Mit dem Velo auf Fluchtwegen

Der Veloweg «Über die Grenze» erzählt von Fluchtgeschichten von Vorarlberg in die Schweiz während des Zweiten Weltkrieges. Nun gibt es neue Hörstationen.

 

Es ist idyllisch im Naturschutzgebiet zwischen Diepoldsau und dem österreichischen Hohenems. Alles lädt dazu ein, dort am Alten Rhein seine Seele baumeln zu lassen. Es gibt versteckte Wege, grosse Schatten spendende Bäume und kleine Uferböschungen. Für viele Menschen  war dies während des Zweiten Weltkrieges aber einer der wenigen Orte, an denen sie eine Flucht in die Schweiz wagen konnten. Ab 1938 waren die Grenzen zu. Von Verzweiflung, Hoffnung und Mut erzählen 65 als Grenzsteine markierte Hörstationen entlang der österreichischen Veloroute Nr. 1 von Lindau bis nach Partenen im Montafon. Den Veloweg «Über die Grenze» hat das Jüdische Museum Hohenems 2022 initiiert.

 

 

 

Gerade bei Hohenems sind in diesem Jahr viele neue Hörstationen dazugekommen. Es ist beispielsweise 2.30 Uhr in der Nacht, als es der Wienerin Paula Brecher 1942 gelingt, den Stacheldrahtverhau vor dem Diepoldsauer Schwimmbad zu überwinden. Die Jüdin schleicht den Drahtzaun des Schwimmbads entlang, überwindet nördlich des Bads ein seichtes Gewässer und wird bald darauf von einer Schweizer Grenzwache angehalten. Sie hat es in die Schweiz geschafft. Nur einen Tag später müssen ihre Eltern Wien verlassen. Sie werden in das Lager Theresienstadt deportiert. Paula Brecher wird sie nicht wiedersehen. Ihre Jahre in der Schweiz sind geprägt von Existenzangst und dem Kampf um Aufenthaltsbewilligung.

 

Mit dem Traktor geflüchtet

 

Nur wenige Meter weiter erzählt ein ebenfalls neuer Grenzstein von der Geflüchteten Margarethe Eder. Die Fabrikarbeiterin und Kommunistin aus Graz erzählt auf dem Polizeiposten in Diepoldsau von der illegalen Produktion von Giftgasbomben durch die Anorgana GmbH, unter dem Deckmantel der Bayrischen Stickstoffwerke. Sie hat sich während ihrer Flucht Erfrierungen 1. Grades zugezogen und muss ins Kantonsspital. Schliesslich wird sie ins Internierungslager Brissago für politische Flüchtlinge geschickt, wo sie aber nie ankommt. Belegt ist, dass sie 1944 in Berlin wegen Spionageverdachts zum Tode verurteilt und hingerichtet wird. Und da ist die Geschichte von Jerzy Nachtman, der sich mittels eines Traktors als Feldarbeiter ausgab. Er erzählt: «Als die Deutschen merkten, dass ich arbeitete, haben sie nicht aufgepasst. Ich bin zwischen den Wachposten unter dem Damm hochgefahren, ich habe den Traktor verlassen, der Motor stotterte, ich sprang auf den Damm, und ich wusste nicht, dass hinter dem Damm Drähte waren, Böcke mit Stacheldraht, aber in der Angst habe ich mich losgerissen, bin rübergesprungen und schon war ich in der Schweiz.»

Ob als Gruppe oder spontan alleine unterwegs: Die Fluchtgeschichten der Hörstationen lassen sich mittels QR-Code anhören. Regelmässig gibt es auch Führungen wie etwa auf den einstigen Fluchtwegen am Alten Rhein in Hohenems.

 

 

Heimat in Nebelfetzen

 

Die Hörstationen dokumentieren nicht nur die Schicksale der Geflüchteten, sondern vermitteln auch einen Einblick in die damalige Grenzpolitik. Und sie zeigen die Rolle alle jener Helferinnen und Helfer auf, die die Flüchtenden unterwegs unterstützten. Auch sie taten dies unter Lebensgefahr. 80 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangenen. Vieles gerät in Vergessenheit. Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, ist, sich auf den Veloweg oder auf ein Stück davon zu begeben. Zum Beispiel von Hohenems zum Bodensee bis nach Lindau. Mit Rückenwind und schneller Geschwindigkeit auf dem Rheindamm unterwegs, fühlt man sich frei und glücklich. Ein Gefühl, das sich während der Heimfahrt mit dem Kursschiff von Lindau nach Rorschach und der Abendsonne im Gesicht fortsetzt. Die Gedanken kehren aber auch zurück zu Ruth Guggenheimer, von deren Schicksal man in Lindau an der letzten respektive ersten Station des Velowegs erfährt. In einem Roman hat sie ihren Weg in die Freiheit, über Lindau und den Bodensee, nach Rio de Janeiro niedergeschrieben. Als das Schiff die Hafenausfahrt verlässt, «brennen die Tränen in ihren Augen und laufen ihr unaufhaltsam übers Gesicht. Sie vermischen sich mit den Nebelfetzen, die das Schiff, den Leuchtturm und ihre Heimat einhüllen».

 

Infos zum Veloweg: ueber-die-grenze.at

 

 

Bilder: Walser Fotografie und Florian Trykowski

 

Nina Rudnicki
Autorin
Veröffentlichung: 02.09.2025