Trügerische Erinnerungen

«In jeder Familie gibt es Geschichten, die nicht ausgesprochen wurden», sagt Schwester Maria Veronika Kucharova aus dem Kloster Magdenau bei Flawil SG. Sie erzählt, warum Ahnenforschung wichtig ist und auf welche Fotos sie beim Stöbern im Klosterarchiv gestossen ist.

Wenn sie spricht, hört man das Bedauern aus Schwester Maria Veronika Kucharovas Worten heraus: «Ich bereue es sehr, dass ich meine Grosseltern nicht mehr ausgefragt habe. Ich weiss leider sehr wenig über sie», sagt sie. Als sie noch ein Kind war, hätten diese oft von der Grosstante erzählt. «Damals hat mich das nicht interessiert. Heute tut mir das leid. Ich wüsste gerne mehr über die Vergangenheit meiner Vorfahrinnen und Vorfahren.» Die verpassten Gespräche mit ihren Grosseltern kann sie nicht nachholen. Längst sind sie verstorben. Die Erinnerungen behält die seit 1993 im Kloster Magdenau in Wolfertswil lebende Ordensschwester allerdings gerne präsent. «Ich weiss zum Beispiel, dass mein Grossvater, wir sind von Tschechien, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Student in Bayern war. Später musste er einrücken. Irgendwann habe ich gehört, dass er öffentlich von einem Nazi eine Ohrfeige erhalten hat. Aber ich weiss weder, wo er stationiert war, noch, wieso er geohrfeigt wurde. In jeder Familie gibt es solche Geschichten, die nicht ausgesprochen wurden. Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, unseren Nachkommen etwas zu hinterlassen.»

Schwester Maria Veronika Kucharova stöbert gerne im Archiv des Klosters.

Wichtige Dokumente

Die lebensfreudige und kommunikative Ordensschwester ist im Kloster Magdenau für das Archiv zuständig. Sie macht diese Aufgabe mit grosser Freude und vollem Elan. «Ich versuche, meine Alltagsaufgaben so gut wie möglich zu erfüllen. Die übrige Zeit verbringe ich im Archiv.» Dort findet Schwester Veronika immer wieder wichtige Dokumente aus der Vergangenheit. Im vergangenen Jahr etwa stiess sie auf 30 Theaterstücke aus den Jahren 1937 bis 1947 über den Klosteralltag, die schliesslich zur Aufführung gebracht wurden (vergleiche Pfarreiforum vom Dezember 2024). Und kürzlich weckten Portraitaufnahmen von Frauen Schwester Veronikas Neugierde. «Ich habe sofort begonnen, deren Lebensläufe zusammenzustellen.» Am Schluss sind 24 Biografien von Ordensschwestern entstanden, die das Kloster in einer Ausstellung der Bevölkerung zugänglich gemacht hat.

 

Verschwommene Erinnerungen

«Ich forsche gerne über unsere früheren Mitschwestern. Das ist unsere DNA. Ich betreibe also auch Ahnenforschung», sagt Schwester Veronika. Sie vergleicht ein Kloster mit einer Familie: «Es hat eine eigene Prägung. Indem wir unsere Vorfahrinnen und Vorfahren kennenlernen, oder in meinem Fall meine früheren Mitschwestern, lernen wir auch uns selbst besser kennen.» Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen, die in Archiven stöbern und arbeiten, würden manchmal feststellen, dass Erinnerungen nicht immer ganz verlässlich sind. «Als Kind kam mir meine Heimatstadt riesig vor. Als ich vor einigen Jahren wieder einmal da war, merkte ich, wie klein sie eigentlich ist. Wenn wir uns zurückerinnern, heisst das nicht, dass die Realität auch wirklich so war. Ahnendokumente sind wichtig, um Geschichten richtig einzuordnen.»

Das Archiv des Klosters ­Magdenau umfasst gemäss Schwester Maria Veronika ­Akten und Dokumente über Gebäude oder Personen mit Bezug zum Kloster.

Verantwortung übernehmen

Seit einigen Jahren ist der Grossteil des Klosterarchivs digitalisiert und über das Staatsarchiv öffentlich zugänglich. Das Kloster bekommt seither noch etwa zwei bis drei Anfragen von Privatpersonen pro Jahr. Schwester Veronika hilft bei solchen Anfragen gerne. «Vor zwei Wochen kam eine Frau zu mir, die beim Ordnen des Nachlasses der Eltern ein Fotoalbum mit Bildern einer Ordensschwester gefunden hatte. Sie kannte weder die Schwester noch den Ursprung des Fotoalbums. Ich habe dann in den Akten gesucht und wir haben herausgefunden, dass sie mit der Schwester verwandt ist.» Als Kloster sei das Führen eines Archivs eine Verantwortung gegenüber ihren Nachfahrinnen und Nachfahren. «Ein Kloster ist nie nur für sich da. Natürlich für Gott, aber eben auch für alle Menschen. Es ist wichtig, dass wir die Zeitzeugnisse wahren und unserer Verpflichtung nachkommen.»

 

Bild: Ana Kontoulis

Vor einem Jahr entdeckte Sr. Veronika im Archiv Theaterstücke - siehe Beitrag unten.
Alessia Pagani
Autorin
Veröffentlichung: 03.11.2025