Alleine schon die Fahrt nach Amden lohnt sich. Das Postauto schlängelt sich die steile Strasse durch Felsengalerien hinauf. Unten glitzert der Walensee silbrig-grau im Novemberlicht. Das Dorf selbst auf rund 950 Metern über Meer steckt im Nebel fest. Hinter dem Kirchturm ragt eine schneebedeckte Bergspitze aus den Wolken. Knapp erkennbar ist auch der alte Sessellift am dorfseitigen Hang, der das kleine Skigebiet erschliesst. «Wir leben hier vor allem von den Tagestouristinnen und -touristen», sagt Rolf Böni. Der 59-Jährige ist Mesmer in der Galluskirche. Diese ist für ihre Ammlerkrippe über die Region hinaus berühmt. Auch dank Rolf Böni. Während des ganzen Advents ist er hinter den abgeschlossenen Türen der Kirche damit beschäftigt, den Chor- und Altarraum auszuräumen und die riesige deckenhohe Krippenlandschaft aufzubauen. Jedes Jahr entwirft er die Kulisse komplett neu. Zuvor ist er während der warmen Monate in den Wäldern, Bergen und auf den Alpwiesen der Region unterwegs, um geeignete Wurzelstöcke, Baumstämme, Moose, Flechten, Disteln und viele weiteren Dinge zu sammeln oder mit einem Landwirtschaftsfahrzeug samt Kran abzutransportieren. Überraschung ist am 24. Dezember: Ab dann fahren Reisebusse aus Österreich, Deutschland, Italien und verschiedenen Schweizer Regionen den kleinen Ort mit gut 1800 Einwohnerinnen und Einwohnern an, um die Ammlerkrippe zu bestaunen.
Natur als Schatzkammer
«Die Natur zu durchstreifen und die Augen nach geeigneten Dingen offen zu halten, ist beinahe eine Sucht geworden», sagt Rolf Böni und erzählt, wie er bereits im Frühling zu ersten Streifzügen in das Gebiet vom Unteren Toggenburg bis zu den Gipfeln von Speer, Leistchamm und Mattstock aufbricht. «Dann wachsen noch keine Farne und man sieht durch das Dickicht hindurch.» Entdeckt Rolf Böni etwas Geeignetes, markiert er auf seinem Smartphone die Koordinaten. Im Spätsommer und Herbst kommt er mit einem Transportfahrzeug an diesen Orten vorbei. Kurz vor dem Advent liegen viele der Materialien draussen vor der Kirche bereit, die er aus den Bergen herbeigeschafft hat. So lagert auch in diesem Jahr ein riesiger Baumstamm auf zwei Paletten. Er ist von unzähligen kleinen Tannen überwachsen. Hinter dem Pfarrhaus hat er die Kisten voller Moos deponiert und gleich vor der Kirchentür liegt auf einem Palettenhubwagen ein abgesägter und ein Tonnen schwerer Wurzelstock. «Manchmal sind meine Fundstücke so gross, dass sie nicht durch die Tür passen. Dann bleibt nur das Zersägen und anschliessende Zusammensetzen in der Kirche», sagt er. Das Konzept und die Pläne für die Krippe entstehen jeweils während Rolf Böni in der Natur unterwegs ist. «In manchen Jahren entdecke ich besonders schönes Silbergraues in der Natur. In anderen Jahren finde ich mehr Grünes und Moosiges. So setzt sich in meinem Kopf jeweils das Krippenbild zusammen und ich weiss genau, wie es aussehen wird», sagt er. Die Krippe baut er grösstenteils alleine zusammen, manchmal bieten ihm Personen aus dem Dorf Hilfe an. Bei den schweren Arbeiten kann er auf die Unterstützung von seinen Brüdern und Kollegen zurückgreifen. Die Kabel verlegen, die Lampen anbringen, dekorieren, die Pumpanlage für den kleinen künstlich Bach anlegen, der in jedem Jahr durch die Kirche fliesst: Auch das gehört zu seiner Arbeit. Ist alles aufgebaut, kommt das tägliche Besprühen und Giessen hinzu. «Sonst würde die Krippe innert Tagen braun und vertrocknet aussehen», sagt er. Generell hat die Ammlerkrippe seinen Blick geschärft. Etwa für Kleines und scheinbar Unscheinbares. Sind die Krippenbesucherinnen und -besucher weg, erwacht das Nachtleben. Da kriechen kleine Schnecken, marschieren Ameisen, zeigen sich Käfer und Spinnen. Er staune regelmässig darüber, wie viel Leben in einem toten Baum stecke. Weil ein toter Baum also nicht wirklich tot ist, geht er mit allen anderen Dingen, die sich Rolf Böni von der Natur ausgeborgt hat, auch wieder dorthin zurück. «Es ist nachhaltig, die Dinge zurück in ihren Kreislauf zu geben», sagt er.
Altholz und Wurzelstöcke
«Alles nur morsche, verwurmte Ware»: So hat Rolf Böni gedacht, als er 2016 zusammen mit seinem Vorgänger Beat Gmür, dem Initianten und Architekten der Ammlerkrippe, mit dem Krippenbau begonnen hat. 1997 entwickelte dieser zusammen mit dem damaligen Pfarrer und vielen Helferinnen und Helfern aus Amden das Konzept und die kreative Umsetzung. «Jetzt mach einfach mal», habe Gmür ihn angewiesen, wenn er in Altholz und Wurzelstöcken eben nur Unbrauchbares gesehen habe. «So haben sich über die Jahre ein Gefühl und ein Blick für diese ganzen Naturmaterialien entwickelt und heute bin ich absolut fasziniert», sagt Rolf Böni. Er führt hinauf in den Kirchturm. In einem Regal hat er dort Disteln ausgebreitet. Sie brauchen Licht und Kälte, um haltbar zu bleiben. In einem dunklen Nebenraum zieht er einen dicken Vorhang vor einem Regal zur Seite und leuchtet mit seinem Smartphone hinein. Füchse, Rehkitze, Eulen, Eichhörnchen und viele weitere ausgestopfte Tiere kommen zum Vorschein. Für sie alle findet Rolf Böni jeweils einen Platz in der Krippenlandschaft. «Alle diese Tiere sind bei Unfällen oder deren Folgeverletzungen gestorben, wurden von Jägern und Privatpersonen gefunden und stammen aus deren Sammlungen», sagt er. «Heute will kaum jemand noch ausgestopfte Tiere zu Hause haben. Aber in der Ammlerkrippe finden sie alle einen Platz und vor allem die Kinder haben ein Riesenfreude daran, nach den Tieren Ausschau zu halten.» Ein besonderer Schatz sind auch die 19 im Schnitt einen Meter grossen, handgeschnitzten Krippenfiguren aus dem Südtirol. Sie lagern unten im Kirchenraum im ehemaligen Beichtzimmer. Bald 30 Jahre alt, haben sie mittlerweile einen schönen Sammlerwert.
Dorf im Weihnachtsfieber
Weit über 10 000 Besucherinnen und Besucher sind es, die die Krippe im Zeitraum zwischen 24. Dezember und dem letzten Januarwochenende jedes Jahr besuchen. Davon profitiert das ganze Dorf. Rolf Böni führt zum überdachten, öffentlichen Parkplatz gegenüber der Kirche. Im hinteren Teil hat er sein Holzlager eingerichtet. Aus alten Brettern hat er einen Stall für die Krippenfiguren gezimmert. «Finde ich in der Natur keine geeignete Wurzel, die ich als Krippe nutzen kann, zimmere ich jeweils einen Stall», sagt er. Die Arbeit liegt ihm. Er ist gelernter Schreiner. In seinem Leben hat er aber vieles ausprobiert und als Lastwagenfahrer, Hausabwart, Poststellenleiter und Kundenberater bei einer Bank gearbeitet. In Amden aufgewachsen, hat er sich ausserdem als Kirchenpräsident engagagiert und sich zuletzt auf die Stelle als Mesmer beworben. «Ich suchte eine Arbeit, die näher bei den Menschen dran ist», sagt er und erzählt, wie es ihm zunehmend schwerer gefallen ist, in einem System zu arbeiten, in dem jene immer mehr bekommen, die bereits viel Geld haben, während jene vergessen gehen, die wenig oder nichts besitzen.
Sehnsucht nach der Stille
Nächstenliebe, Mitgefühl, Dankbarkeit und Rücksicht: Diese Werte machen Weihnachten aus. Die Fest der Geburt Jesu erinnert daran, innezuhalten, füreinander da zu sein, Wärme zu schenken und den Blick auch auf Kleines, Vergessenes und Unscheinbares zu richten. Für Rolf Böni ist Weihnachten daher die Zeit der Ruhe, der Stille und der Familie. Darauf freue er sich, wenn er in einigen Jahren pensioniert werde. Für ihn ist klar, dass er die Verantwortung für die Ammlerkrippe dann abgeben wird. «So gern ich nebst meiner Arbeitszeit meine Freizeit in das Projekt stecke, so sehr sehne ich mich nach einem stressfreien Advent und ruhigen Weihnachten», sagt er. Zwei bis drei Tage vor Heiligabend möchte Rolf Böni jeweils mit dem Krippenaufbau fertig sein. So bleibe ihm die Musse, noch einmal auf die kleinen Details achten zu können, bevor sich die Türen der Kirche öffnen. Viel zurück und vor allem Energie geben ihm der Dank und das Staunen der Besucherinnen und Besucher: Über eine Krippe, die in dieser Dimension und mit jährlich neuem Konzept einzigartig in der Schweiz ist.
Gewusst: Die erste Weihnachtskrippe geht auf Franz von Assisi zurück, den Begründer des Franziskanerordens. 1223 stellte er im italienischen Ort Greccio eine Krippe auf, um die Geburt Jesu anschaulich zu machen. Mit Stroh, lebenden Tieren und Menschen wollte er die Demut und Armut Christi anschaulich vermitteln. In dieser ersten Krippe liegt der Ursprung der heutigen weltweiten Tradition, Krippen in Kirchen und Häusern aufzustellen.