Editorial

Sonntags fiebere ich manchmal mit Julia Leischik mit, die in «Bitte melde dich» Familien zusammenführt. Die 55-Jährige reist auf ihren Reunion-Missionen um die ganze Welt, löchert Beamtinnen und Beamte und befragt ehemalige Nachbarn. Beim Wiedersehen kullern die Tränen – immer bei den Menschen vor der Linse, oft auch bei mir vor dem Fernseher. Die Schicksale berühren. In der TV-Sendung sind es häufig Kinder, die ein Elternteil suchen. Die Begründung ist oft dieselbe: «Ohne die Person fehlt ein Teil von mir». Wie die Protagonistinnen und Protagonisten im Fernsehen sind auch im «analogen» Leben immer mehr Menschen auf der Suche nach ihren Wurzeln. Ahnenforschung boomt. Wir möchten wissen, wer unsere Ururgrosseltern waren, um zu verstehen, warum wir sind, wer wir sind und wie wir sind. Heute sind viele Archive digitalisiert und die Recherche ist auch für Privatpersonen einfach. Wer die nötige Zeit aufwendet, kann ganze Stammbäume nachzeichnen. Je tiefer wir in die Vergangenheit eintauchen, umso grösser ist aber auch die Gefahr, auf Überraschungen zu stossen. Nicht immer stimmt das über Jahre Erzählte mit der Realität überein. In vielen Familien gibt es Geheimnisse. Sie aufzudecken, kann dazu führen, dass wir unsere Geschichte neu schreiben müssen.

Alessia Pagani
Autorin
Veröffentlichung: 27.10.2025