Fasten mache kreativ und helfe, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, sagt Karin Reinli. Seit einigen Jahren ist die Flawilerin in einer Fastengruppe dabei. Auch viele andere Pfarreien bieten Fastenwochen während der 40-tägigen Fastenzeit an, die am Aschermittwoch beginnt.
Karin Reinli kann sich gut an den Moment erinnern, als sie zum ersten Mal jemanden kennenlernte, der fastete. Sie war damals – 20-jährig – für einen Sprachaufenthalt in London. «In meiner Klasse gab es einen etwas älteren Mann, der uns erzählte, dass er jeden Monat einen Fastentag einlege. Dass jemand regelmässig bewusst auf etwas verzichtet, beindruckte mich total», sagt Karin Reinli. Sie verzichtete ebenfalls versuchsweise einen Tag lang auf alles ausser auf Wasser und Tee. «Das zu schaffen, löste Stolz in mir aus und ich beschloss, eines Tages einmal eine ganze Fastenwoche einzulegen», sagt sie.
Kochen ohne abzuschmecken
Allerdings sollten viele Jahre vergehen, bis es soweit war. «Ich lernte meinen Mann kennen und bekam drei Kinder. Ich hatte immer das Gefühl, mit Familie Fasten geht nicht», sagt die 55-Jährige. Schliesslich hörte die Flawilerin von einer Bekannten, die trotz Familie fastete und beschloss vor rund fünf Jahren, ebenfalls einen einwöchigen Versuch zu wagen. «Da in unserer Familie praktisch alle jeden Tag zum Mittagessen nach Hause kommen, kochte ich für sie, während es für mich nur eine Bouillon gab, die aus etwas Salz und wenig Gemüse bestand», sagt sie. Was Karin Reinli am meisten überraschte: Das Fasten löste bei ihr eine grosse Kreativität aus. «Ich merkte, wie mein Geist frei wurde und es Platz für andere und neue Dinge gab. Für meine Familie probierte ich beispielsweise neue Menus aus, ohne diese zu probieren oder abzuschmecken», sagt sie.



Sich vor- und nachbereiten
Wer fastet, braucht aber auch Ruhe und Zeit, um sich aufs Wesentliche konzentrieren zu können. Hinzu kommen spezielle Körperübungen, die den Kreislauf ankurbeln, ohne dem Körper allzu viel Energie zu rauben. Wichtig sind laut Karin Reinli zudem eine Vor- und Nachbereitungszeit auf die Fastenwoche. «In den Tagen vor dem Fasten sollte man weniger essen und auf eiweisshaltige tierische Produkte verzichten, so dass der Körper sich langsam umstellen kann», sagt sie. Dasselbe gelte für die Zeit danach, in der man langsam zunehmend wieder mehr essen kann. «Allen, die zum ersten Mal länger fasten, empfehle ich, das unter fachlicher Begleitung etwa von einem Arzt oder in einer Gruppe zu machen. Denn beim Fasten isst man wirklich nichts, ausser vielleicht mal eine Dattel oder eine Bouillon», sagt Karin Reinli. Sie selbst fastet jeweils gemeinsam mit der ökumenischen Fastengruppe Flawil, die aus rund 25 Personen besteht. In diesem Jahr findet die Woche vom 19. bis 24. März statt, also etwa in der Mitte der 40-tägigen Fastenzeit, die in der katholischen Kirche als Vorbereitung auf Ostern dient. In vielen Pfarreien gibt es ähnliche Fastengruppen. Jene in Flawil trifft sich jeweils täglich abends. Die Teilnehmenden tauschen sich aus, sprechen über Aufs und Abs und meditieren gemeinsam. Karin Reinli leitet dabei die Körperübungen, die aus sanften, dehnenden Bewegungen bestehen.
Seele nähren
Mit den Körperübungen und Yoga startet Karin Reinli auch zuhause in den Tag – nicht nur in der Fastenwoche. Eine Stunde nimmt sie sich für sich Zeit, bevor ihr Alltag mit Familie, Teilzeitarbeit im Verkauf, als Klassenassistenz und Engagement im Pfarreigremium und als Delegierte im Seelsorgerat des Bistums beginnt. Dafür hat sie eine Ecke im Dachgeschoss ihres Hauses eingerichtet. An der Wand hängt eine Collage aus Blumen‑, Tier- und Naturbildern, die zeigt, was Karin Reinli in diesem Jahr wichtig ist. Auf dem Boden liegt ein Teppich. Und in einer Ecke stapeln sich Bücher neben Räucherstäbchen, Kerzen, einem Schutzengel, einem Kreuz und einem Buddha. «Das Kreuz steht für den Austausch zwischen Himmel und Erde. Der Buddha ist das Sinnbild für die innere Gelassenheit und das Räucherstäbchen reinigt mich», sagt sie und fügt an: «Meine Motivation zum Fasten ist, dass wir nicht nur aus Körper und Geist geschaffen sind, sondern auch eine Seele haben, die genährt werden soll.» Beim Fasten sowie beim Innehalten oder im Gebet setze man sich automatisch mit dem Sinn des Lebens auseinander.
Text: Nina Rudnicki
Bilder: Benjamin Manser
Veröffentlichung: 21.02.2023