: zVg)

Weshalb fühlt man sich in ­einer Beziehung manchmal nicht mehr gesehen?

Häufig schleicht sich mit der Zeit eine gewisse Gewohnheit ein: Kleine Gesten oder Komplimente werden nicht mehr bewusst wahrgenommen. Zudem sprechen Partner oft unterschiedliche «Liebessprachen»: Eine Person zeigt Zuneigung lieber durch Worte, die andere durch Taten oder körperliche Nähe. Wenn dann noch Stress, Sorgen oder zu wenig Austausch dazukommen, entsteht leicht das Gefühl mangelnder Wertschätzung.

 

Wie soll man das ansprechen?

Am besten spricht man es frühzeitig an, wenn sich ein Gefühl fehlender Wertschätzung wiederholt bemerkbar macht. Wichtig ist ein ruhiger Rahmen ohne Vorwürfe. Hilfreich sind Ich-Botschaften wie «Ich fühle mich übersehen, wenn …» statt «Du machst nie …». Konkrete Beispiele machen das Anliegen verständlicher und laden den Partner eher zum Mitfühlen ein.

 

Welche Tipps geben Sie für den Alltag?

Es zählt vor allem das Kleine: ein kurzes «Danke», eine liebe Nachricht oder echtes Zuhören mit Blickkontakt. Auch Körpersprache wie ein Lächeln, eine Berührung im Vorbeigehen oder ein zustimmendes Nicken sind wichtig und können Nähe zeigen. Solche kleinen Zeichen halten Wertschätzung lebendig.

 

Blogbeitrag zum Thema Wertschätzung auf www.beziehungsfragenkath.ch

Nina Rudnicki
Autorin
Veröffentlichung: 10.10.2025