Wie über den Nahostkrieg sprechen, ohne dass es gleich eskaliert? Anna Rosenwasser, Nationalrätin aus Zürich, und Milena Hasselmann, evangelische Pfarrerin in Jerusalem, erleben den Nahostkrieg aus nächster Nähe – die eine emotional, die andere geografisch. Was raten sie?
«Ich habe es gepostet, weil ich mich einsam fühlte», sagt die SP-Nationalrätin Anna Rosenwasser vor Kurzem in einem Artikel auf watson.ch. «Und weil mich traurig macht, wie wir über Kriege reden.» Anna Rosenwasser nimmt Bezug auf ihre Story über eine Nachricht eines Familienmitglieds aus Israel. Diese ruft Mitgefühl hervor – und Hass. Sie erhält antisemitische Nachrichten, Beleidigungen. «Seit eineinhalb Jahren ist das viel schlimmer geworden.» Aber auch ein Mensch mit Familie im Iran meldet sich – und sagt: Ich verstehe dich. «Das hat mir sehr geholfen. Es hat mir gezeigt: Ich bin nicht alleine.»
Das Thema ausschweigen?
Seit dem 7. Oktober vor bald zwei Jahren hat sich die Lage im Nahen Osten stark zugespitzt. Der Angriff der Hamas-Terroristen auf israelische Zivilistinnen und Zivilisten forderte über 1200 Todesopfer. Israels militärische Reaktion hat seither Tausende Menschen im Gazastreifen das Leben gekostet. Die Gewalt setzt sich fort und überall wird debattiert über Verantwortung, Sicherheit und Mitgefühl: online, am Stammtisch, in der Familie … Oft eskaliert es schnell. Still bleiben und das Thema ausschweigen? Ist das wirklich eine Option, wenn einen die Ereignisse im Nahen Osten so sehr beschäftigen?
Pro Menschlichkeit
Auf diesen Punkt geht auch Anna Rosenwasser im watson-Artikel ein. «Ich habe es satt, dass Kriegskonflikte behandelt werden wie ein Hockeyspiel. Als ginge es darum, für ein Team zu sein und gegen das andere. Es ist kein Spiel, es sterben Menschen. Im Falle von Gaza Zehntausende, darunter Tausende von Kindern.» Sie widerspricht der Idee, man müsse sich entscheiden – pro Palästina oder pro Israel. «Ich bin pro Menschlichkeit. Dafür, dass wir in der Schweiz uns für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einsetzen müssen und dass Zivilistinnen geschützt werden – und zwar überall: in Gaza, in Israel, und in Iran.» In den sozialen Medien würden Positionen gefordert, bevor man nachdenken könne. Sie belohnen Reaktion statt Reflexion, sagt Rosenwasser. «Viele Menschen glauben, sie müssten sofort eine Haltung nach aussen tragen. Aber manchmal hat man keine Meinung – sondern nur Gefühle. Sich eine Haltung zu erarbeiten, darf Zeit brauchen.» Aber in menschenfeindliche Haltungen zu verfallen, nütze den Kriegsbetroffenen nichts. Anna Rosenwasser sagt nicht: Entscheidet euch für Israel. Oder für Gaza. Sie sagt: «Entscheidet euch für die Zivilbevölkerung. Für Empathie. Für Würde.» Denn Mitgefühl sei das Letzte, was bleibe – und das Minimum an Menschlichkeit.
Mehr Perspektiven anhören
In Jerusalem lebt die evangelische Pfarrerin Milena Hasselmann. Ihre Kirche liegt in der Altstadt, in kurzer Distanz zu jüdischen, muslimischen und christlichen Heiligtümern. Im Interview mit dem evangelischen Onlinemagazin Sonntagsblatt.de erzählt sie von ihrem Alltag zwischen Sirenen, Schutzräumen und Ausnahmezustand. Sie beschreibt, wie schwer es ist, inmitten von Spannungen und Ängsten als Kirche präsent zu bleiben. «Die Menschen, die jetzt noch da sind, sind auf verschiedene Weisen fest in der Region verwurzelt und somit auch mit den Themen und Konflikten verbunden», sagt sie. Das Besondere an ihrer Kirche sei das gemeinsame Gebäude mit der palästinensischen Partnerkirche, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und dem Heiligen Land. «Viele unserer Gemeindeglieder arbeiten in Kontexten, in denen sie stark in palästinensisch-christliche Zusammenhänge eingebunden sind», sagt sie. Deshalb sei die Konfliktlage auch in der Gemeinde spürbar. Doch die Menschen versuchen, die verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen: nicht Palästinenser und Israelis sitzen nebeneinander, sondern Menschen, die mit etwas mehr innerer Distanz dieses Nebeneinander aushalten können. In der Gemeinde passiere etwas, das andernorts kaum mehr möglich ist – die Wahrnehmung der jeweils anderen Seite. Im internationalen Diskurs geht Milena Hasselmann das Urteilen und Stellungbeziehen hingegen oft zu schnell. Sie sagt: «Bei manchen Diskussionen oder auch Demonstrationen frage ich mich auch: Worum geht es hier eigentlich? Geht es um die Menschen vor Ort oder werden hier stellvertretend andere Debatten geführt? Geht es um echtes Interesse oder um das Gefühl, ja den Wunsch, auf der richtigen Seite zu stehen?» Sie rät, sich dieser Komplexität zu stellen, indem man sich beispielsweise mehr Sichtweisen anhört, als man geplant hatte. Damit gehe der Mut zur eigenen Verunsicherung einher. Zugleich befreie man sich vom Zwang, sich ständig positionieren zu müssen und zu allem etwas sagen zu wollen.
Text: Nina Rudnicki
Bilder: pixabay.com, wikimedia.org, zVg
Veröffentlichung: 5. August 2025