Plötzlich mit Messer und Gabel überfordert

An verschie­de­nen Statio­nen müssen Alltags­situationen aus der Perspek­ti­ve von Perso­nen mit Demenz gemeis­tert werden. Ein Spiel­zeug­au­to über eine gezeich­ne­te Stras­se schie­ben. Doch das Bild ist spie­gel­ver­kehrt, jede Kurve wird zur Gedulds­pro­be. Diese und zwölf weite­re Statio­nen des Demenz­si­mu­la­tors vermit­teln eine Ahnung vom Alltag von Menschen, die an Demenz erkrankt sind.

Frei­tag­nach­mit­tag im refor­mier­ten Kirch­ge­mein­de­haus in Ganter­schwil. Sieben Teil­neh­me­rin­nen des Kurses «Menschen mit Demenz beglei­ten» testen den «Demenz­si­mu­la­tor»: An einer Stati­on gilt es, eine Schür­ze anzu­zie­hen – aber mit über­gros­sen Hand­schu­hen. Jeder Knopf ist eine Heraus­for­de­rung. An einer ande­ren Stati­on wartet ein Text. Doch er ist von so vielen Hiero­gly­phen verun­stal­tet, dass man ihn nur mit viel Konzen­tra­ti­on lesen kann. Ich gebe mir Mühe, versu­che mich zu konzen­trie­ren, aber sehr schnell macht sich Unge­duld und Frus­tra­ti­on breit. An ande­ren Statio­nen fühlt man sich hilf­los oder verliert – weil es nicht so funk­tio­niert wie gewünscht – das Inter­es­se und die Lust. So geht es auch den ande­ren Teil­neh­me­rin­nen. Zwar wird ab und zu gelacht, doch die Betrof­fen­heit ist deut­lich spür­bar: Was für uns nur ein Test ist, ist für Menschen, die an Demenz ­erkrankt sind, der Alltag.

Frus­tra­ti­on und Scham

Welchen Hinder­nis­sen begeg­nen Demenz­kran­ke in ihrem Alltag? Maya Hauri Thoma, bei der Evangelisch-refomierten Kirche des Kantons St. Gallen zustän­dig für die Projekt­stel­le «Hoch­alt­rig­keit und Demenz», hat den Demenz­si­mu­la­tor mit seinen 13 Statio­nen in Deutsch­land entdeckt und in die Schweiz geholt. Er kommt bei Kursen zum Einsatz, wird aber auch an Kirch­ge­mein­den, Pfar­rei­en und Bildungs­in­sti­tu­tio­nen ausge­lie­hen. Die Reso­nanz sei gross, in diesem Jahr war er in der ganzen Deutsch­schweiz unter­wegs. Selbst­ver­ständ­lich: Der Simu­la­tor ist nur ein Versuch, Einbli­cke in das Erle­ben und Empfin­den von Demenz-Erkrankten zu ermög­li­chen – wie es den Betrof­fe­nen wirk­lich geht, wissen nur sie. Maya Hauri Thoma weist auch darauf hin: «Es gibt nicht die Demenz. Jeder Demenz­kran­ke ist anders.» Bei den Teil­neh­me­rin­nen in Ganter­schwil löst der Simu­la­tor viel aus. «Man kann einfach nicht begrei­fen, dass etwas so einfa­ches und selbst­ver­ständ­li­ches nicht mehr geht», sagt eine, «man ist frus­triert und schämt sich.» Alle von ihnen haben privat oder in ihrem frei­wil­li­gen Enga­ge­ment schon mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind, zu tun gehabt. Jemand erzählt von einem Demenz-Betroffenen, der plötz­lich nicht mehr am Senio­ren­mit­tags­tisch teil­nahm, weil er mit Messer und Gabel über­for­dert war. «Sie schä­men sich, auswärts zu essen und das vergrös­sert die Isola­ti­on noch mehr.»

Tipps für den Alltag

Der Demenz­si­mu­la­tor soll mehr als nur Betrof­fen­heit auslö­sen: Er soll Verständ­nis wecken für die Gefüh­le und das Verhal­ten von Demenz­kran­ken. Gleich­zei­tig soll er auch einen unver­krampf­ten Umgang ermög­li­chen. Maya Hauri Thoma zeigt den Teil­neh­me­rin­nen konkre­te Tipps für den Alltag auf: «Wenn ich weiss, dass ein Verwand­ter Mühe hat, mit Messer und Gabel zu essen, dann kann ich Apéro-Gebäck anbie­ten, das man mit der Hand essen kann.»

«Einen unver­krampfteren Umgang»

Ende Novem­ber schlies­sen die Gossau­er ­Pfar­rei­en ihr ­Themen­jahr zur Demenz ab. Was hat es ausgelöst?

Martin Rusch, Sie sind ­Seel­sorger und ­Mitor­ga­ni­sa­tor des Themen­jah­res. Warum ­haben Sie dieses angeboten?

Martin Rusch: Die Kirche hat eine Verant­wor­tung für Demenz­kran­ke und deren Umfeld. Neben den medi­zi­ni­schen und sozia­len Ange­bo­ten leis­tet die Seel­sor­ge einen wich­ti­gen Beitrag. Wir wollen zeigen, dass wir für Betrof­fe­ne und deren Ange­hö­ri­ge da sind.

Wird es in Zukunft spezi­el­le Ange­bo­te für Demenz-­Erkrankte in den Gossau­er Pfar­rei­en geben?

Martin Rusch: Das war auch eine der Erkennt­nis­se in diesem Themen­jahr. Ursprüng­lich haben wir mit dem Gedan­ken gespielt, Gottes­diens­te für Demenz-Erkrankte zu initi­ie­ren. Fach­per­so­nen haben uns darauf hinge­wie­sen, dass es für die Betrof­fe­nen wich­tig sei, Gottes­diens­te in ihrer gewohn­ten Umge­bung mit dem gewohn­ten Ablauf zu erle­ben. Deshalb wäre es gera­de kontra­pro­duk­tiv, etwas Neues zu entwickeln.

Welche Erkennt­nis­se nehmen Sie aus diesem Themen­jahr mit?

Martin Rusch: Wir waren über­rascht von der gros­sen Reso­nanz. Alle Anläs­se sind auf gros­ses Echo gestos­sen, man hat gemerkt, wie sehr das Thema die Menschen beschäf­tigt. Mich haben die Inputs und Gesprä­che ermu­tigt, ein Stück offe­ner und natür­li­cher mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind, umzu­ge­hen. Eines der schöns­ten Erleb­nis­se war das Singen mit Demenz-Erkrankten. Der St. Galler «Chor für Demenz­kran­ke» hat uns in Gossau besucht und mit Betrof­fe­nen aus unse­ren Pfar­rei­en gesun­gen. Die Sänge­rin­nen und Sänger haben mit gros­ser Hinga­be mitgemacht.

→ Der Demenz­si­mu­la­tor ist vom 28. Novem­ber bis 4. Dezem­ber noch­mals in Gossau ­(Gemein­schafts­haus Witten­wis) zu Gast. Infos: www.kathgossau.ch

Text: Stephan Sigg

Fotos: zVg.

Veröf­fent­li­chung: 26. Okto­ber 2022

Pfarrblatt im Bistum St.Gallen
Webergasse 9
9000 St.Gallen

+41 71 230 05 31
info@pfarreiforum.ch