«Ich hatte einen Schutzengel»

Auch mit 87 Jahren spricht die Holocaust-Überlebende Agnes Hirschi an Schulen über ihr Überleben im Holocaust. Ihr späterer Ziehvater Carl Lutz, geboren in Walzenhausen, rettete als Vize-Konsul in Budapest Zehntausende von Jüdinnen und Juden. «Dass jetzt ein Pop-up-Museum in Walzenhausen an ihn erinnert, hätte ihn sehr glücklich gemacht», sagt die Bernerin.

«Dass ich den Holocaust in Budapest zusammen mit meiner Mutter überlebt habe, verdanke ich dem Schweizer Diplomaten Carl Lutz. Er war mein Schutzengel», sagt Agnes Hirschi im breiten Berner Dialekt. «Ich habe ihm auf seinem Totenbett versprochen, dass ich über seine Rettungsaktion informieren werde.» Das tut sie seit 20 Jahren – mit Ausstellungen, Vorträgen, wie zum Beispiel am 4. Dezember in Altstätten (siehe Kasten), und Schulbesuchen in der ganzen Schweiz. «Diese Begegnungen stimmen mich immer sehr glücklich», sagt sie. «Oft sitzen in der Aula Hunderte von Jugendlichen und es ist eine Stunde lang mucksmäuschenstill. Sie sind von meinen Schilderungen sehr bewegt, die Betroffenheit ist gross.»

 

Im Keller versteckt

Als Tochter jüdischer Eltern in England geboren, wuchs Agnes Hirschi in Budapest auf. «Als Kind wusste ich nicht, dass ich jüdisch bin», sagt sie. Die Mutter arbeitete als Hausdame in der Schweizer Botschaft. Carl Lutz konnte sie und ihr Kind so vor der Verfolgung durch die Nazis und ungarische Faschisten schützen. Als Sechsjährige erlebte sie die starken Bombardierungen in Budapest mit. Sie versteckte sich mit ihrer Mutter und rund 30 Personen im Keller der Residenz des damaligen Schweizer Vizekonsuls. Das Haus wurde total zerstört, die Menschen überlebten. Die heute 87-Jährige, die bis zur Pensionierung als Journalistin gearbeitet hat, sagt über ihren Ziehvater: «Was Carl Lutz machte, war lebensgefährlich. Ich hätte wahrscheinlich diesen Mut nicht gehabt.»

 

Zehntausende gerettet

Carl Lutz gelang es, 10 000 jüdische Kinder ins britische Mandatsgebiet Palästina auswandern zu lassen. Es waren Kinder von Eltern, die in Konzentrationslagern umgekommen waren, so Agnes Hirschi. Er organisierte zudem in Ungarn rund 70 Schutzhäuser, in denen gut 20 000 Jüdinnen und Juden Zuflucht fanden. Carl Lutz heiratete nach dem Krieg die Mutter von ­Agnes Hirschi und zog mit ihnen in die Schweiz. «Er hat seine Ostschweizer Heimat immer vermisst», weiss sie, «als wir nach dem Krieg in die Schweiz kamen, haben wir sofort die Meldegg besucht, dieser Ort war für ihn sehr wichtig.»

Auch Agnes Hirschi besuchte das Pop-up-Museum.

Eine gelungene Ausstellung

Aktuell erinnert ein Pop-up-Museum in Walzenhausen an den Ostschweizer Lebensretter. «Die Ausstellung ist sehr gelungen und sympathisch gemacht», sagt Agnes Hirschi. Das Museum – konzipiert von der Gamaraal-Stiftung – zeige eindrücklich und differenziert das Engagement von Carl Lutz und wie gross seine Zivilcourage war. Zu sehen sind viele persönliche Exponate und auch Möbel von Carl Lutz. «Ich hoffe, dass die Einrichtung in Zukunft wächst und besonders auch viele Jugendliche und Schulen erreicht.» Zwar werde das Museum Ende des Jahres geschlossen, aber es gebe Pläne für eine Weiterführung in anderen Räumlichkeiten. Noch sei nichts definitiv, aber Agnes Hirschi zeigt sich zuversichtlich. «Ich finde es sehr wichtig, dass man sich an diese Zeit erinnert», so die Holocaust-Überlebende. Bei ihren Vorträgen möchte sie vor allem auf eines aufmerksam machen: «Man darf nicht vergessen, was passiert ist und dass Millionen unschuldige Menschen gequält und umgebracht wurden. Aber genauso sollen Jugendliche erfahren, dass es mutige Menschen wie Carl Lutz gab, die Zivilcourage bewiesen und sich für Menschen in Not einsetzten.» Die sei wichtig gerade angesichts des zunehmenden Antisemitismus: «Die Jugendlichen müssen davon erfahren, damit es in Zukunft nicht wieder so schlimm kommt.»

 

Bilder: Gamaraal Stiftung

 

Museum in der ­JUST-Welt

Noch bis Ende Dezember ist das Pop-up-Museum in Walzenhausen in der Firma JUST geöffnet: Montag bis Freitag, 7.30 bis 12 Uhr, 13 bis 17 Uhr, Samstag und Sonntag geschlossen, Anmeldung beim Empfang in der JUST Welt. Am Donnerstag, 4. Dezember, hält ­Agnes Hirschi im Diogenes Theater Altstätten ein Referat – ver­anstaltet vom Museum Prestegg in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Hohenems im Rahmen des Projekts «Gemeinsam erinnern im Rheintal». www.prestegg.ch

Stephan Sigg
Leitender Redaktor
Veröffentlichung: 18.11.2025