Spitalseelsorge in Corona-Zeiten

«Oft tref­fe ich auf eine gros­se Hilf­lo­sig­keit», sagt Ulri­ke Wolitz, Seel­sor­ge­rin am Spital Grabs, über ihre Begeg­nun­gen mit Covid-19-Patienten. «Sie wurden mitten aus dem Leben und ihren Bezie­hun­gen heraus­ge­ris­sen und sind nun im Spital ganz auf sich geworfen.»

«Bevor ich die Covid-19-Station betre­te, ziehe ich die Schutz­klei­dung an – den Kittel, Hand­schu­he, die Schutz­bril­le», erklärt Ulri­ke Wolitz. Abstand­hal­ten lautet das Gebot der Stun­de – auch Ulri­ke Wolitz hält sich daran. «Doch Seel­sor­ge geht nicht ohne Nähe», hält sie fest, «es muss möglich sein, auch mal die Hand eines Pati­en­ten zu halten.» Sie habe sich bewusst dafür entschie­den, das Risi­ko auf sich zu nehmen und Corona-Patienten zu besu­chen. «Viele sehnen sich nach Kontak­ten, Gesprä­chen und einem Gegen­über, das ihnen nicht primär den Pati­en­ten, sondern den Menschen sieht.» Sie selbst habe deswe­gen die priva­ten Kontak­te fast komplett einge­schränkt, um nieman­den in ihrem persön­li­chen Umfeld zu gefährden.

Auf sich zurückgeworfen

«Bei vielen Corona-Erkrankten, die im Spital behan­delt werden, hat sich die Erkran­kung sehr schnell zuge­spitzt», so Ulri­ke Wolitz. «Eben noch zuhau­se, liegen sie jetzt im Spital, sind isoliert und dürfen keinen Besuch empfan­gen.» Man sei auf sich zurück­ge­wor­fen. «Für viele ist es eine unge­wohn­te Situa­ti­on, mit sich allei­ne und ganz ohne Kontak­te zu sein.» Beson­ders für Männer sei das oft eine unge­wohnt emotio­na­le Heraus­for­de­rung. «Mir sind in der Seel­sor­ge noch nie so viele weinen­de Männer begeg­net.» Oft reisst die Corona-Erkrankung Lebens­ge­mein­schaf­ten ausein­an­der. Nicht selten landen beide Part­ner im Spital – je nach Schwe­re der Erkran­kung jeder in einem ande­ren Zimmer. «Da ringt man um sein Leben und weiss nicht, wie es der Part­ne­rin geht.»

Eine exis­ten­ti­el­le Krise

In den Seel­sor­ge­sprä­chen thema­ti­sie­ren Corona-Erkrankte die Ängs­te, die sie beschäf­ti­gen: «Viele belas­tet die Angst, nicht mehr ins alte Leben zurück­zu­kön­nen. Sie reali­sie­ren, dass plötz­lich nichts mehr so ist wie es mal war. Was, wenn es nie mehr so sein wird?» Ulri­ke Wolitz ist auch als Seel­sor­ge­rin in der Reha-Klinik Walen­stadt­berg tätig. So bekommt sie bei manchen Pati­en­ten mit, wie schwer der Weg zurück in einen norma­len Alltag ist. «Nicht weni­ge bezeich­nen die Covid-19-Erkrankung als das schlimms­te, was ihnen im Leben wider­fah­ren ist.»

Hoff­nung teilen

Die Spital­seel­sor­ge­rin besucht auch Covid-19-Patienten, die ins künst­li­che Koma versetzt wurden. «Rück­mel­dun­gen von ehema­li­gen Koma-Patienten weisen darauf hin, dass manche auch im Koma eini­ges von der Umge­bung mitbe­kom­men», vermu­tet Ulri­ke Wolitz, «Eine Pati­en­tin hat mir erzählt, dass sie ihre Toch­ter am Kran­ken­bett gehört hat: Mutter, du schaffst es. An diese Zusa­ge hat sie sich geklam­mert.» Die Seel­sor­ge­rin setzt sich ans Bett, hält die Hand des Pati­en­ten. «Ich versu­che ihm zu vermit­teln, dass ich die Hoff­nung teile.» Um den Pati­en­ten persön­lich anspre­chen zu können, halte sie im Zimmer aufmerk­sam Ausschau: «Wenn ein Bild der Enkel­kin­der neben dem Bett steht, spre­che ich mit dem Pati­en­ten darüber.» Manch­mal singe sie auch. «Ich über­le­ge mir, welches Lied dieser Person vertraut sein könn­te oder mit welchem sie schö­ne Erin­ne­run­gen verbin­det.» Dabei sei sie auch auf die Hinwei­se der Ange­hö­ri­gen ange­wie­sen. «Ich achte die Würde jedes Pati­en­ten. Ein Gebet oder einen Segen wage ich aus Respekt gegen­über dem Pati­en­ten nur, wenn ich weiss, dass er im Glau­ben verwur­zelt oder ein prak­ti­zie­ren­der Christ ist.» Ulri­ke Wolitz und ihre refor­mier­te Kolle­gin versu­chen sehr aufmerk­sam wahr­zu­neh­men, wo und wie ihre Hilfe gefragt ist. «Wir sind aber auch sehr dank­bar, wenn Ange­hö­ri­ge uns anspre­chen», sagt sie, «viele sind sich nicht bewusst, dass sie mit mir Kontakt aufneh­men können: Meine Mutter, mein Vater würde sich über einen Besuch von Ihnen freuen.»

Kontak­te ermöglichen

In den letz­ten Mona­ten war Ulri­ke Wolitz auch als «Vermitt­le­rin» zwischen Covid-19-Patienten und Ange­hö­ri­gen im Einsatz. Mal habe sie ein Tele­fon orga­ni­siert, mal einen Brief auf die Stati­on gebracht. «Da kann es auch sein, dass ich für eine Kran­ken­sal­bung den Tele­fon­kon­takt orga­ni­sie­re, sodass der Ehepart­ner zuhau­se trotz Quaran­tä­ne dabei sein kann.» In den Medi­en war in den letz­ten Mona­ten oft zu hören, dass vielen die Möglich­keit verwehrt blieb, sich von ihren ster­ben­den Ange­hö­ri­gen zu verab­schie­den. «Ich bin dank­bar, dass man sich am Spital Grabs bemüht, indi­vi­du­el­le Lösun­gen im Sinn der Mensch­lich­keit zu finden», so Wolitz, «dieser huma­ne Umgang ist im Inter­es­se aller Beteiligten.»

Besser erkenn­bar

Ulri­ke Wolitz ist seit 2011 als Spital­seel­sor­ge­rin tätig. Seit der Corona-Pandemie tragen auch die Seel­sor­ge­rin­nen Pfle­ge­klei­dung. «So erken­nen die Pati­en­ten und auch das Perso­nal auf den ersten Blick, dass wir Mitar­bei­ten­de des Spitals mit einem offi­zi­el­len Auftrag sind – und keine exter­nen Besu­che­rin­nen», erklärt Ulri­ke Wolitz. Einer­seits habe dies gehol­fen, die Rolle noch­mals neu zu schär­fen, ande­rer­seits lege man mit der Uniform auch einen Teil der Persön­lich­keit ab. Die Uniform helfe ihr aber auch, Abstand von ihrer Rolle als Spital­seel­sor­ge­rin zu finden. «Durch die Corona-Pandemie ist auch unse­re Aufga­be anspruchs­vol­ler und belas­ten­der gewor­den.» Als Ausgleich spielt sie abends zuhau­se Flöte oder liest Krimis. «Dadurch kann ich abschal­ten und Abstand gewin­nen. Doch die Schick­sa­le lassen einen trotz­dem nicht los.» Kraft gebe ihr das Bewusst­sein, dass jede Begeg­nung mit Mitmen­schen auch eine Begeg­nung mit Gott sei. «In meinen Begeg­nun­gen mit den Pati­en­ten mache ich mir bewusst, dass Gott gera­de auch an der Seite der Leiden­den ist. Das ist eine wich­ti­ge Grund­la­ge für mich.»

Stephan Sigg

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